Azzarello, Brian / Risso, Eduardo – 100 Bullets Bd. 8 – Der unsichtbare Detektiv

Als Milo Garret in den Spiegel blickt, muss er zugeben, dass er schon besser ausgesehen hat: Bandagen verdecken sein Gesicht, er gleicht einem überdimensionalen Pflaster mit Augen, Ohren und Mund. „Solch eine Visage würde nicht einmal eine blinde Mutter lieben“, stöhnt er. Die Hauptfigur in Brian Azzarellos „Der unsichtbare Detektiv“ hat einen schweren Autounfall hinter sich. Als ein mysteriöser Agent ihm offenbart, dass er das Opfer eines Anschlags geworden ist, macht Garret sich auf die Suche nach den Tätern. Bald wird er seine Entscheidung bereuen. Denn er findet mehr heraus, als ihm lieb ist.

Frustriert setzt sich Milo auf den Klodeckel und zündet sich eine Zigarette an. Nebenan auf dem Bürotisch liegt ein Stapel Akten. Bis vor wenigen Tagen war Milos Leben noch in Ordnung. Bis zu dem Unfall. Ein Schlagloch und ein Augenblick der Unaufmerksamkeit entpuppten sich als ein zu starker Cocktail für den Privatdetektiv. Die Motorhaube ging hoch und verdeckte die Sicht. Als Letztes erinnert sich Milo an berstendes Metall und Glassplitter. Dann erwachte er im Krankenhaus.

Autounfälle passieren. Milo hatte Glück im Unglück. Abgesehen von seinem Gesicht ist er in bester Verfassung. Man kann versuchen, die Sache so zu betrachten. Akzeptieren, was geschehen ist. Zurück zum alten Leben, weitermachen wie bisher. Als ein Mann das Krankenzimmer betritt, dessen Antlitz aussieht wie eine Luftaufnahme der Wüste von Nevada, erfährt Milo jedoch, dass die Sache nicht so einfach ist. Agent Graves stellt sich kurz vor und legt einen Aktenkoffer auf den Tisch. In dem Koffer befinden sich Beweise, die belegen, dass der Unfall kein Unfall war, sondern ein abgekartetes Spiel.

Milo war an einem heißen Job dran, heißer, als er ursprünglich angenommen hatte. Der Kunsthändler Karl Reynolds wurde von einem seiner Handlanger gelinkt, der Privatdetektiv sollte ihn suchen. In Graves Koffer liegen nicht nur Beweise dafür, dass Reynolds für Milos Autounfall verantwortlich ist, sondern auch eine nicht registrierte 9mm-Pistole, inklusive einhundert Kugeln Munition. Alles ist clean. Nichts kann zurückverfolgt werden. Das perfekte Werkzeug für einen Mord.

So schnell, wie Agent Graves kam, verschwindet er wieder. Die Sache bleibt nebulös. Milo ist kein Killer, sondern Privatdetektiv, also von Beruf aus neugierig. Bevor er schießt, will er die Wahrheit wissen. Er legt die Pistole beiseite und geht zu Reynolds, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Der wird jedoch nicht mehr viel beantworten können. Als Milo ihn findet, ist seine Leiche noch warm. Der Kunsthändler hat ein Loch mitten in der Stirn. Worin auch immer er verwickelt war – es hat ihn zur Strecke gebracht.

Milo Garret wird in ein Katz-und-Maus-Spiel verstrickt, in dem jeder mit verdeckten Karten spielt. Und mit einer Kanone unter dem Tisch. Aber wer spielt mit? Was ist der Einsatz, was der Gewinn? Wer spielt mit wem? Milo selber ist ein gnadenloser Hund, ein Schläger, Säufer und schlauer Kopf. Die Antworten, die er sucht, muss er sich erkämpfen. Oberflächlich betrachtet, geht es in „Der unsichtbare Detektiv“ um eine klassische Detektivgeschichte, sozusagen Humphrey Bogart in den 90ern mit einem Schuss Brutalität. Der Bissen, um den sich die Figuren prügeln, ist ein altes Gemälde aus Frankreich. Mit von der Partie sind der erbarmungslose Schläger Lono, der schmierige Kunstdieb Monroe Tannenbaum und die arrogante Managerin Megan Dietrich.

Obwohl sich der Weg des gestohlenen Gemäldes bis zum Ende des Bandes entschlüsselt und die Motive der Beteiligten größtenteils klar werden, bleiben für den Leser viele Fragen offen. Es lohnt sich, „Der unsichtbare Detektiv“ zweimal zu lesen. Zwischen den Zeilen, hinter der vordergründigen Story, finden sich Hinweise, dass Milo Garret unter einem Trauma leidet. Er hat keine genaue Erinnerung an seine Vergangenheit. In seinem Kopf herrscht ein Tohuwabohu. Ist er der, der er zu sein glaubt?

Die Personen um ihn herum wissen mehr über seine wahre Identität, hüllen sich jedoch in Schweigen. Nicht zuletzt wegen dieser persönlichen Misere begibt sich Milo auf die Suche nach den Hintermännern seines Unfalls. Wie immer ist dabei am interessantesten, was nicht gesagt wird. Anspielungen deuten darauf hin, dass Milo einst zu einem Killerkommando namens »Minuteman« gehörte – was seine beachtliche Kondition und seine Nahkampf-Fähigkeiten erklären würden. Was Agent Graves und das Schlüsselwort »Croatoa« damit zu tun haben, bleibt ein Geheimnis.

Der Zeichner von „100 Bullets“, Eduardo Risso, setzt den Band über Milo Garret und seine Widersacher mit harten Linien und viel Schatten in Szene. Häufige Perspektivwechsel und eine dynamische Anordnung der Panels machen „Der unsichtbare Detektiv“ zu einer Augenfreude. Eigenartig, wie es Risso gelingt, Stimmungen einzufangen, die für das Verstehen der Geschichte essenziell sind. Als Milo und die Diebin Echo Memoria durch ein Fenster gestoßen werden, ist in seinem Gesicht nicht ein Hauch von Misstrauen zu erkennen? Als würde er ihr falsches Spiel ahnen? Bild und Text verschmelzen hier wie nur selten zu einer Einheit.

Brian Azzarello und Eduardo Risso verstehen ihr Handwerk. Der unsichtbare Detektiv macht Lust darauf, mehr von 100 Bullets zu lesen. Nicht grundlos gewannen Autor und Zeichner 2002 den |Harvey and Eisner Award| für die beste fortlaufende Serie. Wer auf eine rundum abgeschlossene Geschichte warten kann und Lust an Handlungen voller Gewalt, Sex und doppelten Böden hat, dem ist „Der unsichtbare Detektiv“ nur zu empfehlen. Wann das Geheimnis um die Minuteman und Agent Graves gelüftet wird, steht noch aus. Ungeduldigen sei die Recherche im Internet empfohlen, denn während man in Deutschland noch bei Ausgabe 36 der Originalserie steht, wartet man in den USA bereits auf Ausgabe 63.