Simmons, Dan – Sommer der Nacht

Elm Haven ist ein kleines Städtchen, im ländlichen US-Staat Illinois dort gelegen, wo es beschaulicher kaum zugehen kann. Die Welt ist noch in Ordnung in diesem Sommer des Jahres 1960; Sorgen macht sich der Durchschnitts-Amerikaner höchstens wegen der ruchlosen Kommunisten, doch Präsident „Ike“ Eisenhower wird sie schon in Schach und im fernen Russland halten. Ansonsten herrscht Ruhe im Land – Arbeit gibt es für jedermann, die Zukunft sieht allgemein rosig aus, und die Schwarzen verharren bescheiden auf dem Platz, den ihnen der HERR, das Schicksal und der Ku-Klux-Klan zugewiesen haben.

So scheint denn die einzige Sorge der Kinder von Elm Haven zu sein, dass die Sommerferien einfach nicht beginnen wollen. Schuljahre sind keine Herrenjahre in dieser Stadt; das gehört sich einerseits so, wird andererseits jedoch unverhältnismäßig betont durch den stillen Schrecken, der von der „Old Central School“ ausgeht. Das riesige, verwinkelte, unwirtliche und an eine Festung erinnernde Gebäude wurde zu einer Zeit erbaut, als die Einwohner von Elm Haven wesentlich kopfstärker waren. Nun steht es weitgehend leer und ist ein recht unheimlicher Ort, über den der seelenlose Rektor Roon, die alte Mrs. Doubbets und der halb verrückte Hausmeister Van Syke herrschen. Glücklicherweise wird „Old Central School“ nun geschlossen und soll bald abgerissen werden.

Aber bevor die Lernfron endlich endet, verschwindet ein Schüler spurlos in den Korridoren des Gebäudes. Der Vorfall wird vertuscht, denn das Opfer gehört nur zum „weißen Abschaum“ Elm Havens, der den braven Bürgern und ihrer Polizei herzlich gleichgültig ist. Dieser Vorfall ist jedoch nur der erste in einer langen Kette mysteriöser Ereignisse, die ausschließlich den Kindern der Stadt und allen voran der „Fahrradpatrouille“, fünf verschworenen und aufmerksamen Freunden um den Sechstklässler Dale Stewart, aufzufallen scheinen. Zu ihnen gesellt sich Duane McBride, ein Genie im Körper eines Bauerntölpels, dem die „Patrouille“ wertvolles Hintergrundwissen über das Grauen verdankt, das sich quasi hinter den Kulissen der Stadt zu verdichten beginnt. Ausgerechnet Elm Haven ist die Brutstätte eines üblen magischen Bundes, der sechs Jahrhunderte zuvor im Rom der berüchtigten Borgia-Päpste seinen Anfang nahm und seinerseits nur die Fortsetzung eines fürchterlichen Kultes ist, der den altägyptischen Totengott Osiris verehrt. Die Kinder finden heraus, dass die Prominenz von Elm Haven zu den Götzendienern gehört und „Old Central School“ ihnen geheimes Hauptquartier und Tempel zugleich ist, an dem Osiris seit Jahrzehnten grausame Menschenopfer gebracht werden. Schlimmer noch: Nach vielen Jahren der Vorbereitung und Beschwörung steht die Rückkehr des Totengottes in diese Welt unmittelbar bevor!

Elm Haven ist der ideale Ort für dieses Ereignis, denn wer in diesem Tal der Satten und Ahnungslosen würde solchen Horror für möglich halten? So stehen die Kinder allein in ihrem Kampf, der zunehmend verbissener wird, als die Osiris-Jünger bemerken, dass man ihnen auf die Schliche gekommen ist. Unter die menschlichen Handlanger mischen sich Zombies und andere Schreckensgestalten, und dann beginnen bizarre Morde die schockierten Einwohner Elm Havens zu dezimieren …

Was klingt wie ein Opus aus der Feder des unermüdlichen Stephen King, ist tatsächlich dem Hirn seines nicht minder fleißigen Schriftsteller-Kollegen Dan Simmons (geboren 1948 in Illinois – aha!) entsprungen. Dieser gehört wohl zu den interessantesten Gestalten der modernen Unterhaltungsliteratur, denn es gibt kaum einen Autoren, der vielseitiger ist und sein Publikum mit immer neuen Geniestreichen zu überraschen weiß. Horror, Science-Fiction, historischer Krimi, Mainstream oder Thriller – Simmons springt nach Belieben zwischen den Genres und bedient sich mit traumwandlerischer Sicherheit der jeweiligen Regeln. Das hat ihn schon früh der Kritik (der man selten etwas recht machen kann) verdächtig werden lassen, die ihm vorwirft, ein zwar begnadeter, aber konturarmer Kopist zu sein, der sich des Tonfalls und der Methoden erfolgreicher Vorbilder bediene, ohne je zu einem eigenen Stil zu finden. Abgesehen davon, dass dies faktisch nicht zutrifft – man lese nur die großartigen Story-Sammlungen [„Lovedeath“ 2212 (1993, dt. „Liebe und Tod“) oder „Prayers to Broken Stones“ (1990, dt. „Styx“), in denen Simmons seine Eigenständigkeit und enorme schöpferische Bandbreite unter Beweis stellt -, muss dies den Leser und Freund des Unheimlichen nur am Rande interessieren: Selten gibt es Schriftsteller, die so zuverlässig wie Dan Simmons auf überdurchschnittlichem Niveau zu unterhalten verstehen. Er besitzt definitiv dieselbe Kragenweite wie Stephen King, Peter Straub oder Ramsey Campbell und deklassiert qualitativ schwankende Genre-Stars und Schreibautomaten wie Dean Koontz oder James Herbert mit ernüchternder Leichtigkeit.

„Sommer der Nacht“ gehört zu herausragenden Werken der ohnehin eindrucksvollen Simmons-Titelliste. Ich persönlich gehe sogar so weit, ihn als den besten Stephen-King-Roman zu bezeichnen, den der Meister nicht selbst geschrieben hat. Die Parallelen zu „It“ (1986, dt. „Es“) sind mehr als augenfällig, geradezu dreist wildert Simmons in Kings ureigenem Revier: der „coming-of-age“-Story, in welcher der Horror bevorzugt US-amerikanische Bilderbuch-Kleinstädte heimsucht. Simmons geht unerschrocken noch einen Schritt weiter und siedelt „Sommer der Nacht“ in jener „American Graffiti“-Epoche zwischen II. Weltkrieg und Vietnam an, da sich die Welt denen, die am richtigen Fleck geboren waren, als wunderbarer, geordneter Ort voller Möglichkeiten darstellte.

Der Verfasser verwandelt Elm Haven in eine geradezu aggressiv heile Welt. Doch nachdem Simmons seinem Publikum beinahe schmerzhaft süßlich ein Amerika im Stande der Unschuld vor Augen geführt hat, beginnt er seinen heimeligen Mikrokosmos sogleich gekonnt zu demontieren. Lange bevor der übernatürliche Horror Elm Haven heimzusuchen beginnt, legt der Verfasser wie nebenbei und dadurch um so drastischer offen, wo es kracht im Getriebe der Kleinstadt-Idylle. Korruption, schlecht verhohlene Vorurteile und Rassismus, Selbst- und Ungerechtigkeit, verdrängte Not, borniertes Kastenwesen, Duckmäuserei, Schubladendenken – die Liste der großen und kleinen Bosheiten, die das Leben finster machen, will kein Ende nehmen. Nicht einmal das höchste Heiligtum selbst ernannter Tugendwächter und -bolde wird geschont: Tatsächlich entpuppt sich die (amerikanische) Familie immer wieder als wahrer Hort des Horrors, mit dem selbst die untoten Horden des Osiris nicht mithalten können.

Mit trügerischer Leichtigkeit entwirft Simmons so ein atmosphärisch unerhört dichtes Stimmungs- und Sittenbild einer Zeit, die eben doch nicht so golden war wie sie nachträglich gern verklärt wird. Auch ohne Tanz der Vampire ist dies unerhört spannend zu lesen. Tatsächlich wirkt die Mär vom finsteren Urzeit-Kult lange Zeit beinahe störend in der Geschichte dieses Sommers von 1960. Als es dann ernsthaft zu spuken beginnt, flicht Simmons das Übernatürliche allerdings meisterhaft in die Handlung ein. Ganz verhalten beginnt sich das Böse einzuschleichen, umkreist und umzingelt die „Fahrradpatrouille“ wie den Leser gleichermaßen, verstört durch Andeutungen und grausames Geschehen zwischen den Zeilen, gewinnt zunehmend an Tempo und schlägt schließlich in eine wahrlich ungeheuerliche Tour de force um. An drastischen Effekten wird jedenfalls nicht gespart, gesplattert nach Herzenslust, und das Jenseits spart nicht an grotesken Besuchern mit abstoßenden Angewohnheiten.

An diesem Punkt beginnen Simmons freilich die Zügel seiner Geschichte zu entgleiten. Nachdem das Böse seine Maske endlich fallen ließ, muss es bekämpft und ausgerottet werden. Hier kann der Verfasser seine Herkunft nicht länger verleugnen: Das Grauen wird US-typisch mit brachialer Gewalt und großkalibrigen Waffen angegangen. Weil die Protagonisten nach wie vor Kinder im Alter von etwa 11 Jahren sind, wirkt ihre Verwandlung in Miniatur-Rambos reichlich unrealistisch. Das ist schade, weil Simmons bis zu diesem Zeitpunkt seinen jugendlichen Figuren mit traumwandlerischer Sicherheit Profil und echtes Leben zu verleihen wusste. Diese Sünde bleibt jedoch lässlich; den nachhaltig positiven Eindruck, den die ersten 500 oder 600 Seiten hinterlassen, kann die große Schlussabrechnung – mehr Spektakel als Finale – nicht wirklich zunichte machen.

Die Übersetzung von „Sommer der Nacht“ übernahm der inzwischen selbst als Autor hervorgetretene Joachim Körber. Zeitweise deutschte er für |Heyne| praktisch sämtliche „großen“ phantastischen Romane ein und zog besonders für seine King-Übertragungen einige Kritikerschelte auf sich. Auch „Sommer der Nacht“ liest sich an einigen Stellen etwas seltsam – zum Beispiel verliert ein „Ensign“ namens Pulver viel von seiner Rätselhaftigkeit, würde man ihn korrekt mit „Fähnrich Pulver“ übersetzen, und ein „Kick“ ist und bleibt ein schlichter Tritt. Trotzdem leistete Körber hier (und auch sonst) im Großen und Ganzen bessere Arbeit, als ihm gemeinhin zugebilligt wurde. Das gilt um so mehr, als inzwischen das Elend eines hauptberuflichen Übersetzers in Deutschland mehrfach namhaft gemacht wurde und man nun besser nachvollziehen kann, wieso für die Angehörigen dieser ausgebeuteten Zunft die heiße Nadel zum unverzichtbaren Rüstzeug gehört.

Simmons hat seine „Fahrradpatrouille“ übrigens im Blickfeld behalten. In „Children of the Night“ (1992, dt. „Kinder der Nacht“) finden wir die Überlebenden drei Jahrzehnte nach ihrem Kampf gegen Osiris in einem neuen Kampf gegen das Übernatürlich wieder. Nach dreißig Jahren kehren sie nach Elm Haven zurück („A Winter Haunting“, 2002; dt. „Im Auge des Winters“, Heyne-TB Nr. 52142), um dort zu entdecken, dass sie 1960 nicht so gründlich mit dem Grauen aufgeräumt haben wie gedacht …

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