Paul J. McAuley – Pasquales Florenz. Ein Renaissance-Roman

Eine Mordermittlung bei Machiavelli und da Vinci

Florenz anno 1518, wie man es bis dato nicht gekannt hat: Gaslaternen erleuchten die Stadt der Medici, Velozipede steuern wacklig über die Boulevards, und die Dampfkraft wird vielfach genutzt. Pasquale, der junge Malergehilfe von Maestro Rosso, wünscht sich nichts sehnlicher, als den päpstlichen Gesandten Raffael, ebenfalls einen Malerkollegen, kennenzulernen. Denn die Stadt erwartet den Besuch des Medici-Papstes Leo X. anlässlich einer Art Friedensmission: Florenz liegt mit Rom im Krieg.

Das Leben wird für Pasquale aufregend, als er zufällig Zeuge einer Auseinandersetzung wird, kurz darauf findet man einen Toten. Zusammen mit dem Journalisten Niccolo Machiavelli gerät er in den Mittelpunkt sich überstürzender Ereignisse. Die einzige Gewissheit, die den beiden auf den Straßen der Stadt bleibt, ist, dass sie die nächsten sein könnten, die aus dem Weg geräumt werden sollen… (abgewandelte & ergänzte Verlagsinfo)

Mit „Pasquale’s Angel“ errang der Autor den Sidewise Award for Alternate History.


Der Autor

Von Paul McAuley, einem 1955 geborenen Biologen, sind bei uns nur wenige SF-Romane erschienen (alle bei Heyne).

An sich Biologe, schreibt McAuley hauptsächlich sogenannte Hard-SF, welche sich mit Themengebieten wie Biotechnologie, alternativer Geschichte und Weltraumreisen beschäftigt.

Anfangs schrieb er in ferner Zukunft angesiedelte Space Operas wie „Red Dust“ (über einen von Chinesen kolonisierten Mars) und den mit dem John W. Campbell Memorial Award sowie dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichneten Roman „Fairyland“. In letzterem wird eine Dystopie beschrieben, in der genetisch veränderte, auf menschlicher DNA basierende „Puppen“ als leicht entbehrliche Sklaven benutzt werden.

Mit seinem Erstlingswerk „Four Hundred Billion Stars“ gewann er seinerzeit den Philip K. Dick Award, mit „The Temptation of Dr. Stein“ den British Fantasy Award und mit „Pasquale’s Angel“ den Sidewise Award for Alternate History.

Der ALIEN-Zyklus:

1) Vierhundert Milliarden Sterne (Philip K. Dick Award 1989)
2) Verborgene Harmonien (1989)
3) Ewiges Licht (1991)

sowie:

– Roter Staub (1993)
– Feenland (1995, Arthur C. Clarke Award)
– Die Herren der Erde (Erzählungen)
– Pasquales Florenz (1994)

Handlung

Pasquale erwacht nach einer kurzen in der Wohnung des Malers Rosso, der die Florentiner Nacht weitaus angenehmer mit seinem Lustknaben verbracht hat. Sein junger Assistent erzählt ihm von seiner Auseinandersetzung mit dem Nachbarn, dem er die Trauben aus dem Garten geklaut hat. Sei’s drum, denkt er, doch Rosso muss auf seinen Ruf achten, um die kirchlichen Aufträge nicht zu gefährden, und weist Pasquale zurecht.

Engel

Pasquale sehnt sich nach einer Liebesnacht mit der exotischen Schönheit Pelashil, die aus der Neuen Welt stammt, aber sie arbeitet und wohnt in der Schenke, die er neuerdings bevorzugt. Sie hat aber auch nicht, was sich Pasquale am meisten wünscht: das Gesicht eines Engels. Jeder in der Stadt am Arno malt Engel, doch er sucht die wahre Gestalt eines Engels. Taubenflügel abzumalen reicht ihm nicht.

Provokation

Deshalb ist er recht aufgeregt, als die Nachricht kommt, Raffael sei bereits als Vorhut von Papst Leo in der Stadt eingetroffen. Er befinde sich bereits im Gottesdienst. Rosso und Pasquale kommen natürlich zu spät. Aber Pasquales Auge sucht Raffael, der garantiert weiß, wie Engel in Wahrheit aussehen. Schließlich ist er ja der beste und reichste Maler der Epoche. Doch nach dem Gottesdienst kommt es vor dem Eingang der Kirche zu einer unschönen Szene: Salai, der Assistent des Großen Ingenieurs Leonardo da Vinci, fordert Raffael, den Mann des Papstes, nicht nur heraus, sondern beleidigt auch noch! Nur Giulio Romano, ein stämmiger Gehilfe Raffaels (alle Maler haben Gehilfen), verhindert, dass es zu einem Schlagabtausch kommt.

Mord!

Am Abend weiß Pasquale dies alles dem Journalisten Niccolo Machiavelli zu erzählen, der ihn sofort zu dem Verleger und Drucker Pietro di Aretino schleift. Pasquale kann nicht nur gut schildern, er kann die ganze Szene vor der Kirche genau zeichnen. Mit wenigen technischen Kunstgriffen sind seine Zeichnung und Machiavellis Text druckreif. Aretino will gerade die Druckerpresse anwerfen, als eine dringende Nachricht das traute Trio: Mord! Mord in der Unterkunft der päpstlichen Gesandtschaft!

Ein seltsamer Tatort

Der Tatort liegt im Palazzo von Signor Taddei, einem sehr respektablen Mann. Als Machiavelli mitsamt Pasquale vorspricht, wird er eingelassen, schließlich ist er ein Mitglied der freien Presse. Ein Mann der Leibwache führt sie an den Tatort, der hoch oben in der Spitze des Signalturms liegt. Jeder Palazzo, der sich einen leisten kann, hat einen Signalturm. Die Lichtsignale wandern über die zentrale des Großen Ingenieurs durch das ganze Netz, das sich in der Republik Florenz erstreckt (und vielleicht sogar noch weiter, etwa nach Rom).

Machiavelli warnt Pasquale, dass der Zustand der Leiche wahrscheinlich seinem Magen zusetzen werde. In der Tat: Die Leiche ist blutüberströmt und überaus rätselhaft zugerichtet. Es handelt sich um jenen Giulio Romano, der Raffael vor der Kirche beschützt hatte. Ein Melder der Signalisten-Gilde habe die Leiche gefunden, gibt der Hauptmann Taddeis Auskunft. Denn der Melder habe einen Schlüssel zu dieser Signalkabine gehabt.

Machiavelli stimmt mit dem Hauptmann keineswegs überein, was den Tathergang, die Tötungsmethode und den mutmaßlichen Täter anbelangt. Staunend lauscht Pasquale, was sein Freund Niccolo alles aus den verworrenen Zeichen lesen kann. Ein Einbrecher drang von draußen als Fassadenkletterer durch das Fenster ein, überraschte Romano bei verbotenem Treiben, tötete ihn ohne Werkzeug und verschwand wieder. Am seltsamsten ist aber das „Spielzeug“, das Niccolo entdeckt: eine fliegende, mechanische Eule? Niccolo hält dies für einen wichtigen Hinweis, Pasquale lässt das „Spielzeug“ heimlich mitgehen.

Zeugen und Hinweise

Pasquale und Niccolo klappern die üblichen verdächtigen ab. Da ist zunächst Michelangelo Buonarotti, der bekanntermaßen ein erklärter Gegner des Emporkömmlings Raffael ist. Der Schöpfer des „David“ zieht sich gut aus der Affäre und kündigt an, in Kürze aufs Land zu einem Steinbruch reisen zu wollen. Die Botschaft ist klar: Sollte es ein weiteres Opfer geben, kann er es nicht gewesen sein. Niccolo glaubt ihm kein Wort, denn ein gut betuchter Bildhauer wie Buonarotti hat auch das Geld, um Handlanger zu bezahlen.

Zwischendurch müssen Pasquale und Meister Rosso auch mal Geld verdienen und einer ehrlichen, wenn auch schweißtreibenden Arbeit nachgehen: An der Piazza della Signoria (dem Rathausplatz) bereiten sie im Auftrag eines Mechanikers eine gewaltige Wandmalerei vor und fangen schon mal mit Grundierung usw. an. Als es Abend wird, entzündet der Mechaniker eine Gaslaterne und lenkt das Licht mit großen Spiegeln auf die zu bemalende Wand. Die Schufterei kann bzw. muss weitergehen.

Niccolo holt Pasquale ab: Sie müssen Raffael ausfragen. Der Gesandte des Papstes hat eine schöne Frau in seinem Bett, als sie eintreffen. Es ist die Frau des Kaufmanns Giocondo, wie sich später herausstellt: Lisa Gioconda, genannt „Mona Lisa“. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt Raffael Niccolo etwas, das reichlich wenig Gehalt hat, aber er bittet ihn, seinem getöteten Gehilfen Romano Gerechtigkeit zu verschaffen. Diskret, versteht sich. Bevor sie gehen, überreicht ein Junge aus Raffaels Gruppe Pasquale ein Objekt, das er aus Romanos Tasche stibitzt haben will: ein geschwärztes Glasplättchen. Es habe neben einem hölzernen Kasten gesteckt. Pasquale erinnert sich, wo er so ein Plättchen schon einmal gesehen hat: neben Romanos Leiche.

Verfolgung

Das Duo legt sich nach Einbruch der Dämmerung vor dem Tor des Palazzo Taddei auf die Lauer. Sie brauchen nicht lange zu warten, als der dicke Gehilfe Raffaels heraustritt und eine sehr moderne, sehr hohe Kutsche besteigt. Um mit ihr mithalten zu können, brauchen sie ein ebenso schnelles Gefährt. Niccolo hält ein Vaporetto an, ein dampfgetriebenes Automobil mit Kutscher. Pasquale darf zahlen. Sie folgen dem dicken Giovanni Francesco, einem Maler von Tieren, über den Ponte Vecchio hinweg zu einer Villa auf dem anderen Arno-Ufer.

Es ist nicht irgendeine Villa, sondern sie gehört Paolo Giustiniani, einem übel beleumundeten Magier, Schriftsteller und Mystiker aus Venedig. Und jeder weiß, dass sich Venedig mit Rom und dem Papst verbündet hat. Als sie in den nächtlichen Garten der Villa schleichen und die Begegnung des Besuchers mit dem Villenbesitzer belauschen, werden sie Zeugen eines grausigen Geschehens…

Mein Eindruck

Der Leser mag sich verwundert die Augen reiben, dass er statt des historischen Romans, den der Klappentext verspricht, einen Besuch in einem alternativen Geschichtsverlauf angeboten bekommt. Das Personal stimmt größtenteils. Machiavelli, Aretino, Michelangelo Buonarotti – sie sind alle da. Und natürlich auch die Damen, so etwa eine gewisse Gioconda, Frau des Kaufmanns Giocondo (der Lächelnde). Wir kennen sie als „Mona Lisa“.

Man schreibt das Jahr 1518. Leonardo da Vinci, der 1519 starb, ist hier also schon ziemlich alt. Er ist der Große Ingenieur, der die industrielle Revolution ins Florenz der Medici gebracht hat. Das Gedankenspiel, das daraus folgt, dürfte auch den heutigen Leser faszinieren: Dies sind die Wurzeln unserer heutigen, von Technologie bestimmten Welt, doch was wäre passiert, hätte die Kirche nicht die Macht gehabt, Vincis revolutionäre Ideen zu unterdrücken? Und was, wenn aufmüpfige Denker und Publizisten wie Machiavelli und Aretino die öffentliche Meinung gelenkt hätten, indem sie die Druckerpresse nutzten?

Ab die Post!

Das Ergebnis ist eine Art 19. Jahrhundert, das es ins 16. Jahrhundert verschlagen hat – eine explosive Mischung. Vincis Rationalismus, der auf Schriften der alten Griechen basierte – sie werden laufend zitiert -, stößt auf den Aberglauben des Mittelalters, in dem noch Magie einen festen Platz hat. Die Dampfmaschine, die einst der Alexandriner Heron erfand, heißt nun folgerichtig „Heronmaschine“ und treibt nicht nur neumodische Kutschen an, die mit rasender Geschwindigkeit durch die engen Gassen der Florentiner Altstadt brettern.

Die nationale Kommunikationsmaschinerie mit den Semaphoren und Laternen wurde von Vinci entworfen und übermittelt Nachrichten in, nun ja, annähernd Lichtgeschwindigkeit. (Man lese dazu den Pratchett-Roman „Ab die Post!“, in dem ein ähnliches Laternen-System funktioniert.) Aber ist das schnell genug? Da Vinci ist wohl anderer Ansicht, denn sonst hätte er wohl nicht das Flugzeug erfunden…

In der Stadt am kanalisierten und von Mühlen gesäumten Arno-Fluss gibt es zahlreiche Manufakturen, die reichen Kaufleuten wie Taddei gehören und in denen das Lumpenproletariat schuftet – jedenfalls solange, bis es den ersten Streik gibt. Umweltverschmutzung macht sich unheilvoll breit. Religiöser Wahn ebenso – sind dies die letzten Tage der Menschheit? Die Anhänger des hingerichteten Eiferers Savonarola jedenfalls wollen die Techniker und Industriellen mit allen Mitteln stoppen.

Politik

Politik spielt ebenso eine wichtige Rolle wie die Kirchenherrschaft, die der römische Papst auch in Florenz durchzusetzen versucht – sehr zu seinem Schaden, wie unser Held Pasquale herausfindet. Die Manufakturen verarbeiten Rohstoffe, die aus den amerikanischen Kolonien herbeigeschafft werden. Die Florentiner Republik hat die Oberhand gegenüber den Spaniern gewonnen und ihr Hafen Livorno wird nun fortwährend von spanischen Schiffen bedroht. Pasquales Freundin Pelashil stammt aus „West-Indien“, also Mexiko, und hat ein berauschendes Kraut mitgebracht, das Pasquale ab und zu raucht. Die Spanier nennen es Marihuana.

Morde

Es ist eine bunte Welt. Doch hinter den Kulissen laufen finstere Vorgänge ab, die so manches Menschenleben fordern. Denn es findet, wie schon der erste Mordfall belegt, ein technologisches Wettrennen statt. Was ist dieses fliegende Spielzeug wert, mag sich Pasquale fragen. Ist dies einer der Engel der Neuzeit, von denen ihm ständig träumt? Und was zeigen diese rätselhaften Glasplättchen, die der erste Tote im Signalturm ebenso bei sich führte wie der Maler Raffael? Die Mordermittlung ist keineswegs trivial. Sie führt auf verschlungenen Pfaden zur Lösung dieser Fragen. Die Glasplättchen sind ein Indiz, weshalb ihr Besitz heiß umkämpft ist.

SPOILER!

Die Glasplättchen sind Fotografien! Sie zeigen höchst kompromittierende Szenen, die mächtige Leute unterdrücken wollen. Wer diese Technologie beherrscht, verfügt über eine neue Art von Macht: die macht, bestimmte Momente aus der Zeit als Beweis festzuhalten. Und das fliegende Spielzeug ist das Modell eines Flugzeugs. Es verfügt über einen Gummizug, wie ihn jeder junge Modellbastler an das Propellermodell seiner Wahl montieren kann, um den Propeller zum Drehen zu bringen.

SPOILER ENDE

Über Engel

Dass Pasquale in einer Zeit neuer Technologie, blühender Industrie und zerstörter Ökologie immer noch an überkommenen Vorstellungen wie Engeln, also Gottesboten, festhält, ist der Prüfstein, an dem die Entwicklung seines Verstandes, seiner Weltanschauung festgemacht werden kann. Allein schon seine Vorstellung, die „Wahrheit“ im Gesicht eines Engels malen zu wollen, ist ein Widerspruch in sich: Glaube widerspricht Wahrheitsbeweisen – er ist die Wahrheit! Insofern ist er von Anfang eine tragikomische Figur. Seine Abenteuer sind nichtsdestoweniger von finsterer und blutiger Natur. Dies ist kein bunter, selbstgefälliger Barock-Roman.

Pasquale kommt seinen ersten Engel zu Gesicht bekommt, ohne es zu ahnen: Es ist die kleine Flugmaschine. Dies sind die Engel der Zukunft, wenn der Mensch sich an die Stelle Gottes gesetzt haben wird und fliegen gelernt hat: Maschinen sind seine Diener und Boten.

Der zweite Engel, den Pasquale zu Gesicht bekommt, ist er selbst. Nur der Leser wird dessen inne, wenn er lesend dem Helden folgt, der sich mithilfe eines Flugdrachen und eines Drahtseils dazu aufschwingt, ein bestimmtes Fenster im Turm des Großen Ingenieurs zu erreichen: Pasquale knallt mit seinem Drachen gegen das Fenster und bricht hindurch. Das Bild ist das eines gefallenen Engels. Diese Bezeichnung entspricht jedoch Lucifer, dem gefallenen, weil von Gott verstoßenen Erzengel. (Alles Weitere lässt sich bei John Milton in „Paradise Lost“ nachlesen.)

Der Autor vermittelt also im Subtext das Bild des Renaissance-Menschen, der als Engel und Teufel in gleicher Gestalt auftritt – und in der Folge die gleichen Fehler wie die industriellen Kapitalisten des 19. Jahrhunderts macht. Mit Recht sollte der Leser Pasquales Überleben bezweifeln, doch ob dem stets verfolgten Helden, dem alle ans Leder wollen, die Flucht in die Neue Welt gelingt, darf hier nicht verraten werden. Im letzten Satz erblickt Pasquale den wahren Engel und erkennt dessen wahre Natur.

Die Übersetzung

S. 129: „Rational denkende Menschen habe[n] von Magiern doch wohl nichts zu befürchten.“ Das N fehlt.

S. 151: „Dante, Livy, Platon“: Gemeint ist wohl der römische Autor Livius.

S. 172: „Armee niederer Dämone[n]“: Das N fehlt.

S. 280: „Studien phan[s]tastischer Tiere“: Das S ist überflüssig.

S. 289: „Ihr seid dicht gekommen und habt euch beschwert?“ Statt „dicht“ muss es wohl „nicht“ heißen, um dem Satz einen Sinn zu geben.

S. 335: „Es gibt keinem außer den Wachen.“ Falsche Kasusendung. Korrekt muss es heißen: „Es gibt keinen außer den Wachen.“

S. 343: „um ein Losegeld zu erpressen.“ Es sollte wohl „Lösegeld“ heißen.

S. 357. Zahlen… „Als waren sie der Staub von Gottes Gewand.“ Statt „waren“ muss es „wären“ heißen, um einen Sinn zu ergeben.

Der Anhang: die Biografie Leonardo da Vincis

Die Biografie Leonardo da Vincis lieferte mir zahlreiche faszinierende Einblicke. Sie ist 21 Seiten lang und wurde vom Künstlerbiografen Giorgio Vasari (1511-1574) verfasst. Dies ist die zweite, „bereinigte“ Fassung aus dem Jahr 1568 – fast genau 50 Jahre nach Leonardos Tod (1519). Die Aussagen wiederzugeben, würde zu weit führen, aber Vasari weist den leser, der sich über so manche gewagt erscheinende Erfindung gewundert hat, darauf hin, dass da Vinci diese Wunderdinge nicht nur erfunden hat, sondern manche davon auch gebaut hat. Leonardos Problem bestand darin, dass kaum jemals etwas vollendete – bis auf die „Mona Lisa“ – und gleich wieder zur nächsten Idee eilte. Und was für Ideen das waren! Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall.

Unterm Strich

Alternativwelt

Die Republik Florenz hätte ein sehr fortschrittliches Gemeinwesen werden können, folgt man dem Gedankenspiel des Autors. Florenz ähnelt auf industriell-technologischer Ebene dem Manchester des 19. Jahrhunderts, und es ist eine große Kolonialmacht. Doch seine geistigen und politischen Herausforderungen entstammen dem Mittelalter: Papst vs. Kaiser, Papst vs. Republik, Religion gegen Wissenschaft, Wissenschaft vs. Magie. Die Welt der Ideen kämpft mit der Welt der rasant sich entwickelnden Dinge, die das Leben aller Menschen in der Republik umkrempeln.

Ein Renaissance-Krimi

Der Autor hat die Struktur einer Mordermittlung gewählt, um den Leser spannend zu unterhalten. Unsere Spürnase ist der durchaus kompetente Zeichner und Malergeselle Pasquale, der alle maßgeblichen Denker seiner Zeit bereits kennengelernt hat: seinen Freund Machiavelli, dessen Partner Pietro Aretino und viele weitere. Florenz ist reich durch die Manufakturen, und Kaufleute sind Industrielle geworden. Viel Geld ist im Umlauf, aber auch viel Hass, denn überall wird in Italien Krieg geführt. Es bleibt nicht bei einem Mord, und Pasquale muss unbedingt den Grund dafür herausfinden, denn davon könnte sein Überleben abhängen.

Engel

Er und sein Freund Machiavelli folgen wie weiland Holmes & Watson den Indizien, die irgendwie alle zu einem Ort führen: zum Turm des Großen Ingenieurs. Da Vinci scheint allmächtig zu sein, doch der Greis ist alles andere als frei, wie sich zeigt. Ist er der Übermensch? Ist er eine Verkörperung des Gottesboten? Pasquales Interesse an Engeln bekommt ständig neue Nahrung, doch so wie Engel unsichtbar sind, so ändert sich auch ständig Pasquales Vorstellung von ihnen. Bis er die Wahrheit ganz am Schluss erkennt.

Meine Lektüre

Als Fan der Renaissance und der Stadt Florenz („die Gedeihende, Blühende“) habe ich den Roman nicht nur mit großem Vergnügen gelesen, sondern auch mit wachsender Spannung. Die Handlung erlahmt nie, sondern wartet stets mit einer wohl geordneten Folge von Ereignissen auf. Denn der Autor hat viel zu zeigen – siehe oben. Dabei ist er nicht selbstgefällig, sondern gibt jedem Phänomen seinen Sinn, und sei es auch der Selbstmord einer dem Helden nahestehenden Mannes. Es ist das pralle Leben: Liebe, Fanatismus, Tod, Schönheit und steter Wandel. Aber ein Glossar wäre hilfreich gewesen. Immerhin gibt es eine Personalübersicht.

Zwischen den Schubladen

Paul McAuley war bzw. ist ein Autor des Heyne-Verlags, deshalb ist es recht bemerkenswert, dass dieser Alternativweltroman nicht bei Heyne, sondern bei Bastei-Lübbe veröffentlicht wurde. Es ist ein Hinweis darauf, dass dieser Roman nicht in die Schubladen des Heyne-Verlags passte – und bei Lübbe als vermeintlich „historischer“ Roman deklariert wurde.

Doch Heynes SF-Programm hatte durchaus eine Reihe von Alternativwelt-Titeln, etwa von Hayford Pierce oder L. Neil Smith. W. Jeschkes Roman „Der letzte Tag der Schöpfung“ ist selbst ein Alternativweltroman. Was also war das Problem für Heyne? Könnte es wirklich der despektierliche Auftritt des Papstes und aller anderen katholischen Würdenträger sein, der im katholischen München Anstoß erregt hätte? Oder hatte Lübbe einfach Glück, sich diesen leckeren McAuley-Titel zu schnappen, bevor Heyne zuschlagen konnte? Wir werden es wohl nie erfahren.

Für die vielen Druckfehler gibt es Punktabzug.

Taschenbuch: 430 Seiten
Originaltitel: Pasquale’s Angel, 1994
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle.
ISBN-13: 9783404127092

www.luebbe.de

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