Simmons, Dan – Lovedeath

Dan Simmons hat sich in der Vergangenheit in den verschiedensten Genres einen Namen machen können. So begeisterte der in Peoria/Illinois geboren Schriftsteller sein Publikum unter anderem mit Science-Fiction- und Horror-Romanen. Zwei der elementarsten Themen seiner Bücher waren dabei stets die Liebe und der Tod. Vor mehr als zehn Jahren, genauer gesagt 1993, hat Simmons daher auch einige Novellen verfasst, die sich ausschließlich mit diesen Schwerpunkten befassen, doch die Veröffentlichung dieser Texte zog schließlich einige Schwierigkeiten nach sich. Während der Autor diese fünf Kurzgeschichten in Amerika noch im selben Jahr auf den Markt bringen konnte, fand sich in Europa kein Verlag für die düsteren Erzählungen des Erfolgsautors. Erst zwölf Jahre später hat sich mit dem |Festa|-Verlag ein würdiger Vertrieb für den Sammelband namens „Lovedeath“ gefunden, der die fünf Episoden, begleitet von einem etwas weiter ausgedehnten Vorwort, nun auch dem deutschen Publikum zugänglich macht. Bis auf das preisgekrönte „Sterben in Bangkok“ sind die Geschichten hierzulande noch nie publiziert worden, und warum dies fast schon schändlich zu nennen ist, möchte ich in den nächsten Zeilen erklären. Doch erst einmal mehr zum eigentlichen Inhalt:

_Die Novellen_

|“Das Bett der Entropie um Mitternacht“|

Ein Versicherungsvertreter fährt mit seiner sechsjährigen Tochter Caroline ins winterliche Colorado. Doch ihr Weg in das Städtchen Boulder wird von düsteren Nebengedanken seitens des Protagonisten überschattet. Immer wieder schießen ihm Gedanken durch den Kopf, die mit seiner beruflichen Vergangenheit in Verbindung stehen. Er hat ein so genanntes |Orange File| angelegt, in dem sämtliche Unfälle, mit denen er sich bislang beschäftigen musste, aufgelistet sind. Doch nicht nur im Job ist der Mann mit Unfällen beschäftigt: Auch sein Sohn kam damals bei einem solchen ums Leben, und nun befürchtet er, dass auch seiner geliebten Tochter etwas passieren könnte. Denn eines ist ihm klar: Liebe und Tod standen in seinem Leben immer im direkten Zusammenhang zueinander …

|“Tod in Bangkok“|

Der amerikanische Arzt Merrill kehrt nach langer Zeit zurück auf die Rotlichtmeile von Bangkok. Während des Vietnamkrieges war er schon mal dort gewesen, um sich hier von den harten Strapazen der grausamen Schlacht zu erholen, jedoch musste seine Freundin Tres den Urlaub damals mit dem Leben bezahlen.

Etliche Jahre später kehrt die Erinnerung an den früheren Aufenthalt wieder zurück in Merrills Gedächtnis, und der Wunsch, die mehr als zwei Dekaden zurückliegende Schreckenstat zu rächen, keimt in dem Mediziner erneut auf. Also begibt er sich mitten im anrüchigsten Viertel von Bangkok auf die Suche nach einer mysteriösen Dame, die einen entscheidenden Einfluss auf die damaligen Ereignisse hatte.

|“Sex mit Zahnfrauen“|

Ein Medizinmann und ein Schriftsteller tauschen sich über die Vorfahren der Lakota-Indianer aus und kommen auf die Sage eines tollpatschigen Indianers zu sprechen, der einst vorgab, zum Medizinmann berufen zu sein, um so bei der Damenwelt zu landen. Daraufhin wird er einer Prüfung unterzogen, deren Ritual dem Mann namens Lahmer Dachs eine Offenbarung beschert, infolge derer er sich plötzlich sogar mit drei ziemlich eigenwilligen Damen auseinander setzen muss … die Frau, deretwegen er überhaupt erst in diese Lage gekommen ist, scheint indes in unerreichbarer Ferne zu sein.

|“Rückblende“|

In gar nicht ferner Zukunft hat sich die Weltordnung komplett verändert. Die USA sind als einstige führende Kraft vollkommen entmachtet und ihre Bürger leben seitdem im totalen Chaos. Während in den Städten die Kriminalitätsrate stetig steigt und fast überall eine bedrohliche Dunstwolke den nächsten Smogalarm ankündigt, sieht das Volk sein einziges verbliebenes Heil in einer Droge namens ‚Flashback‘. Mittels dieses Mittels ist es den Menschen möglich, die schönsten Erinnerungen der Vergangenheit neu aufleben zu lassen, doch kaum hat man seinen Rausch verlebt, verfällt man in tiefe Depression.

Auch Carols Familie hat mit den Auswirkungen der Modedroge zu kämpfen. Sie selbst verfällt stets in Nostalgie, wenn sie die gemeinsamen Momente mit ihrem Ex-Mann von neuem erlebt, ihr Vater ist mit den Folgen des Attentats auf Kennedy beschäftigt, und ihr jugendlicher Sohn leidet unter den Missständen der Entwicklung und führt ein Leben unter den Gangs der Stadt. Der durch die Erinnerung hervorgerufene Kick wird immer wieder von einer tiefen Melancholie begleitet, und so ist auch die Familie von Carol dem totalen Zerfall preisgegeben, aus dem es anscheinend keinen Ausweg mehr gibt.

|“Der große Liebhaber“|

Der englische Dichter James Edward Rooke erzählt in seinem Tagebuch von seinen grausamen Erlebnissen aus dem Ersten Weltkrieg und dabei in erster Linie von Geschehnissen, die sich im direkten Umfeld des Kriegsschauplatzes an der Somme abgespielt haben. Vor Ort hat er mit eigenen Augen beobachtet, wie die erste echte Kriegsmaschinerie Millionen Menschen das Leben kostete. Rookes Verwunderung darüber, dass er selber noch immer am Leben ist, ist beinahe genauso groß wie der Ekel vor den grauenvollen Begebenheiten, die der Krieg einem jeden Augenzeugen beschert, und genau diesem verleiht der Dichter in seinen Tagebucheinträgen von der Front auch lautstark Ausdruck.

_Meine Meinung_

Die ersten Seiten dieses Buches fand ich persönlich ziemlich anstrengend. Da wäre zunächst einmal das Vorwort, in dem sich der Autor ziemlich breit über verschiedene Motivationen bezüglich der fünf Novellen auslässt und darüber hinaus auch noch einige recht mysteriöse Gedankenanstöße gibt. Zwar ist dies alles ziemlich interessant, nach einer Weile aber auch wirklich langatmig und darf daher auch getrost überschlagen werden, zumal es auch nicht zwingend zum Verständnis der enthaltenen Kurzgeschichten beiträgt.

Einen echten Einstieg muss somit die erste Erzählung „Das Bett der Entropie um Mitternacht“ liefern, doch auch hier macht Simmons es seinem Publikum nicht gerade leicht. Die wirren Gedankenstränge des erzählenden Protagonisten und die ständigen Einschübe, in denen er von den Erfahrungen seines Berufes redet, wirken anfangs enorm irritierend und laden auch nicht gerade zum Weiterlesen an. Erst als der wahre Hintergrund dieser Rückblicke ersichtlich wird, gewinnt die Geschichte an Tempo und zeigt den tatsächlichen Charakter dieses vollkommen verstörten Mannes. Beeindruckend ist hierbei, wie emotionslos Simmons seine Hauptfigur gestaltet. Jegliche emotionale Regung geht zwischen den ständigen Unfallberichten verloren, und doch geht es in dieser Geschichte auch vorrangig um das Thema Liebe. Ein toller Einstieg in dieses Buch, auch wenn die Anlaufzeit ein wenig länger war.

Die zweite Geschichte ist ein echter Klassiker und wurde auch schon mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Die Geschichte um den rachedürstigen Vietnam-Veteranen, der ganze 22 Jahre gewartet hat, um sein Gewissen zu bereinigen, geht unter die Haut, ist aber gleichzeitig auch ziemlich abstoßend. Speziell die Beschreibung der Rotlichtmeile ist wirklich erschreckend, ergänzt sich aber prima mit der unreinen Gedankenwelt des zurückgekehrten Arztes. Simmons spielt mit der Brutalität der Psyche und hält so die Spannung aufrecht bis zum packenden Schluss. Meiner Meinung nach ganz klar das Highlight dieses Sammelbands.

Die dritte Erzählung will nicht so ganz zum Rest passen und ist meiner Meinung nach auch klar die schwächste im Rahmen dieses Buches. Es will irgendwie keine richtige Atmosphäre aufkommen, und verglichen mit den vorherigen Novellen sind auch die Hauptcharaktere hier nicht so fesselnd dargestellt. Lesenswert ist „Sex mit Zahnfrauen“ aber allemal, nicht zuletzt, weil der Autor hier eine kleine Prise seines überaus skurrilen Humors beigemischt hat.

„Rückblende“ ist der Vertreter des Science-Fiction-Genres in diesem Buch. Simmons zeichnet ein sehr skeptisches Zukunftsbild und beschreibt die Welt als einen düsteren Moloch mit einigen apokalyptischen Szenarien, die jedoch in diesem Fall noch im ersten Stadium sind. Es ist eine hochtechnisierte, kriminelle und total verschmutzte Welt, in der die Gedanken an die Vergangenheit der einzige Rettungsanker für das eigene Glück sind. Das hierbei geschilderte Familiendrama eignet sich vorzüglich als Beispiel für ein zukünftiges Szenario, das sich selbst die skeptischsten Schwarzmaler kaum finsterer vorstellen können. Auch hier gilt: packende Atmosphäre, tolle individuelle Charaktere und eine sehr beklemmende, stark aufgebaute Handlung.

In seiner letzten Novelle kehrt Simmons noch einmal zur Kriegsthematik zurück und berichtet direkt von der Front. Jedoch lässt der Autor die handelsüblichen Klischees außen vor und befasst sich vielmehr mit dem Seelenleben des fiktiven Erzählers. Dass es sich dabei um eine sehr poetisch veranlagte Person handelt, verstärkt die dramatische Wirkung seiner Tagebucheinträge enorm, doch noch besser und fesselnder sind die verschiedenen Einträge von Soldaten, die der Autor aus Originalbriefen übernommen hat. Simmons entwirft in dieser letzten Geschichte ein sehr authentisches Bild des Grauens, das einem Beteiligten an der Kriegsfront tagtäglich widerfährt, und untermauert die wiederum sehr düstere Stimmung dieser Novelle mit bewegenden Momentaufnahmen aus erster Hand. Im Grunde genommen kann man hier auch den Anfang all dessen sehen, was Simmons zuvor als einen sehr negativen, generationenübergreifenden Entwicklungsschritt in „Rückblende“ beleuchtet.

So unterschiedlich die einzelnen Episoden auch sind, so viele Gemeinsamkeiten haben sie dann schlussendlich wieder. Der größte gemeinsame Nenner ist dabei ganz klar die unterkühlte, manchmal auch erschreckende Grundstimmung, die sich durch die fünf Geschichten zieht. Simmons zeigt sich als Meister der finsteren Lyrik und betrachtet in kurzen Aufnahmen Ausschnitte aus dem Leben von Personen, die irgendwo am Rande der Gesellschaft stehen, weil sie in sich Probleme tragen, denen sie nicht gewachsen sind bzw. deren Ursprung sie nicht beeinflussen konnten. Jede dieser kurzen Novellen ist ein kleines Meisterwerk für sich (auch wenn „Sex mit Zahnfrauen“ qualitativ ein wenig abfällt) und in ihrer Form definitiv einzigartig. Wichtig ist diesbezüglich, dass der Autor hierzu keine besonderen Effekte verwendet. Ganz besonnen wirft er den Leser in das Leben der Betroffenen und holt ihn quasi am Tiefpunkt wieder heraus, eben dort, wo die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, und hier sorgt er besonders bei „Tod in Bangkok“ und „Der große Liebhaber“ für eine kurzzeitige Gänsehaut ob des enorm kaltherzigen Anstrichs dieser Erzählungen.

Mit „Lovedeath“ ist Dan Simmons vor mehr als zehn Jahren ein enorm starkes, in seiner Ausprägung zudem überaus vielseitiges Werk gelungen, das man – ist man einmal infiziert – so schnell nicht mehr aus der Hand legen kann. In Schriftsteller-Kreisen ist der Verfasser dieser fünf Kurzromane bereits eine echte Ikone, und nachdem ich dieses Buch gelesen habe, wird auch klar, warum das so ist. „Lovedeath“ ist eine perfekt inszenierte Attacke auf die Psyche des Lesers und hinterlässt dort einen bleibenden Eindruck. Ich kann die hierin enthaltenen Geschichten und somit den Sammelband nur wärmstens weiterempfehlen und möchte genau dies zum Abschluss dieser Rezension auch tun!

http://www.festa-verlag.de

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