Mirrlees, Hope – Flucht ins Feenland

„Flucht ins Feenland“, erschienen 1926, war ein Fantasy-Roman der ersten Stunde, hat allerdings einen halben Dornröschenschlaf hinter sich. Erst in den Siebzigern wurde er wiederentdeckt und gilt seither als Kult. Es dauerte aber noch bis ins neue Jahrtausend, ehe das Buch endlich auch auf Deutsch erschien.

Es ist ein Skandal! Der Sohn des Bürgermeisters von Lud-in-den-Nebeln hat Feenfrüchte gegessen. Und das, obwohl per Gesetz weder die Feen noch ihre Früchte existieren! Aber das ist nicht die einzige Ungeheuerlichkeit: Die Mädchen auf der höheren Töchterschule sind alle ausgeflippt und davongelaufen!

So ungern der Bürgermeister sich aus seiner Bequemlichkeit aufrafft, aber dem muss ein Riegel vorgeschoben werden, bevor das Land im Chaos versinkt!

Zunächst wird also Sohn Ranulph aus der Stadt aufs Land gebracht. Sodann macht sich der Bürgermeister daran, den Schmuggel von Feenfrüchten, die es offiziell gar nicht gibt, zu bekämpfen. Zunächst ist er damit genauso erfolglos wie seine Vorgänger schon seit Jahrhunderten. Erst eine Entdeckung seiner Frau und ein altes Gerichtsprotokoll bringen ihn auf die richtige Spur. Aber da scheint es schon zu spät! Kurz darauf wird er abgesetzt, und als er den Bauernhof aufsucht, wo sein Sohn den Sommer verbracht hat, muss er feststellen, dass er den übergeschnappten Mädchen gefolgt und davongerannt ist, ins Feenland, aus dem es keine Wiederkehr gibt.

Trotz dieser entmutigenden Erkenntnis ist Bürgermeister Hahnenkamm nicht bereit, sich geschlagen zu geben …

Bürgermeister Nathan Hahnenkamm, der Held dieses Buches, ist zumindest oberflächlich gesehen ein typischer Dorimaraner: rundlich, rotwangig, fröhlich, praktisch, vernünftig, gemütlich. Wobei er zugegebenermaßen gelegentlich doch auch ein wenig wunderlich wirkt. So hat er einen massiven Widerwillen gegen Worte wie zum Beispiel Fluch, und dem Leser wird mit der Zeit klar, dass Herr Hahnenkamm durchaus nicht so prosaisch und trocken veranlagt ist, wie er gerne möchte, dass man es von ihm glaubt. Tatsächlich wird der gute Mann seit seiner Kindheit gelegentlich von einem unbestimmbaren Gefühl drohenden Unheils heimgesucht, das er nicht deuten kann, und vor dem er sich am liebsten verkriechen möchte. Als es dann schließlich ernst wird, widersteht er jedoch der Versuchung, den Kopf in den Sand zu stecken, rafft sich auf und wächst schließlich sogar über sich hinaus.

Die übrigen Honoratioren der Stadt sehen das zunächst natürlich nicht so. Sie sind zwar auch praktisch und vernünftig, aber nur, soweit ihre Weltanschauung dadurch nicht betroffen ist. Ansonsten sind sie eher verbohrt, engstirnig, herablassend und bequem. Nur Nathans alter Freund Ambrosius Geißblatt hält zu ihm, selbst als sein Verstand gezwungen wird, sich mit Dingen zu befassen, die es dem Gesetz nach eigentlich nicht gibt.

Dem Gegenspieler des Bürgermeisters ist das nur recht. Dieser Mensch ist ein so geschickter Intrigant, dass er fast eine Frau sein könnte. Er lässt hier ein Wort fallen, macht dort eine beiläufige Äußerung, und sein guter Ruf tut das Übrige. Bald hat er den Bürgermeister so isoliert, dass dieser schließlich seines Amtes enthoben wird. Er will diesen Hahnenkamm unbedingt loswerden. Denn der ist eine Gefahr für ihn …

Dieses Buch zu lesen, ist wie bei schönem Sommerwetter durch einen lichten Laubwald zu spazieren. Der Reiz der Geschichte erwächst aus dem Zusammenspiel von Licht und Schatten, von Schönem und Schauerlichem, die sich durch ihren Widerspruch gegenseitig hervorheben. Die Feen in diesem Roman sind noch nicht zu reinen Lichtgestalten idealisiert oder zu romantischen Kindgestalten gewandelt. Eher scheinen sie den Anderweltgeschöpfen der englischen Sagen ähnlich: Musikanten und Dichter, verträumt, überschwänglich, gefühlvoll, aber auch boshaft und hinterlistig. Ferdie Fetz, der dauernd auftaucht, Unfug anstellt und wieder verschwindet, würde sich in Shakespeares Sommernachtstraum sicherlich recht wohl fühlen. Ein zweischneidiges Schwert …

Kein Wunder, dass dies den Kaufleuten von Lud-in-den-Nebeln höchst suspekt ist. Wer mit Waagen und Gewichten oder mit Rechnungsbüchern zu tun hat, hat nicht viel übrig für Überschwang und Träume. So wurden die Feenfrüchte unter anderem für die Abgedrehtheit des letzten Herzogs und seiner Adligen verantwortlich gemacht, weshalb nach der Revolution und der Vertreibung des Herzogs alles Feengut für tabu erklärt wurde. Mit der Zeit wurde selbst die Existenz des Feenreiches schlicht geleugnet. Allein etwas zu erwähnen, das mit den Feen in Zusammenhang stand, galt als obszön. Das ging so weit, dass im Gesetz der Stadt keine Strafe für den Schmuggel von offiziell nicht existierendem Obst vorgesehen war!

Spätestens an dieser Stelle entlarvt sich die neu errichtete Ordnung der Vernunft und Tüchtigkeit als ebenso illusorisch, wie das Feenreich angesehen wurde, das Leben in dieser Gesellschaftsordung als stumpfes, verknöchertes Dahindümpeln, dem jegliche Lebendigkeit, jegliches Gefühl und jeglicher Bezug zur Welt fehlt.

Wer jetzt glaubt, es handle sich bei diesem Roman um Gesellschaftskritik, der ist wahrscheinlich auf dem Holzweg. Es soll sogar Leute gegeben haben, die das Buch für eine Parabel auf den Klassenkampf hielten! Ein Beweis dafür, dass es möglich ist, jeden Text auf jede beliebige Weise zu interpretieren, wenn man die Worte darin nur mit genügend Ausdauer immer wieder dreht und wendet.
Eine viel einfachere Deutung lässt sich aus dem Gegensatz zwischen Dorimare und Feenland ableiten. Auf der einen Seite das Vernunftbetonte, das sich an den Tatsachen festklammert, die es jedoch durchaus in seinem Sinne zu verbiegen bereit ist, falls es seinen Zwecken dient, und dem jegliche Gefühle und Träume nur Überspanntheit und Spinnerei sind. Auf der anderen Seite das Träumerische, Bunte, Verrückte, das alles auf den Kopf stellt, überall Verwirrung stiftet, aber auch Farbe und Abwechslung, Leben bedeutet. Beide für sich genommen sind nicht praktikabel!

Vernunft allein ist grau und trist, Träume allein führen zum Wahnsinn. Nur gemeinsam ergeben sie eine lebenswerte und liebenswerte Welt! Und ob wir glücklich sind, hängt davon ab, ob es uns gelingt, die richtige Balance zwischen beiden zu finden.

Dieser Widerspruch, die Spannung zwischen Realität und Fantastik, war es, was Hope Mirrlees‘ gesamtes Schaffen prägte. Ihre ersten beiden Anläufe, dies zu Papier zu bringen, waren von wenig Erfolg gekrönt. Erst durch den Kontakt mit Alexej Remisov, einen russischen Schriftsteller, erhielt sie offenbar den entscheidenden Impuls. Der Humor fand Einzug in ihre Arbeit und führte letztlich zu dem beschriebenen Licht-und-Schatten-Effekt, wo das Lustige das Düstere betont, und das Gruslige das Lächerliche offenbart. So fühlte ich mich stellenweise nicht nur an Shakespeares Sommernachtstraum, sondern auch an die Sieben Schwaben erinnert. Die Fahndung nach den Schmugglern und das Aufdecken eines alten Mordkomplotts sorgen letztlich dafür, dass der Roman sich erfolgreich jeglicher Zuordnung zu einem bestimmten Genre entzieht.

Hope Mirrlees hat sich auch in anderer Hinsicht widersetzt. Im Zeitalter des literarischen Realismus bedeutet ihr Roman einen Kontrapunkt. Sogar sprachlich ist sie ausgebrochen, hat sich dem Bemühen um eine straffere, zügigere Sprache verweigert und schreibt in langen, verschlungenen Sätzen, ihr Stil ist blumig, duftig, ausdrucksstark.

Mit anderen Worten: Sie macht es ihren Lesern nicht leicht. Aber wer sich darauf einlässt, kommt in den Genuss eines kleinen Juwels, das es in dieser Form kein zweites Mal gibt, das verwirrt, beunruhigt, aber auch amüsiert. Prädikat: sehr wertvoll.

Hope Mirrlees wuchs teilweise in England und Südafrika auf. Sie war eine der ersten Frauen, die an einer Universität studierten, sprach eine ganze Latte mehr oder weniger exotischer Sprachen fließend, darunter Zulu, Arabisch und Russisch, war viel auf Reisen und gehörte neben Virginia Woolfe u.a. zur Bloomsbury-Gruppe, einem Literatenzirkel. Ihr erstes Werk, das Aufmerksamkeit erregte, war das Gedicht „Paris“, das recht erfolgreich war, doch mit „Flucht ins Feenland“ wurde sie berühmt. Nicht lange nach der Veröffentlichung dieses Romans aber starb ihre langjährige Freundin und Vertraute Jane Harrison. Offenbar hat dieser Verlust ihren inneren Antrieb zur Schriftstellerei vollständig zum Erliegen gebracht, denn außer einigen unbedeutenden Gedichten und einer unvollständigen Biographie hat Hope Mirrlees nichts mehr zu Papier gebracht. Sie starb am 01. August 1978.

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