Atiq Rahimi – Heimatballade

Die Handlung:

1973 gerät das Leben des elfjährigen Atiq Rahimi aus den Fugen: Sein Vater, Richter am Obersten Gerichtshof in Kabul, wird nach einem Staatsstreich ohne Angabe von Gründen verhaftet. Als man ihn endlich freilässt, geht er ins Exil nach Indien, wohin ihm der Sohn folgt. Ein Kulturschock ebenso wie eine willkommene Weitung des eigenen Horizonts für den muslimisch erzogenen Jungen, der plötzlich mit einer anderen Zivilisation konfrontiert ist. Einige Jahre später verschlägt es Atiq Rahimi nach Frankreich, wo er seitdem lebt. Dreißig Jahre nach seiner Flucht aus Afghanistan schreibt Rahimi erstmals über sein Exil und sein Verhältnis zu Heimat und Muttersprache. Entstanden ist dieses poetische Journal intime, das den intellektuellen Kosmos des Goncourt – Preisträgers nachzeichnet. ( Klappentext )

Inhalt und Eindrücke:

Nach bald dreißig Jahren des Exils versucht sich der Autor Atiq Rahimi mit dem Buch „Heimatballade“ an einer literarischen Annäherung an sein Herkunftsland Afghanistan. Das Buch ist im Original bereits 2015 in Frankreich erschienen und wurde nunmehr ins Deutsche übersetzt.

Weniger um das Land Afghanistan, sondern vielmehr um die Geschichte der Familie und den Einfluss auf das Leben des Autors geht es in „Heimatballade“.Gleich zu Beginn hat Rahimi allerdings Schwierigkeiten, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen und überhaupt zu Papier zu bringen. In seinem Pariser Atelier sitzend, mag ein Einstieg nicht recht gelingen. Bis er, eher unabsichtlich, eine senkrechte, leicht geschwungene Linie zu Paper bringt: den Buchstaben alif, der aber nicht nur erster Buchstabe sowohl des arabischen als auch des persischen Alphabetes ist. Vielmehr fällt dem alif eine dermaßen große und symbolhafte Bedeutung zu, wird er doch gar als heiliger Buchstabe bezeichnet, mit dem auch der Name Allahs beginnt! Rahimi fühlt sich in die eigene Kindheit zurückversetzt, in der er die Kalligraphie des persischen Alphabetes erlernte und er beginnt sich zu erinnern: Wie er es als elfjähriger Junge erlebte, als der Vater verhaftet wurde und damit erstmals für ihn und die Familie alles Gewohnte ins Wanken geriet. Ein Staatsstreich im Übrigen, bei dem wiederum der symbolträchtige Buchstabe alif eine große Rolle gespielt hat, ohne den aus Rahimis Heimatland nur noch ein „Fghanistan“ wurde, was so viel wie „Land des Schreies und der Klage“ bedeutete.

Doch der Autor geht sogar noch weiter: für ihn, dem schlicht die Worte fehlten, um sein Exil zu beschreiben, ist dieser eine Buchstabe „der Schlüssel, der den Mechanismus (…) in Gang setzt“. Die Familie Rahimis flüchtete zunächst nach Indien, wo der junge Atiq erstmals mit der indischen Kultur in Berührung kommt. Ein durch den Vater engagierter Sikh-Lehrer bringt ihm sowohl die Sprache Hindi, als auch buddhistische Traditionen näher. Für die Prägung und das gesamte spätere Leben des Autors stellt das eine extrem wichtige Tatsache dar: denn so beginnt er schon früh, seine muslimischen Ursprünge mit Abstand zu betrachten. Es hilft ihm außerdem dabei, die Kultur seines Heimatlandes zu verstehen.Später, als er nach dem Tod seiner Mutter in Frankreich Asyl sucht, fühlt er sich trotz allem heimatlos: statt im muslimischen Glauben oder in der kommunistischen Ideologie (wie sein Bruder) Zuflucht zu finden, stürzt er sich in die (schöpferische) Arbeit. Er ist Regisseur und fängt erst später an, Bücher zu schreiben. Und schließlich beschäftigt er sich auch (wieder) mit der Kalligraphie seiner Muttersprache. Für Rahimi finden sich hier alle Antworten auf religiöse, kulturelle und sogar sexuelle Fragen, die sein Leben bestimmen. Die Kallimorphien, die er malt, sind Buchstaben von menschlicher Gestalt. Seine Entwurzelung und die Haltlosigkeit, die ihn sein Leben lang begleiten, kann er dadurch besser verdeutlichen, als durch bloße Worte.

Den Abschluss der Heimatballade bilden letztlich zwölf musikalische Sätze zur Unvollendung: für den Autor eine sinnbildliche Reise durch sein eigenes Exil.

Mein Fazit:

Wer hinter „Heimatballade“ von Atiq Rahimi eine Erzählung vermutet und aus reinem Interesse an der Geschichte des Landes Afghanistan zu diesem Büchlein greift, wird zugegebenermaßen tendenziell eher enttäuscht werden. Vielmehr erwartet den Leser stattdessen eine höchst poetische Parabel: von einem Leben im Exil, pathetisch auch als „Vakuum seines Daseins“ bezeichnet, schreibt der Autor, dem es dank der persischen Schrift und Kultur doch noch gelingt, seine Entwurzelung mindestens für sich zu verstehen und (in diesem Buch) aufzuarbeiten. Herausgekommen ist dabei ein sehr intimes Werk, welches zugleich berührt, als auch nachdenklich stimmt über die möglichen Auswirkungen des Verlustes von Heimat auf den Menschen.

Rahimi holt sich dabei die Unterstützung zahlreicher namhafter Dichter und Denker aus aller Welt, deren Zitate er großzügig in den Text einstreut. Nicht immer ist mir ehrlich gesagt dabei der direkte Zusammenhang schlüssig erschienen, aber vermutlich kann das unter künstlerischer Freiheit verbucht werden. Der Intellektualität des Buches tut es sicher keinen Abbruch, eher im Gegenteil!

Wunderschön und sehr geschmackvoll erscheinen aber sowohl Umschlaggestaltung, Layout als auch die persischen Schriftzeichen im Buch.

Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
ISBN-13: 978-3550081392

www.ullstein.de

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