Connie Willis – Bellwether

Keine SF: Von Schafen, Lemmingen und den Agenten des Chaos

Sandra Foster studiert in Denver aktuelle Modetrends in der Firma HiTek, als sie den Chaostheoretiker Bennett O’Reilly kennenlernt, der definitiv keinem einzigen Modetrend folgt (oder einem längst vergessenen). Nach einer eigenen, persönlichen Erfahrung der Chaostheorie bietet Sandra ihm an, gemeinsam an einem lukrativen Projekt zu arbeiten: Modetrends, Herdentrieb und Chaostheorie haben offenbar sehr viel miteinander zu tun. Ihr Studienobjekt allerdings ist ungewöhnlich: echte, lebende Schafe…

Dieses Buch der mehrfachen Literaturpreisträgerin (6 Nebulas & 5 Hugos) wurde noch nicht übersetzt.

Die Autorin

Constance Elaine Trimmer Willis wurde am Silvestertag des Jahres 1945 in Denver, US-Staat Colorado geboren. Sie studierte Englisch und Erziehungswissenschaften am dortigen Colorado State College (heute University of Northern Colorado), wo sie 1967 ihren Abschluss machte und als Lehrerin zu arbeiten begann.

Die 1945 geborene Lehrerin und US-Schriftstellerin ist seit den achtziger Jahren eine der besten und originellsten Science Fiction-Autorinnen. Die Stories, die dies beweisen, sind in dem Band „Brandwache“ gesammelt (deutsch bei Luchterhand). Sie hat bereits zahlreiche Preise eingeheimst, darunter den HUGO und den NEBULA für ihren Zeitreiseroman „Die Jahre des Schwarzen Todes“ (1992, dt. bei Heyne).

„Lincolns Träume“ war 1987 ihr Romandebüt als Solo-Autorin, davor schrieb sie als Ko-Autorin mit Cynthia Felice. Für „Die Farben der Zeit“ wurde Connie Willis mit dem Hugo Gernsback- und dem Locus (Magazine) Award für den besten SF-Roman des Jahres 1997 ausgezeichnet.

Willis setzt ihre Hauptfiguren gern den Attacken karrieresüchtig stromlinienförmiger, politisch überkorrekter, humorloser Zeitgenossen aus, die sie auf diese Weise anprangert. Mit ihrem Gatten, einem ehemaligen Physikprofessor, lebt Connie Willis heute in Greeley, Colorado. In „Bellwether“ setzt sie ihm ein kleines Denkmal, denn sie lässt ihn – hier als Alfred Taylor Niebnitz – häufig zitieren.

Handlung

Es ist der Sommer der „Power Rangers“, und Sandra Foster ist als Soziologin eifrig damit beschäftigt, in Denver, Colorado, Modetrends wie Power Rangers zu studieren. Sie weiß alles darüber, vom Mittelalter bis zur Jetztzeit. Doch das schert ihre neue Interabteilungsassistentin Flip reichlich wenig. Sandra schaut immer genau hin: Flip hat sich den Kopf geschert, bis nur noch eine Haarlocke übrigblieb, die sie sehr fotogen herumwerfen kann. Ein Nasenring und ein Mikro-Rock komplettieren das Ensemble. Sandra sieht mit ihrem Röntgenblick auch die inneren Werte Flips: Sie sind nicht vorhanden. Auffallend ist das Fehlen jeden Verantwortungsbewusstseins. Und damit fängt die ganze Sache an.

Der Anfang

Flip weigert sich, einen schweren Karton mit als „verderblich“ deklarierten Artikeln hinunter in die Biologie-Abteilung zu schleppen und setzt das Teil einfach mitten in Sandras Arbeitsraum ab. Ihr auch noch das dringend benötigte Klebeband zu reichen, fällt nicht in ihre Stellenbeschreibung. Folglich fällt Sandras Stapel mit Kladden voller Zeitungsausschnitten über Modetrends zur Seite und verteilt sich auf geheimnisvolle Weise gleichmäßig über den Fußboden. Als Sandra aufblickt, hat sich Flip in Luft aufgelöst. Das Neusortieren muss warten. Der Karton mit „verderblich“ darauf hat Priorität.

Die Adressatin Dr. Alicia Turnbull ist nicht da, doch bei O’Reilly brennt noch Licht. Bennett O’Reilly ist eigentlich Informatiker, beschäftigt sich bei HiTek aber mit Chaostheorie. Er hofft auf eine Lieferung von Makaken – daher seine Unterbringung in „Bio“. Sandra findet Bennett in seinen Cordsamthosen, den dicken Brillengläsern und der undefinierbaren Krawatte ein überaus lohnendes Studienobjekt, geradezu die Antithese zu einem Modetrends, fast so als wäre er aus der Zeit gefallen. Kurzum: ein Geek. Aber kein Geek aus der Informatik (dort tragen alle Nike-Turnschuhe), sondern etwas – Undefinierbares. Und das macht ihn richtig interessant.

Teamwork

Nach der aktuellen Mitarbeiterversammlung – die neueste Initiative trägt die charmanten Abkürzung GRIM – erkennen Sandra und Bennettt, dass sie im Grunde an der gleichen Sache arbeiten: Wie kommt es zur Entstehung von Ereignissen wie etwa Modetrends – durch chaotische Anstöße oder durch etwas anderes? Sandra ist besessen von der Frage, wie es zum Bubikopf kam. Doch um zusammenarbeiten zu können, muss sich etwas Fundamentales an der Finanzierung ihrer beiden Projekte ändern.

Da winkt das Management (der Boss) mit der Aussicht, den mysteriösen Niebnitz Grant zu erhalten, ein Förderstipendium, das mit der enormen Summe von 1 Million Dollar ausgestattet ist. Es gibt nur einen Haken: Der Antrag auf diese Förderung ist über 60 Seiten lang und derart verklausuliert, dass die Chancen, ihn rechtzeitig bei der richtigen Stelle einreichen zu können, gegen null tendieren. Immerhin: Sandra, Bennett, Gina und die umtriebige Alicia Turnbull geben ihr Bestes.

Eine Schafsidee

Das Projekt, das Sandra und Bennett gemeinsam beantragen, beinhaltet das Studium von lebenden Schafen. Denn die Fellträger sind ja für ihren Herdentrieb bekannt und sollen sich angeblich leicht lenken lassen. Schafe zu beschaffen ist kein Problem: Sandra bittet einfach ihren Freund Billy Ray darum, der eine Schaffarm in Montana betreibt. Das Problem besteht darin, die Schafe dazu zu bekommen, zu tun, was man von ihnen will. Ein Faktor X fehlt, aber worin besteht er?

Nur langsam geht diesem kleinen erlauchten Kreis auf, dass es in ihrer Mitte eine unsichtbare Kraft gibt, die das Erreichen dieses Zieles vereiteln will: eine Agentin des Chaos, ohne Zweifel. Doch wer ist sie und wie lässt sie sich unschädlich machen? Ein finsterer Verdacht beschleicht die Abteilungen der Firma, als sie in ihrer Mitte ein geradezu aussätziges Wesen entdecken: Flips neue Assistentin Shirl – eine Raucherin…

Mein Eindruck

Anders als in Willis‘ bekanntesten Romanen „Die Farben der Zeit“ und „Die Jahre des Schwarzen Todes“ geht es hier nicht um Zeitreisen, wohl aber um Zeit. Zeit der Modetrends, der Sitten und Unsitten. Jedem der kurzen, nicht nummerierten Kapitel ist eine kleine Erklärung für eine Modeerscheinung vorangestellt. Sei es das Ouija-Brett, Pompadour-Frisuren, überspitze Schuhe, Mesmerismus, Bubikopf – es ist alles da.

Diesen „fads“, schnell vorübergehenden Moden, gilt Sandras ganzes Interesse. Und sie ist eine scharfe Beobachterin: Ihrem Sherlock-Holmes-Blick entgeht nichts, von der Vielfalt der Barbiepuppen über i-förmigen Brandzeichen auf der Stirn bis zu den Flip-Klonen, die neuerdings an jeder Theke anzutreffen sind: vergesslich, verantwortungslos, unsicher und stets nach dem neuesten Trend schielend, kurzum: Lemminge. Oder besser noch: Schafe.

Nein, sie machen Sandra nicht wütend, denn sie ist mit ihren immerhin schon 31 Jahren ein inzwischen langmütiger Mensch geworden. Sie versucht auch gar nicht mehr, sie zu belehren oder zu tadeln – das wäre vergeblich Liebesmüh. Nein, sie entdeckt in manchen von ihnen etwas Unerwartetes: Leithammel. Das ist die direkte Übersetzung des O-Titels „bellwether“ (von „bell“ = Glocke und „wether“ = Widder). Das Verwirrende an Leithammeln ist, dass sie erstens weiblich sein können und zweitens, dass sie exakt genauso aussehen wie andere Schafe.

Diese virtuelle Unsichtbarkeit des Unterschieds stellt Sandra und Bennett bei ihrem Schafexperiment natürlich vor eine gewisse Schwierigkeit: Die Schafe tun nicht, was die Menschen wollen, und der Leithammel – er musste extra angefordert werden, tauchte aber gleich in der Herde unter – ist nicht zu entdecken. Nur verschärfte Videoüberwachung und eine Frühform von GPS-Tracking auf ihrem vorsintflutlichen IBM-PC verhilft Sandra zur nötigen Entdeckung. Leider geschieht dies genau in jenem Moment, als auch die Agentin des Chaos Zeugin des Einfangens des Leithammels (pardon: Er ist eine Sie) wird. Nichtsahnend säen unsere beiden Top-Wissenschaftler die Saat ihres eigenen Untergangs – und den der ganzen Firma…

Meine Lektüre

All dies klingt in der Tat nicht nach Science Fiction. Das ist auch der Grund, warum der deutsche Heyne-Verlag diesen Roman der vielfach preisgekrönten Autorin nicht übersetzen ließ (auch kein anderer Verlag, was das anbelangt). Es ist ein Roman für Erwachsene, die gebildet sind und sich für die Entstehung von Modetrends (s.o.) interessieren. Ideal wären natürlich Soziologen als Leser, oder neugierige Damen, die sich brennend für ihre menschliche Umgebung interessieren.

Die Chaostheorie wird nur am Rande thematisiert, obwohl sie in die DNS der Handlung eingebaut ist. Doch es scheint von Agenten des Chaos nur so zu wimmeln. Sie zu entdecken ist das gleiche Problem wie bei der Entdeckung eines Leithammels: Man erkennt sie ausschließlich an ihren Untaten. Und das ist es meistens bereits zu spät, um Unheil zu verhüten.

Humor

Deshalb gibt es in diesem Roman zwischen den Zeilen jede Menge sarkastische Ironie beziehungsweise schwarzen Humor. Die Gesellschaft inner- und außerhalb des irrenhauses der Firma HiTek scheint unsichtbaren Regeln zu folgen, als sich Trends, Moden und Unsitten abwechseln. Doch wieviel grauer und blasser wäre unsere Welt, wenn es sie nicht gäbe? Dann müssten wir nämlich alle Förderanträge von mindestens 60 Seiten Länge ausfüllen, die in einem Technokraten-Slang verfasst sind, den kein anderer Mensch versteht.

Endlich: Romantik!

Natürlich hoffte ich stets auf ein paar saftige, emotionale Szenen zwischen Sandra und Bennett. Sie sind füreinander bestimmt, soviel ist jedem feinfühligen leser vom ersten Moment ihres Kennenlernens klar. Aber da sind erstens Dr. Alicia Turnbull, die Bennett für sich in Beschlag nimmt, und zweitens Billy Ray, der auffallend selten auf seiner Schaffarm tätig ist und sich brennend für die „heißesten“ Restaurants in Denver und Boulder, Colorado, interessiert.

Unter diesen Umständen wird der Leser mächtig auf die Folter gespannt. Die Erlösungfolgt dann erst in der vorletzten Szene, als die füreinander bestimmten Liebenden einander in die Arme fallen – und sich ein Kuss als größte Inspirationsquelle des Universums erweist. Dass man diese Art von Romantik nicht allzu ernstnehmen darf, dürfte wohl auch klar sein.

Unterm Strich

Lemminge, Schafe und der Rattenfänger von Hameln – das passt perfekt zusammen, findet die schlaue Sandra sarkastisch. Andererseits ist sie aber auch auf einem Auge blind: Sie erkennt das Chaos nicht, wenn es bereits regiert und alle Unternehmungen lahmzulegen beginnt. Erst in letzter Sekunde und mit der Hilfe einer „Feen-Patin“ bzw. Schutzengelin“ gelingt es ihr, zu retten, was noch zu retten ist: das Stipedium, das Experiment – und ihre Liebe zu Bennett. Doch wer jene unsichbar tätige Agentin des Chaos ist, darf hier nicht verraten werden. Und warum ihre Existenz gerade lebensnotwendig ist, um aus Chaos eine neue, höhere Ordnung entstehen zu lassen – das sollte die Autorin am besten selbst erklären.

Ich habe diesen 250-Seiten-Roman an nur einem Nachmittag in einem Rutsch gelesen. Die Lektüre ging quasi von allein vonstatten, und ich musste unbedingt herausfinden, ob die Love Story von Sandra und Bennett glücklich endet oder die Stadt Denver und der Rest der Welt im Chaos versinkt. Dabei durfte ich einiges Neues über wissenschaftliche Entdeckungen, Modetrends und ausgefallene Bräuche lernen, aber auch die Verse von zwei von Robert Brownings besten Gedichten: „The Pied Piper“ und „Pippa Passes“. Beide tragen wesentlich zu Sandras Erkenntnis bei, wie Moden entstehen. Und warum sie manchmal mitten in der tiefsten Provinz anfangen.

Natürlich ist der Roman auf einer versteckten Ebene eine versteckten Kritik an modernem Management, das an Absurditäten nur von Kafka überboten wird (denn Kafka arbeitete ja in einer Versicherungsanstalt). An modernen „fads“, die meist nur der Geschäftemacherei dienen, wie etwa Barbiepuppen. Letzten Endes ist es aber auch ein Roman über Wissenschaft an sich. Wenn jetzt noch irgendwer behaupten sollte, wissenschaftliche Entdeckungen würden auf harter Arbeit und methodischem Vorgehen beruhen, der wird hier sicher eines anderen belehrt.

Fazit: Wissenschaftliche Entdeckungen an sich beruhen angeblich auf dem, was man gemeinhin „Glück“, „glücklicher Zufall“ oder „Serendipität“ nennt. Sandra aber weiß jetzt: Wissenschaft, das ist, wenn die anfängliche Ordnung aufs Chaos trifft – und in eine neue, höhere Ordnung übergeht. Dieser Moment, ja, den gilt es einzufangen. Man braucht nur eine Agentin oder einen Agenten des Chaos dafür. Gleichmal Ausschau halten!

Taschenbuch: 248 Seiten
Originaltitel: Bellwether, 1996
ISBN-13: 978-0553562965

Bantam Books Spectra

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