Watson, Ian – Räume des Paradieses, Die. SF-Erzählungen

_Sarkastische Ironie und andere Spezialeffekte_

Die einfallsreichen SF-Erzählungen machen den Storyband „Die Räume des Paradieses“ zu einem schönen Lesebuch mit unverkennbar religiösem Anflug für Romantiker mit gehobenen Ansprüchen.

_Der Autor_

Der Brite Ian Watson ist wohl der phantasievollste und skurrilste Autor unter vielen ähnlichen Autoren, wie sie die englische Science-Fiction hervorbringt. Watson gleiche H. G. Wells in seinem Erfindungsgeist und in seiner Ungeduld, schrieb die Literaturbeilage der angesehenen „Times“. Bei ihm weiß man nicht so recht, ob das noch New Wave oder schon New Age ist, aber er besitzt eine gehörige Portion Humor. Der Band enthält 16 Stories.

_Die Erzählungen_

Sehr amüsant ist die Jack-London-Hommage „Der Ruf der Wildnis: Die Version des Hundeflohs“, die mit ihrer an „Wolfsblut“ erinnernden Blutrünstigkeit bezaubert.

|SPECIAL: „Die World Science Fiction Convention von 2080″|

Ein feines Gegenbeispiel zu den üblichen Science-Fiction-Con-Bericht ist die in Edgar Pangborns Post-Holocaust-Welt angesiedelter Story „Die World Science Fiction Convention von 2080“. Mit sanfter Ironie beschreibt Watson ein Zeitalter, in dem Science-Fiction aller Schattierungen endlich zu dem geworden ist, was sie in einem Hitech-Zeitalter nicht sein kann: reine Mythologie.

Das Jahr 2080 sieht dem Anfang des 19. Jahrhunderts zum Täuschen ähnlich. Nach mehreren verheerenden Kriegen versucht die Menschheit immer noch, ihre Städte Neu Boston, Neu Chicago und so weiter aufzubauen. Die Land- und Seestrecken sind von Indianern oder Piraten gefährdet, wenn man nicht gleich das Opfer hungriger Wölfe wird.

Diesen traurigen Tatbestand muss auch unser Chronist bezüglich der verhinderten Besucher der World-Science-Fiction-Convention vermelden: Drei der Mitglieder der SF-Vereinigung haben es nicht geschafft, und weitere sind noch nicht eingetroffen. Er selbst ist aus Schottland nach Neu-Boston herübergesegelt und musste sich seine Passage selbst verdienen. Ein Glück, dass die Convention nur alle drei Jahre stattfindet. Sonst gäbe es womöglich noch heftigeren Mitgliederschwund.

Aber nun zur Tagesordnung: der BASAR, das BANKETT, der EHRENGAST, die PREISVERLEIHUNG – lang lebe die Tradition. Und wie sagt doch der Preisträger Ehrenpreises Jerry Meltzer? „Die Sterne gehören uns jetzt wirklich; denn es nicht absehbar, dass noch eine Rakete zu unseren Lebzeiten dorthin fliegen wird und sie uns stiehlt.“ Daher auch der Titel des Gewinnerromans „Wohin jetzt, Sternenfahrer?“

2083, also in drei Jahren, soll die nächste Convention im Fischerdorf Santa Barbara an der Westküste stattfinden. Das dürfte eine „interessante“ Durchquerung des Kontinents erfordern, stellt sich der Chronist vor.

|Mein Eindruck|

Der Autor ist von Haus aus Soziologe, und so kann es nicht verwundern, dass er auch die regelmäßigen Treffen der Autorengemeinschaft auf ihre Rituale und Grundbedingungen untersucht. Er tut dies nicht ohne Sympathie, und wer schon einmal die familiäre Atmosphäre einer solchen Convention geschnuppert hat, der ahnt, dass das Fehlen jedes einzelnen Mitglieds wehtut. Es ist, als würde ein Glied aus der Kette brechen oder ein Puzzleteilchen aus dem Bild fallen. Deshalb ist es nicht kurios, sondern sehr traurig, wenn die Verlustmeldungen am Anfang kommen.

Die Produktionsbedingungen für die Erzeugnisse der AutorInnen sind wieder auf ein mittelalterliches Gutenberg-Niveau herabgesunken. Ach, wie gut hatten es doch die Alten Meister Heinlein, Asimov und Le Guin! Ihre Bücher wurden auf der ganzen Welt verkauft. In unvorstellbaren Mengen, wohingegen heute jedes Buch als Inkunabel zu behandeln ist, die in der Bibliothek einen Ehrenplatz erhält.

Aber einen Vorteil hatte der ganze Prozess unbestreitbar für die Phantasie, findet Jerry Meltzer. Man sei nun wieder auf der Stufe von Jules Verne angekommen, dem großen Phantasten, der mit seinen „außergewöhnlichen Reisen“ (Voyages extraordinaires) die Phantasie wie schon einst Homer und Lukian zu ihrem Recht kommen ließ. Erst seit H. G. Wells musste sich die Science-Fiction ins Joch der Wissenschaft spannen und Utopias der Technik erfinden. Was für ein müßiger Unsinn! Man sieht ja, wohin das geführt hat.

Kurzum: Die Story mag nur wenige Seiten umfassen, bietet aber mehr Gedanken- und Emotionsfülle als so mancher dickleibige Actionwälzer.

|Der Rest vom Fest|

Das beliebte Thema Wirklichkeit, Traum und Tod behandelt Watson recht eingehend mit den Erzählungen „Die Räume des Paradieses“, „Einsicht“ und „Flamme und Heiler“. Durch Räume statt durch tage bewegt sich in der Titelgeschichte der mittels Kernspintomografie wiedergeborene Fitzgerald, bis ihm klar wird, dass möglicherweise das als Realität Erlebte ein Traum und die Träume Realität sind. (Das klappt auch so lange, bis er aufs Klo muss.)

„Einsicht“, vorgeblich eine Zeitreise-Geschichte, könnte man als Traum vom Sterben auffassen, der dem Zeitreisenden die Entscheidung abverlangt, in absolute Finsternis hinauszutreten. „Flamme und Heiler“ behandelt das Uraltthema gemeinschaftliche Träume und vermittelt eine Vorstellung von Hölle und Paradies, eventuell inklusive Fegefeuer.

Dem klassischen Thema der Begegnung mit Aliens widmen sich die Erzählungen „Alptraum“, „Die Knospe“, „Die Milch des Wissens“, Frieden“ und „Die künstlerische Note“. Meist geht es darin um elementare Missverständnisse, teils mit gutem, teils mit bösem Ausgang, und einmal machen wir Menschen das Beste draus, wenn die Welt schon untergeht. „Die tausend Schnitte“ dagegen versteht die Welt als Aufzeichnung, in der die Spielfiguren dem Regisseur einmal klarmachen, was sie davon halten. Das böse Ende (auch des Buches) bleibt leider ungeschnitten.

Die Titelstory des Originals „Sunstroke“ („Sonnenstich“) ist ziemlich schwach dagegen. Es geht um den Zusammenhang von Sonnenlicht und Schizophrenie, wissenschaftlich nicht so abwegig wie es klingt. Auch „Ein Brief von Gott“ ist ein wenig unterdurchschnittlich. Ein ziemlich überflüssiger Gott offenbart sich durch Riesensäulen. Als Sprachübung à la Charles Dickens darf „In den Pumpenraum mit Jane“ verstanden werden, wobei es um die Imaginationen einer prophetisch begabten Geisteskranken geht.

Die Vereinigung von Hardcore und Mystik probiert der Autor mit der Story „Jean Sandwich, der Gönner und ich“: gezielte Virusinfektionen zur Züchtung des Homo Superior machen eine Journalistin zur Walküre und einen Millionär zum Elf, wobei die geheimen Wünsche der Versuchspersonen zu Tage treten. Im Zeitalter von AIDS ein eher schlechter Scherz.

Am besten gefallen hat mir die Story „Heimkehr“. Indem die Amerikaner die Neutronenbombe entwickelten, hatten sie die kapitalistische Waffe schlechthin: Vernichtung des Lebens, Erhalt der Sachwerte. Das ließ die Sowjets (die gab’s damals noch) nicht ruhen, eine typisch kommunistische Bombe zu bauen, mit der den Leuten alles genommen werden kann, was sie besitzen, nur nicht das Leben. Wie sähe es also nach einem Neutronenkrieg aus? Hier 200 Mio. splitternackter Amerikaner, dort eine leere, völlig intakte UdSSR. Und die Folgen? Um das glauben zu können, muss man „Heimkehr“ gelesen haben: Die Amerikaner kehren in das Land ihrer Väter zurück (was zumindest auf die Indianer zutrifft). Ein schönes Beispiel sarkastischer Ironie.

_Unterm Strich_

„Die Räume des Paradieses“ ist ein schönes Lesebuch mit unverkennbar religiösem Anflug für Romantiker mit gehobenen Ansprüchen. Die Storys mögen meist nur wenige Seiten umfassen, bieten aber mehr Gedanken- und Emotionsfülle als so mancher dickleibige Actionwälzer. Es gibt nur wenige Ausfälle.

|Taschenbuch: 269 Seiten
Originaltitel: Sunstroke and Other Stories (1982)
Aus dem Englischen übertragen von Walter Brumm
ISBN-13: 978-3453010048|
http://www.heyne.de

_Ian Watson bei |Buchwurm.info|:_
[„Feuerwurm“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=848
[„Quantennetze“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1371

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