Dan Simmons – Der Berg

Das geschieht:

Seit 1921 führt Großbritannien wieder Krieg. Schlachtfeld ist dieses Mal der „dritte Pol“: der Mount Everest, mit 8848 Metern der höchste Berg der Erde. Seine Erstbesteigung soll durch Briten erfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird der Everest seit Jahren generalstabsmäßig durch Bergsteiger und Träger ‚belagert‘. Doch jeder Gipfelsturm verlief bisher erfolglos zu oft tragisch. Zuletzt starben 1924 die Meisterkletterer George Mallory und Andrew Irvine.

Mallorys ehemaliger Berggenosse Richard Davis Deacon, Mitglied der gescheiterten Expedition von 1922, kehrt mit seinen Gefährten – dem Franzosen Jean-Claude Clairoux und dem jungen Amerikaner Jacob William Perry – 1925 zum Everest zurück. Er ist heimlich und ohne Billigung des mächtigen „Mount Everest Committee“ gekommen und bedient sich einer List: Angeblich soll das Trio im Auftrag seiner Mutter, die das Unternehmen finanziert, nach dem im Vorjahr am Everest verschollenen Lord Percival Bromley suchen. Tatsächlich will vor allem Deacon vor allem auf den Gipfel.

Doch er hat die Rechnung ohne Lady Bromley gemacht. Die kluge Frau überträgt die Führung der Expedition einer in Indien lebenden Verwandten. Regina Bromley-Montford ist eine erfahrene Bergsteigerin, ungemein selbstbewusst – und sitzt auf der Reisekasse. Wohl oder übel muss Deacon einlenken. „Reggie“ erweist sich schnell als orts- und sprachkundige Gefährtin, deren Talente für das anstrengende und mit zunehmender Steighöhe immer gefährlichere Unternehmen lebenswichtig werden.

Nicht nur die Höhe, das Wetter oder der Steinschlag machen der Gruppe zu schaffen. Zwielichtige Gestalten treiben sich am Berg herum. Die Sherpa-Träger fürchten außerdem den Zorn der Yetis, die in diesem Sommer besonders empfindlich auf die Störung durch Fremde reagieren und bereits diverse Bergsteigerköpfe von ihren Hälsen gerissen haben sollen …

Die letzte echte Herausforderung

Helden sind noch heldenhafter, wenn sie die gewählte Herausforderung nicht überleben. Was zunächst paradox sowie zynisch klingt, wird verständlich, schaut man sich die Lebensläufe alt gewordener Helden an: Sobald sie die Außerordentlichkeit verlassen, hat sie das Alltagsleben wieder. Dort warten Fallstricke, denen auch ein Held auf Dauer nicht entrinnt. Er wird wieder menschlich, manchmal sogar tragisch.

Der frühe Tod kann da Abhilfe schaffen. Auch George Mallory profitierte davon. Hätte er 1924 überlebt, wäre er nur ein weiterer Bergsteiger gewesen, der am Mount Everest gescheitert war – zum wiederholten Male. Angesichts dieser Misserfolgsbilanz und seines Lebensalters hätte sich ihm wohl keine Möglichkeit geboten, es noch einmal zu versuchen. Er wusste es selbst und war bereit, aufs Ganze zu gehen.

Die ortsferne Öffentlichkeit verbuchte dies als heldenhaftes Scheitern. In einer überaus nationalistisch aufgeheizten Vergangenheit war dies nach dem Gipfelsieg die bessere Alternative: Mannhaft hatten sich Mallory und sein Begleiter Andrew Irvine dem Kampf mit dem Berg gestellt. Die Niederlage war tragisch aber dramatisch genug, um ausgeschlachtet zu werden. Zwei Briten hatten Übermenschliches gewagt und waren gescheitert. So war es schon Robert F. Scott und seinen Begleitern 1912 am Südpol ergangen.

Entscheidend war jetzt, dass auch der nächste und dann unbedingt erfolgreiche Gipfelsturm erneut von Briten unternommen wurde: Dann war der Sieg vollkommen weil süß und bitter zugleich, wie ihn die Autoren von Geschichtsbüchern lieben. Wichtig war ebenfalls, dass Mallory und Irvine verschollen blieben, denn so konnte ihre unsichtbare und deshalb umso stärkere Präsenz Großbritanniens Ruhm am Mount Everest repräsentieren und konservieren.

Womöglich hatten sie es sogar tatsächlich auf den Gipfel geschafft! Dies war aber von sekundärer Bedeutung, wie Edmund Hillary, der 1953 mit seinem Begleiter Tenzing Norgay nachweislich zuerst auf dem Everest stand, auf die Frage, ob Mallory es vor ihm geschafft haben könnte, spielverderbend aber sehr richtig bemerkte: Ein echter Gipfelstürmer kommt lebendig wieder vom Berg herunter!

Männer mit geborgten Identitäten

Das Wissen um diese geraffte Realgeschichte ist hilfreich für die Lektüre eines Romans, der ansonsten etwas ratlos zurücklässt: Wir haben gerade ein wirklich gutes Buch gelesen, doch worum ging es in der erzählten Geschichte eigentlich? Autor Dan Simmons hat im Interview behauptet, sehr genau gewusst zu haben, was er mit und in seinem Buch ausdrücken wollte. Doch die Handlungsstränge lassen sich einfach nicht wirklich harmonisch miteinander verknüpfen. Stattdessen sieht es so aus, als habe Simmons irgendwann die Angst vor der eigenen Courage überwältigt: eine Erfahrung, die Autoren und Bergsteiger miteinander teilen dürften.

Beinahe zwei Drittel des umfangreichen Romans erzählt von drei Männern, die den höchsten Berg der Erde besteigen wollen. Zunächst werden sie uns vorgestellt, denn Simmons ist wichtig zu verdeutlichen, wieso sie sich in ein grundsätzlich sinnloses aber lebensgefährliches Unternehmen stürzen. Richard Deacon, Jacob Perry und Jean-Claude Clairvaux repräsentieren typische zeitgenössische Abenteurer, die immer auch Eroberer waren. Deacon ist ein ‚besserer‘ Mallory, gereinigt von seinen dunklen Seiten, die ungeachtet der Mythenbildung im Laufe der Zeit offenbart wurden. Geblieben ist der obsessive Drang nach oben, der wie eine Sucht ist. Anders als Mallory geht Deacon dabei nicht über Leichen. Sein eigenes Leben würde er freilich dafür geben, auf dem Everest-Gipfel zu stehen.

Perry ist „Irvine“, ein junger, idealistischer, naiver Mann, den die Ereignisse ‚erwachsen‘ werden lassen – ein Prozess, den Simmons unterstreicht, indem er den alten Perry mit jahrzehntelangem Abstand die Geschichte erzählen lässt. Der Everest hat ihn geformt, was zu einem ausführlichen Epilog führt, in dem Perry zusammenfasst, wie sein Leben nach 1925 verlaufen ist. Im Rahmen der Handlung vertritt Perry den Leser, in dessen Vertretung er (manchmal dumme) Fragen stellt, die Meister Deacon geduldig beantwortet.

Clairvaux übernimmt die „Buddy“-Rolle. Deacon eignet sich aufgrund seiner vornehmen Unnahbarkeit nur bedingt als Sympathieträger. Der Mann aus Frankreich ist einerseits (beinahe) ebenso tüchtig am Berg wie Deacon, aber andererseits auch zugänglicher. Sein Schicksal ist für die genannte Rolle typisch: Der Tod des guten Kumpels sorgt seit jeher für Handlungstragik.

Der Berg als Symbol

„Weil er da ist“, beantwortete Mallory einmal die Frage, wieso er sein Leben aufs Spiel setzte, um den Everest zu besteigen. Schon damit hat er seinen Platz in der Geschichte verdient, denn Bonmots gelingen in dieser genialen Sinnlosigkeit selten und bleiben garantiert in Erinnerung. Simmons gelingt es, den Geist zu verdeutlichen, der hinter solchem Denken steckt. Hier ist „Der Berg“ so gelungen wie in der Rekonstruktion des historischen Umfelds. Das Jahr 1925 nimmt zum Teil buchstäblich Gestalt an, denn die Geschichte spielt nicht nur im Himalaya, sondern auch in England und auf dem europäischen Kontinent. Diverse Bergsteiger-Prominenz tritt neben realen Gestalten Rudolf Hess oder Winston Churchill auf.

Meisterhaft ist Simmons auch in der Beschreibung von Landschaften sowie in der Beschwörung von Stimmungen. Schon „The Terror“ (2007; dt. „Terror“), seine phantastisch angereicherte Nacherzählung der historischen Franklin-Expedition von 1845, ‚lebte‘ durch entsprechende Passagen, weil sie den Leser unmittelbar in die geschilderte Szenerien zu versetzen schienen. Auf entsprechende Weise gelingt es Simmons, die Schönheit und die daraus resultierende Faszination zu illustrieren, die dem lebensfeindlichen Everest innewohnt.

Freilich beginnt sich an dieser Stelle die Waagschale zu senken: Simmons konnte sich offensichtlich nicht vom recherchierten Wissen trennen. Er verliert sich in Exkursen, Nebenhandlungen und Beschreibungen, die für sich betrachtet durchaus lesenswert sind. Zur Handlung tragen sie nicht bei, sondern erhöhen vor allem die Seitenstärke. So ist jene Szene, in der die Gefährten auf die Leiche von George Mallory stoßen, eine kopieähnliche Variation der Umstände, unter denen der Körper 1999 tatsächlich entdeckt wurde.

Wenn nichts mehr geht, nimm Nazis!

Zwei Drittel der Handlung sind gemächlich bis spannend auf dem Weg zum Everest-Gipfel verstrichen, als Simmons plötzlich das Steuer herumreißt: Aus einem Historien- und Abenteuerroman wird plötzlich ein Thriller! Besser ausgedrückt: Soll ein Thriller werden.

Simmons hat im Interview darauf hingewiesen, dass ihn das Jahr 1924 nicht nur wegen des Scheiterns der britischen Everest-Expedition interessierte. In Deutschland begannen die Nationalsozialisten nach der Macht zu greifen. Im November 1923 hatte Adolf Hitler voreilig und schlecht vorbereitet in München geputscht. Dies war gescheitert und Hitler als Hochverräter verurteilt worden. Doch die nationalsozialistische Bewegung blieb unzerschlagen und agitierte weiter gegen die Weimarer Republik.

Die späteren Paladine des „Dritten Reiches“ standen bereits in den Startlöchern. Simmons konstruiert nun ein Geheimnis, dass Hitler und die Nazis zerstören würde, käme es an die Öffentlichkeit. Entsprechende Unterlagen sollen ausgerechnet im Himalaya an einen britischen Agenten übergeben werden.

Schon diese Prämisse ist haarsträubend, aber Simmons geht noch sehr viel weiter: Er schickt Deacon & Co. eine Horde Nazi-Bergsteiger hinterher, die sich als Yetis tarnen! Kann es noch schlimmer werden? Simmons toppt das in der Tat, als er das zentrale Geheimnis endlich lüftet. Es wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten, aber es weist einen enormen Fremdschäm-Faktor auf, der nur zum Teil durch den seit jeher in der britischen (Populär-) Kultur gepflegten Umgang mit dem Nationalsozialismus entschuldigt ist. Hier wird man schlagartig daran erinnert, dass „Der Berg“ ein Unterhaltungsroman ist. Simmons mag ‚echte‘ Lektüre im Sinn gehabt haben, doch dieses Ziel hat er nachhaltig torpediert!

Mindestens eine Frau muss dabei sein!

Einen ersten Schuss vor den Bug versetzte er dem eigenen Buch übrigens schon früher. Soll ein Roman heute ein breites Publikum (oder einen Filmproduzenten) erreichen, muss mindestens eine Hauptfigur weiblich sein. Dass die historische Realität dem manchmal eindeutig entgegensteht, ist dabei kein Argument. Deshalb darf Reggie Bromley-Montford mit auf den Everest steigen. Selbstverständlich ist sie nicht nur selbstbewusst und gleichberechtigt, sondern auch bildschön, was Simmons gern wiederholt, obwohl nicht einmal er soweit geht, der Handlung eine -40°/8000-Meter-Liebesgeschichte aufzupfropfen. Ersatzweise wird der junge Jacob mehrfach rot, weil die schöne Lady Worte wie „Hoden“ oder „pinkeln“ spricht.

Das generell höchstens dramatische aber sicher nicht einleuchtende Finale verdirbt Simmons zusätzlich durch eine nicht mit der Feder, sondern mit der Brechstange realisierte Last-Minute-Romanze zwischen edlem Mann und Edelfrau, die sich vor der schnöden Welt in ihr privates Shangri-La zurückziehen. Dem folgt eine Coda, denn Simmons scheint sich nicht von seinen Figuren trennen zu können. Er folgt ihnen hartnäckig durch die Jahrzehnte und negiert die Geheimnisse, die ihm zuvor so wichtig waren.

Sogar Hitlers schmutziges Geheimnis wird wieder hervorgekramt. Winston Churchill hütet und setzt es 1941 auf eine Weise ein, die nur eine Leser-Reaktion verdient: Facepalm! Anschließend gerät es wohl in Vergessenheit, denn bis 1945 wird wieder britisch, d. h. mit offenem Visier und ohne Erpressung des „Führers“ gefochten.

Man muss sich intensiv an die vielen gelungenen Passagen des Buches erinnern, um Simmons zu verzeihen, der beinahe panisch dafür sorgt, dass Verleger und lesende Stammkunden eine Schublade finden, in die „Der Berg“ passt. Hierzulande endet die Zusammenfassung auf dem hinteren Cover so: „Oder war vielleicht etwas dort oben bei ihnen auf dem Berg?“ Freunde des Horror-Autors Simmons dürfen dahinter (sowie hinter dem Originaltitel) gern den Yeti vermuten. Bis sie herausfinden, was (und wie ihnen) stattdessen geschieht, haben sie den Buchpreis vermutlich schon entrichtet …

Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf einschlägigen Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Simmons ist vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht sich immer wieder in neuen Genres, gewinnt dem Bekannten ungewöhnliche Seiten ab.

Über Leben und Werk von Dan Simmons informiert die schön gestaltete Website.

Gebunden: 766 Seiten
Originaltitel: The Abominable (New York : Little Brown and Company 2013)
Übersetzung: Friedrich Mader
www.randomhouse.de/heyne

eBook: 1149 KB
ISBN-13: 978-3-641-12586-8
www.randomhouse.de/heyne

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