Setterfield, Diane – dreizehnte Geschichte, Die

|“Alle Kinder mythologisieren ihre Geburt. Das ist nur allzu menschlich. Du willst jemanden wirklich kennen lernen? Mit Leib und Seele? Dann frag ihn, wann und wo er das Licht der Welt erblickt hat. Du wirst nicht die Wahrheit zu hören bekommen, sondern nur eine Geschichte. Und nichts ist so aufschlussreich wie eine Geschichte.“|

Und genau eine solche Geschichte hat die berühmte Schriftstellerin Vida Winter zu erzählen. Viele Geheimnisse umranken ihre Person, niemand weiß, welcher Mensch sich wirklich hinter diesem Pseudonym versteckt, und niemand kennt ihre sagenumwobene dreizehnte Geschichte, denn wo diese stehen sollte, finden sich in ihrem Buch nur leere Seiten. Nun ist Vida Winter alt und sterbenskrank und genau in diesem Moment erhält die Buchhändlerin Margaret Lea einen geheimnisvollen Brief der Schriftstellerin, in welchem Vida Winter ihr anbietet, ihr erstmals die Wahrheit über ihr Leben zu erzählen. Doch obwohl Margaret Lea leidenschaftlich gerne liest und in alten Büchern stöbert, muss sie zugeben, dass sie noch keinen Bestseller von Vida Winter jemals gelesen hat. Als sie aber erst einmal mit Vida Winters Büchern zu lesen beginnt, ist sie sofort gefesselt von den Erzählungen und möchte der Person Vida Winters und auch ihrer dreizehnten Geschichte auf den Grund gehen. Und so reist Margaret Lea zu der sterbenden Autorin, um die Wahrheit zu hören und um die heißersehnte Autobiografie einer Autorin zu schreiben, von der eine ungeahnte Faszination ausgeht.

Doch noch immer kann sich Margaret keinen Reim darauf machen, warum gerade sie diesen Brief erhalten hat und warum Vida Winter gerade ihr die Wahrheit erzählen will, kennen die beiden Frauen sich doch nicht und hat Margaret Lea niemals eine Biografie eines noch lebenden Autors geschrieben. Dennoch fühlt Margaret sich magisch von der rätselumwobenen Schriftstellerin angezogen, denn auch Margaret umgibt ein Geheimnis. Noch als sie klein war, hat sie herausgefunden, was ihr immer gefehlt hat, warum sie sich nie komplett gefühlt hat, denn Margaret hatte einst eine Zwillingsschwester, die allerdings kurz nach der Geburt gestorben ist. Margarets Mutter ist an diesem Verlust zerbrochen und konnte nie ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis aufbauen, und genau aus diesem Grund wollte sie Margaret vor der schrecklichen Wahrheit bewahren. Umso neugieriger ist Margaret nun, Vida Winters Familiengeschichte zu hören, denn auch Vida Winter, die einst einen anderen Namen trug und in Angelfield aufgewachsen ist, hatte eine Zwillingsschwester. Doch bei einem schrecklichen Feuer in Angelfield kam Vidas Schwester ums Leben. Niemand hat aber jemals die Wahrheit erfahren über die Nacht des Feuers.

Viele Geschichten sind zu entwirren, viele Geheimnisse aufzudecken, als Vida Winter damit beginnt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie berichtet von Isabelle und ihrem Bruder Charlie, die eine innige Liebe miteinander verbindet. Als Isabelle einen anderen Mann kennen lernt, plagt Charlie die Eifersucht und er tröstet sich stattdessen mit zahlreichen anderen Frauen. Isabelle heiratet Roland schließlich und bekommt Zwillinge von ihm. Doch kurz nach der Geburt der beiden Mädchen stirbt Roland und Isabelle kehrt nach Angelfield und zu ihrem rastlosen Bruder zurück. Der Verlust des Mannes und die ganz unbrüderliche Liebe ihres Bruder entfremden Isabelle von ihren Kindern, sodass das Hausmädchen sich um die Erziehung von Adeline und Emmeline kümmert. Die jedoch ist dieser anspruchsvollen Aufgabe kaum gewachsen, denn Adeline ist ein rücksichtsloser Wildfang, Emmeline dagegen ein stilles, zurückhaltendes und vielleicht auch zurückgebliebenes Mädchen, das sich immer wieder stillschweigend von seiner Schwester quälen lässt. Als später Hester als Kindermädchen für die beiden eingestellt wird und auf die Idee kommt, die Zwillinge voneinander zu trennen, beschwört sie damit eine Tragödie herauf, die das ganze Leben auf Angelfield für immer verändern wird …

Es ist eine stille und ganz sensible Geschichte, die uns Diane Setterfield in ihrem Roman zu erzählen hat. Mit großem Sprachgefühl und viel Einfühlungsvermögen bringt sie uns die Lebensgeschichte der handelnden Personen und vor allem ihre Gefühle, ihre Sorgen und ihre Stimmungen näher. Ganz geschickt hat Setterfield verschiedene Geschichten ineinander verwoben, denn es ist nicht nur die Geschichte der Familie Angelfield, die wir zu hören bekommen, sondern auch die von Margaret Lea und ihrem merkwürdigen Aufenthalt bei Vida Winter. So verschlingen sich Gegenwart und Vergangenheit ineinander und wir entwirren nur ganz allmählich die Gedankengänge der Autorin und die zugrunde liegenden Zusammenhänge.

Was die gesamte Romanhandlung, die sich über insgesamt 520 Seiten erstreckt, trägt, sind die persönlichen Beziehungen zwischen den handelnden Figuren und die eingehende Charakterstudie, die Setterfield anstellt. Ganz vorsichtig und zaghaft berichtet sie von Lieben, die nicht sein dürfen, von Geschwisterbeziehungen, die nie zustande kamen bzw. die fast krankhafte Zustände annehmen, und von den Sorgen, die die einzelnen Personen mit sich durchs Leben tragen. Auf dem Wege zur schlussendlichen Auflösung kommen wir allen Charakteren so nah, dass man das Gefühl hat, man würde sie persönlich kennen.

Margaret Leas persönliches Schicksal ist es, das sie regelrecht in die Geschichte der Familie Angelfield hineinzieht, denn auch dort geht es um die Liebe zwischen Geschwistern und um die Beziehung zwischen Zwillingen, die kaum voneinander lassen und ohne einander scheinbar nicht leben können. Und obwohl die persönlichen Beziehungen der Charaktere so unglaublich sind, dass sie sich jedem Menschenverstand entziehen, so können wir sie doch nachfühlen, können wir nachvollziehen, warum die Figuren handeln, wie sie eben handeln müssen. Das ist der Verdienst von Diane Setterfields einfühlsamen und eindringlichen Schreibstil, der in jeder Situation so weit ins Detail geht, dass wir plötzlich mitten in der Geschichte stehen und alles hautnah miterleben können. Jede Kleinigkeit findet Erwähnung und Setterfield zieht unzählige Metaphern heran, um auch alles ganz genau zu beschreiben, bis wir es bildlich vor Augen haben. Es ist wahrlich meisterhaft, was wir hier zu lesen bekommen.

Aber auch der Spannungsbogen, der nur ganz zurückhaltend immer wieder aufblitzt, ist äußerst gelungen, denn wir möchten unbedingt erfahren, welche Geheimnisse sich um Vida Winters Kindheit ranken, welch schreckliche Dinge in der Nacht des Feuers geschehen sind und wie die dreizehnte Geschichte lautet. Als dann mitten im Buch plötzlich ein geheimnisvoller Mann auftaucht, der als Baby ausgesetzt worden und nun auf der Suche nach seiner Familie ist, kann der Leser diesen neuen Handlungsstrang zunächst nicht in das Gesamtgefüge einordnen, doch nach und nach legt Setterfield die Verbindungen dar und wir erhalten immer mehr Hinweise, die schließlich zum großen Aha-Erlebnis führen werden.

„Die dreizehnte Geschichte“ ist ein ganz stiller und leiser Roman, der zwar unter der Fassade auch Mord, Familienzwistigkeiten und menschliche Tragödien verborgen hält, aber dennoch sind es andere Elemente, die zu genau der gleichen Faszination führen, die auch Margaret Lea gepackt hat, als sie Vida Winters Geschichte zu hören bekommt. Diane Setterfields Schreibstil ist unglaublich lautmalerisch, einfühlsam und detailreich, sodass jeder Satz ein reines Vergnügen ist, und dennoch – trotz all der Lobeshymnen – ist „Die dreizehnte Geschichte“ wohl doch auch ein Frauenroman, denn es wird wahrscheinlich nur wenige männliche Leser geben, die sich so sehr in die Erzählung eindenken und einfühlen wollen, wie es notwendig ist, um sich von Diane Setterfield mitreißen zu lassen. Aber wenn man sich auf die Geschichte einlässt, dann gibt es Großartiges zu entdecken!

|Originaltitel: The Thirteenth Tale
Originalverlag: Orion
Aus dem Englischen von Anke und Dr. Eberhard Kreutzer
Gebundenes Buch, 528 Seiten, 13,5 x 21,5 cm|
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/dynamicspecials/setterfield__geschichte/
http://www.thethirteenthtale.com/

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