Sarrazin, Thilo – Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Ende August 2010 ist Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ erschienen und hat eine wilde, nicht immer qualifizierte Diskussion ausgelöst. Von daher kann es nützlich sein, einige Monate später das Buch noch einmal durchzugehen, nachdem die gedruckte Auflage die Millionengrenze überschritten hat, der Bundesbankvorstand Sarrazin vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden ist, ein Parteifunktionär, der Staatsoberhaupt spielt, sich gründlich blamiert hat, verschiedene Politiker, die den Autor kürzlich noch verteufelten, sich einige seiner Forderungen – zumindest verbal – zu eigen gemacht haben und die kurzatmige Medienwelt bereits die nächste Sau durchs Dorf treibt.

Gemäß dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ stellt Sarrazin die Hauptthese auf, dass Deutschland (wie auch andere westliche Industriestaaten) ihre eigene Existenz gefährden, weil sie es zugelassen haben, dass sich massive Probleme auftürmten, und diese nicht angepackt, sondern durch eine fahrlässige Gesetzgebung teilweise sogar selbst verschärft haben. Der Autor stellt in jedem der Kernkapitel zu den Problemfeldern Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Bildung, Zuwanderung und Demographie zunächst den Ist-Zustand anhand von umfangreichen Daten vor, diskutiert vorhandene Lösungsvorschläge auf ihre Tauglichkeit und – sofern umgesetzt – auf ihren (Miss-)Erfolg und unterbreitet zuletzt seine eigenen Vorschläge. Dabei mutet er Lesern, die selten Sachbücher konsumieren, einiges an Begriffsdefinitionen, Statistiken und Zitaten mit einem Anmerkungsapparat über Dutzende Seiten zu. Wer unter seinen gefühlten Anhängern und Gegnern ein Pamphlet erhofft hat, wird enttäuscht. Sarrazin schießt sich auch nicht auf Ausländer ein, nur eines der neun Kapitel befasst sich hauptsächlich mit Zuwanderungsproblemen.

Dabei breitet der Autor jede Menge Zündstoff aus, etwa dass Kinder aus Hartz-IV-Familien überdurchschnittlich oft einen Fernseher im Kinderzimmer stehen haben. Oder dass die untaugliche Phrase „Menschen mit Migrationshintergrund“ nicht nur Ausländer und deutsche Aussiedler vermischt, sondern auch Kinder mit einem bundesdeutschen Elternteil undifferenziert untermengt. Darf man annehmen, dass diese Begriffsverwirrung gewollt ist? Oder dass der emotionalisierbare Begriff „Armut“ nicht an absoluten Mängelkriterien, sondern relativ zum Durchschnitt definiert ist, sodass nach dieser Definition nicht nur der Verhungernde unter fast Verhungernden nicht arm ist, wohl aber der Millionär unter Milliardären; auch wird es damit offizielle Armut, solange keine friedhofsmäßige Gleichheit eintritt, zwangsläufig immer geben – und damit auch einen Arbeitsmarkt für die Betüttelungsindustrie aus Betreuern, Sozialarbeitern und anderen „Experten“. Oder, gleich mehrere Brennpunkte verknüpfend: „Deutsche Transferempfänger leben wie der durchschnittliche Tscheche, aber durchaus besser als der durchschnittliche Pole und weitaus besser als der durchschnittliche Türke“ (S: 148).

Der deutsche Sozialstaat bekämpft nicht die sozialen Probleme, sondern perpetuiert sie vielmehr. Wenn sich Menschen aus unterentwickelten Ländern nach Deutschland aufmachen, wo sie allein für ihre Existenz ein höheres Einkommen beziehen als in ihrer Heimat für Arbeit, verhalten sie sich ökonomisch rational. Ebenso Transferempfänger, wenn sie – unabhängig von ihrer Nationalität – überdurchschnittlich viele Kinder in die Welt setzen, weil sie so ihr verfügbares Einkommen erhöhen. Die offiziell steigenden Abiturientenzahlen sind durch deutliche Absenkungen der Anforderungen erkauft. (Der Verfasser dieser Zeilen gibt seit über 20 Jahren Unterricht und kann das zumindest für NRW bestätigen.) Sarrazin weist nach, dass der populistische Schnellschuss „mehr (Steuer-)Gelder = mehr Bildungserfolg“ keineswegs aufgeht, solange unsinnige Reformen den Schulen immer wieder Stöcke zwischen die Beine werfen. In all diesen Punkten könnte die Politik gegensteuern.

Dass Sarrazin sich das demokratische Verdienst erworben hat, brisante Informationen nicht immer als Erster, aber mit der größten Breitenwirkung unters Volk gebracht zu haben, darf nicht dazu verleiten, ihn unkritisch zu lesen oder Lücken in seiner Argumentation zu übersehen. So übergeht er bei seinen Lösungsvorschlägen völlig das Problem Europa, also die Frage, inwieweit Ideologen und Lobbyisten in Brüssel und Straßburg eine souveräne deutsche Gesetzgebung überhaupt noch zulassen. Wenn Sarrazin die relativ hohe Geburtenrate in Frankreich lobt, geht er nicht darauf ein, dass die dortige jakobinische Staatsauffassung es nicht ermöglicht, diese Geburtenrate nach echten Französinnen und eingebürgerten Araberinnen aufzuschlüsseln, also dass die vermeintliche Lösung eher einen Teil des Problems darstellen kann. Und natürlich sollte es jemandem, der regelmäßig Statistiken auszuwerten hat, nicht passieren, dass er bei einer Bevölkerungsprognose Mittelwert (Durchschnitt) und Zentralwert (Median) verwechselt.

Die rabiate Feindseligkeit aus dem Establishment aber dürfte vor allem zwei Gründe haben: Zum einen betont Sarrazin, dass viele menschliche Eigenschaften, z. B. die Intelligenz, stärker vom Erbgut als von sozialen Einflüssen abhängen. Das ist ein Frontalangriff auf den Machbarkeitswahn des Zeitgeistes, der glaubt, mit genug Geld alles managen zu können, und damit auf selbstgefällige Wahlkampfrhetorik. Das Wort „Sozialdarwinismus“ ist schnell bei der Hand, wenn man liebgewordene Denkgewohnheiten und Machtmittel aufgeben soll. Sarrazin ist ehrlich genug, auch von eigenen Lösungsvorschlägen zu sagen, dass sie gewisse Missstände nicht beseitigen, sondern nur vermindern können. Aber wer könnte sich einen Parteipolitiker vorstellen, der öffentlich sagt: „Ich kann das Problem genauso wenig lösen wie andere“ oder „Hier müssen die Betroffenen Eigenverantwortung ergreifen, der Staat darf und kann nicht alles regeln“?

Zum anderen plaudert hier ein ehemaliger Amtsträger (u.a. Berliner Finanzsenator, Bundesbankvorstand) aus dem Nähkästchen des Politik- und Medienbetriebs aus, wie dort die wahre Problemlage und die eigene Unfähigkeit vorsätzlich vertuscht werden. Hier nur einige wenige Beispiele:

– Die Merkel-Regierung hat den Bericht über Zuwanderungs- und Integrationsfragen 2009 so ausgeschrieben, dass eine Differenzierung nach verschiedenen Migrantengruppen nicht möglich ist (S. 261, Fußnote 7.5). Man will es also gar nicht so genau wissen.
– Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen, Ergebnisse künftiger Pisa-Studien nicht mehr getrennt nach Bundesländern zu veröffentlichen, weil das für einige der für Schulpolitik zuständigen Länder zu peinlich wäre (S. 250). Das Volk soll es auch nicht so genau wissen.
– Der Kameramann eines mutmaßlich öffentlich-rechtlichen Senders sagt aus, dass er von oben die Anweisung hat, „in den Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern so zu filmen, dass man die umfangreiche elektronische Ausstattung nicht sehe“ (S. 118).
Allein um solche – das Wort ist nicht übertrieben – Skandale bekannt zu machen, ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Der Autor attackiert also weniger unterprivilegierte Minderheiten als vielmehr genau diejenigen, die am lautesten geschrien haben.

Wenn Sarrazin außerdem aussagt, dass die Mittelschicht die Lage verschärft, wenn sie eine längere Lebensarbeitszeit ablehnt oder zu wenige Kinder kriegt, mutet er auch seiner Leserschaft einige unangenehme Botschaften zu. Dass sich sein Buch dennoch zu Hunderttausenden verkauft, gibt Grund zur Hoffnung, dass das Volk durchaus bereit ist, unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Vom Bücherlesen allein hat sich die Welt freilich noch nie verändert.

|Gebundene Ausgabe: 463 Seiten
ISBN-13: 978-3421044303|
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