Bernard Beckett – Das neue Buch Genesis

Die junge Anax will an der Akademie aufgenommen werden. Für ihre Prüfung hat sie sich mit dem Leben von Adam Forde auseinander gesetzt, einer bedeutenden Persönlichkeit in der Geschichte ihres Landes. Drei Jahre lang hat sie dafür studiert und nun ist es so weit. Nun muss sie beweisen, dass sie tatsächlich eine Expertin auf ihrem Spezialgebiet ist. Doch im Verlauf der Prüfung muss sie erkennen, dass sie getäuscht wurde und dass die Akademie nicht das ist, was sie zu sein scheint …

Klingt fast ein wenig nach einem Verschwörungsthriller. Ist es aber nicht. Ich würde dieses Buch nicht einmal als Unterhaltungsliteratur bezeichnen.

Schon die gewählte Erzählform ist ungewöhnlich. Abgesehen von einigen wenige Seiten kurzen Passagen und einigen kleinen Absätzen dazwischen, die zwar nicht in der Ich-Form, aber ausschließlich aus der Sicht von Anax erzählt sind, ist der gesamte Text als Dialog geschrieben. Optisch wirkt das Ganze wie eine Abschrift des zu Beginn des Buches erwähnten Mitschnitts des Prüfungsverlaufs. Die eingestreuten Erzählabschnitte sind durch ihre Kürze nicht stark genug gewichtet, um diesen Eindruck zu mildern, gewähren aber gleichzeitig genügend Einblicke in Anax‘ Gedanken, um ihre Stimmung und ihre Gefühle deutlich zu machen. Der Gesamteindruck, der dadurch entsteht, ist unglaublich hautnah, als wäre der Leser tatsächlich dabei.

Der Anfang klingt noch ganz harmlos. Eine typische Prüfungssituation, der Prüfer fragt, der Prüfling antwortet und ist nebenbei schrecklich nervös. Die erste Frage, die aus der Reihe fällt, irritiert und verunsichert den Leser wie den Prüfling, aber in Prüfungen werden ja gerne mal solche Fragen gestellt. Niemand denkt sich etwas dabei. Mehr Aufmerksamkeit ziehen die Reaktionen der Prüfer auf einige Antworten auf sich, doch sie bleiben undeutbar, der Leser weiß nie, ob sie positiv oder negativ zu bewerten sind. Mit anderen Worten: alles wie erwartet.

Und so richtet sich das Augenmerk des Lesers vermehrt auf die Inhalte. Anax fasst eine Ausgangssituation zusammen, die nicht nur vom Vokabular her vertraut klingt. Da geht es um Dinge wie Energiekrise, Terrorismus und Klimawandel: Probleme, die aus unserer aktuellen Realität stammen. Die aus diesen Problemen resultierenden Spannungen führten offenbar zu einem dritten Weltkrieg, dem nur die Bevölkerung einer kleinen Inselgruppe entkam, indem sie sich vollkommen von der Welt abschottete. Das Resultat war ein totalitäres Regime, laut dessen Philosophie das unkritische Streben der Menschheit nach Entwicklung und Veränderung für die weltweite Katastrophe verantwortlich war, und das deshalb das Unterbinden jeglichen Wandels und jeglicher Individualität zur Staatsdoktrin erhob.

Bereits die Darstellung dieses Systems war nicht allzu detailliert und auch nicht unbedingt neu. Eine grobe Skizze einer möglichen Zukunft, die die fast schon typischen Unannehmlichkeiten wie totale Überwachung, Minimierung sexueller Kontakte und vollständige staatliche Kontrolle bis hin zur Euthanasie beinhaltet.

Nichts, was dem Leser nicht schon in einem SF-Roman begegnet wäre. Was das Szenario so interessant macht, ist weniger der Entwurf als solcher als vielmehr die Figur des Adam Forde, die in diesem Umfeld aufwächst. Oder besser, die Darstellung dieses Adam Forde, denn hier spricht kein Erzähler, sondern ein Historiker. Anax berichtet über Adams Leben aus der Sicht eines Wissenschaftlers, der die Geschehnisse, nach denen er forscht, aus verschiedenen Quellen rekonstruiert und das Ergebnis interpretiert hat. Dadurch wird der Bericht über Adam Forde letztlich zu einer Analyse über die Auflehnung des Individuums gegen ein System der Unterdrückung. Zumindest zu Beginn.

Ungefähr in der Mitte des Buches jedoch weitet sich die Thematik aus. Etwa ein Jahr vor seinem Tod wird Adam Forde die Bezugsperson für Art. Art ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen, künstliche Intelligenz zu erschaffen. Er funktioniert nach einem Prinzip, nach dem ihm lediglich eine Grundprogrammierung mitgegeben wurde, alles andere muss er durch Interaktion mit seiner Umgebung lernen. Auf dieser Basis programmiert er sich quasi selbst. Damit ist er schon ziemlich weit gekommen, doch sein Erfinder ist sicher, dass Arts Potenzial noch nicht ganz ausgeschöpft ist. Adam seinerseits hat keine große Lust, mit einer Maschine zu kommunizieren. Der kleine Roboter ist allerdings ziemlich hartnäckig und schon bald entspinnt sich ein erster, widerwilliger Disput darüber, ob es sich überhaupt lohnt, mit einer Maschine zu reden, die nicht lebendig ist. Dieser Disput wird das Verhältnis zwischen Art und Adam bis zum Ende dominieren.

Und was für ein Disput das ist! Art steckt Adam, zumindest was Argumentationstechnik angeht, locker in die Tasche, er macht ihn regelrecht platt! Eigentlich sollte man meinen, Adam hätte ein wenig mehr drauf gehabt, schließlich wird er als hochintelligent beschrieben, ein Mitglied der geistigen Elite, wenn auch ein schwarzes Schaf.

Tatsächlich gibt es eine Menge logischer Hebel, die man ansetzen könnte, und das nicht nur im Zusammenhang mit dem Disput zwischen Art und Adam. Zum Beispiel erscheint es mir zweifelhaft, dass in einer Situation des Misstrauens unter den Großmächten, wie sie hier geschildert wurde, es einem kleinen Inselstaat möglich gewesen sein soll, unbemerkt und unbehelligt ein autarkes Wirtschaftssystem aufzubauen und sich auch militärisch komplett gegen den Rest der Welt zu verbarrikadieren. Und auch Arts Evolutionstheorie hinkt gewaltig: Wie Art selbst sagt, gehört zur Evolution Vermehrung. Allerdings wird Lehm dadurch, dass der Wind ihn an einen anderen Ort weht, nicht mehr. Er wird nur anders verteilt.

Aber darum geht es im Grunde gar nicht. Natürlich reizt Arts Theorie zum Widerspruch, den Leser genauso wie Adam, denn wie Adam gehört der Leser der Spezies Mensch an und Arts Meinung über die Menschheit ist nicht gerade schmeichelhaft. Andererseits ist Adams Meinung über Art dieselbe, die alle Menschen von Maschinen haben, was wiederum auch nicht schmeichelhaft für Art ist. Was der Autor letztlich getan hat, ist, den Menschen und seine Eigenschaften aus der Sicht einer anderen, ebenfalls intelligenten Spezies zu betrachten. Dabei verleiht er den Argumenten Arts absichtlich mehr Gewicht, indem er Adam bewusst schwach dagegen halten lässt und erziehlt damit eine unglaubliche Wirkung. Denn Adams Defensive ist eine Herausforderung an den Leser, sich selbst zu verteidigen, gleichzeitig werden ihm die wirkungsvollen Gegenargumente vorenthalten und er dadurch gezwungen, sie selbst zu suchen.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Analyse über Adam Fordes Rebellion gegen das System weit mehr ist als nur das. Der Gegensatz zwischen den Forderungen des Systems und Adams Verhalten stellt eine der wichtigsten ethischen Fragen überhaupt: die nach der Menschlichkeit. Die Auseinandersetzung zwischen Adam und Art ist lediglich eine massive Zuspitzung derselben. Kann eine Maschine ein Bewusstsein entwickeln? Und wenn ja, macht das die Maschine dem Menschen ebenbürtig? Was macht den Menschen aus und was genau bedeutet es, Mensch zu sein?

Letztlich spielt es also keine Rolle, ob das Szenario, das der Autor seiner Geschichte zugrunde gelegt hat, sich tatsächlich so hätte entwickeln können oder nicht. Es spielt auch keine Rolle, ob es überhaupt möglich wäre, einen Roboter wie Art zu entwickeln, der selbständig denken kann. Denn es geht nicht darum, eine möglichst logische und in sich stimmige Welt der Zukunft zu entwerfen und eine spannende Abenteuergeschichte darin anzusiedeln. Bernard Becketts Buch ist kein Science-Fiction-Roman. Es ist dramaturgische Philosophie.

Als ich das Buch zur Hand nahm, wollte ich eigentlich nur eine kurze Wartezeit von fünf bis zehn Minuten überbrücken. Als ich es schließlich weglegte, war es zwei Stunden später. Ich hatte es komplett durch gelesen und dabei nicht ein einziges Mal auch nur für einen Augenblick innegehalten, um auf die Uhr zu sehen. Von der ersten Seite an hat es mich vollständig gefesselt und am Ende war ich ganz schön durch gerüttelt. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon mitten in der Nacht und ich hundemüde war, konnte ich lange nicht einschlafen, so sehr waren meine Gedanken noch mit dem Gelesenen beschäftigt.

Schon allein deshalb fand ich das Buch phantastisch! Es packt uns an einem empfindlichen Punkt, durch die Dialogform ganz unmittelbar, als nähme man selbst Teil an einem philosophischen Disput mit einem der großen griechischen Denker, deren Namen der Autor so freizügig verwendet. Es provoziert uns und zwingt uns dadurch, uns mit dem Thema auseinander zu setzen, unnachgiebig, aber unaufdringlich, ohne Schulmeisterei oder erhobenen Zeigefinger, nur durch Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten oder gegensätzlichen Positionen. Und es lässt einen nicht mehr los, bis man zu einer Antwort gefunden hat. Der eigenen, ganz persönlichen Antwort.
Das neue Buch Genesis gehört schlicht zum Besten, was ich je gelesen habe.

Bernard Beckett stammt aus Neuseeland, arbeitet als Mathe- und Englischlehrer und schreibt nebenher Jugendbücher, für die er bereits mehrere Preise gewonnen hat. Das neue Buch Genesis ist das erste seiner Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde.

Gebunden: 171 Seiten
Englischer Originaltitel: Genesis
Aus dem Englischen von Christine Gallus
Altersempfehlung: ab 16 Jahren