Dave J. Pelzer – Sie nannten mich »Es«

Manche Bücher erzählen eine grausame Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, die uns beim Lesen einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Zuletzt hatte „Mia“ von Liza Marklund bei mir diese Wirkung hervorgerufen, doch nun habe ich „Sie nannten mich Es“ gelesen und fand es mindestens ebenso schockierend …

Stationen einer Kindheit

Das kurze und dünne Buch ist in sieben verschiedene Kapitel eingeteilt, die wichtige Stationen in Dave Pelzers Leben darstellen. Gleich zu Beginn erlebt der Leser Daves Rettung mit. Endlich haben die Schulkrankenschwester und der Schuldirektor genug gesehen von Daves blauen Flecken und Verletzungen, die selbstverständlich nicht von Unfällen stammen. Die beiden verständigen die Polizei und lassen Dave aus der Schule abholen. Zunächst muss er eine Aussage über seine Erlebnisse machen, anschließend ist er jedoch frei – frei von seiner gewalttätigen Mutter, die ihn permanent gequält hat.

Im zweiten Kapitel macht Dave einen Schritt zurück in glückliche Zeiten seiner Kindheit, in der seine Mutter sich in liebevoller Weise um ihre Familie gesorgt hat. Doch schleichend wird sie immer gemeiner zu Dave und denkt sich immer neue Qualen aus. Während seine Mutter ihn als Opfer auserkoren hat, steht der Vater hilf- und tatenlos daneben und schafft es nicht, sich gegen seine Frau zur Wehr zu setzen. Dennoch sieht Dave in seinem Vater den Helden, der ihn vor Misshandlungen schützen kann, da die Terrorisierungen seitens der Mutter anfangs nur dann stattfinden, wenn der Vater nicht daheim ist, doch die Situation wird im Hause Pelzer wird immer schlimmer.

Dave darf nicht mehr mit seiner Familie essen und muss stattdessen in Opferhaltung dasitzen und darauf warten, dass er im Anschluss an das Familienessen den Abwasch übernehmen „darf“. Zu essen bekommt Dave nur, wenn er seine Haushaltspflichten in kürzester Zeit erledigt hat und auch nur dann, wenn seine Mutter es zulässt. Dave muss sich immer neue Methoden ausdenken, um an Essen zu gelangen, da er zu Hause tagelang hungern muss. Er stiehlt die Pausenbrote seiner Klassenkameraden und wird unter anderem deswegen auch in der Schule zum Außenseiter.

Der Essensentzug bleibt nicht die einzige Misshandlung, denn Dave wird permanent geschlagen und gefoltert. So hält Daves Mutter seine Hand in die Gasflamme des Herdes oder lässt ihn ätzendes Reinigungsmittel schlucken. Als Daves Vater schließlich die Familie verlässt, muss Dave um sein Leben fürchten …

Dave Pelzer und sein American Dream

Auf Pelzers offizieller Homepage http://www.davepelzer.com und in seinen weiteren Büchern erfährt man, wie es nach der Rettung in seinem Leben weitergegangen ist. In Kürze: Nach seiner Rettung kam Dave in ein Heim, bevor er im Alter von 18 Jahren zur U.S. Air Force ging. Für seinen Einsatz in verschiedenen Operationen ist Dave Pelzer mehrfach ausgezeichnet worden. 1993 wurde er als einer der „Ten Outstanding Young Americans“ geehrt. 1996 durfte er sogar das olympische Feuer gen Atlanta tragen. Zwei seiner Bücher wurden für den Pulitzer-Preis nominiert und er ist der einzige Autor, von dem vier Bücher gleichzeitig in der Bestsellerliste der New York Times standen. Dave Pelzer weist eine lange Liste von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf und engagiert sich selbstverständlich besonders auf dem Gebiet der Kindesmisshandlungen. Auf seiner Homepage wird er sogar als „Samariter“ bezeichnet. Schon im ersten Buch wird angedeutet, dass Dave Pelzer seinen amerikanischen Traum gelebt hat, dieser Aspekt wird auf seiner Homepage nochmals besonders hervorgehoben. Wer sich ausgiebig über Dave Pelzer informieren möchte, kann dies in englischer Sprache auf seiner Homepage tun, dort finden sich darüber hinaus viele Fotos, aktuelle Informationen und ein ausführliches Interview.

Weitere Bücher von Dave Pelzer:

Der verlorene Sohn (ISBN: 3453873181)
Ein Mann namens Dave (ISBN: 345387742X)
Help Yourself – Strategien fürs Ich (ISBN: 3936261164)
The privilege of youth (bislang nur auf Englisch erschienen)

Kritische Betrachtungen

Schon beim Lesen des Klappentextes läuft es uns kalt den Rücken herunter. Dave Pelzer hat in seinem Leben Qualen erleben müssen, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Er musste den Kot aus der Windel seines Bruders essen oder auch sein eigenes Erbrochenes, sich permanent von seiner Mutter misshandeln lassen und um sein Leben fürchten. Jahre später entschließt Dave sich dazu, seine eigenen Erlebnisse in Form eines Buches zu veröffentlichen, um andere Menschen aufzurütteln. So schreibt er „Sie nannten mich Es“, um in komprimierter Form auf knapp 150 Seiten in einfacher Sprache seine Kindheit zu schildern. Schon im Vorwort lässt Dave Pelzer anklingen, dass er bewusst einfache Sprache verwendet hat, um seine damaligen kindlichen Gedanken am besten darzustellen, doch werden darüber hinaus auch genug Wörter verwendet, die nicht dem Alltagswortschatz eines etwa elfjährigen Kindes entstammen.

In der Tat ist die Sprache aber so einfach gehalten, dass sich das Buch locker in eineinhalb Stunden durchlesen lässt, wenn man es schafft, sich den gesamten Inhalt in einer einzigen Dosis zu Gemüte zu führen. Die Beschreibungen im Buch sind kurz, knapp und prägnant und lassen uns dennoch schaudern. Dave Pelzer hält sich kaum mit weit schweifenden Beschreibungen auf und schafft es nichtsdestotrotz, den Terror viel zu bildhaft vor Augen zu führen. Seine Misshandlungen und die immer neuen Foltermethoden seiner Mutter erklärt er zwar zunächst knapp, verpasst ihnen aber eigene Namen, sodass er im weiteren Verlauf des Buches nur noch die jeweilige Foltermethode benennen muss, damit der Leser sich eine gewisse Vorstellung davon machen muss, was Dave nun schon wieder angetan wird. Wesentliche Dinge fallen teilweise nur im Nebensatz, dass Dave z. B. nach der ersten Gaskammer-Attacke über eine Stunde lang Blut gespuckt hat.

Das Gaskammerspiel:

„Mutter hatte noch ein anderes Lieblingsspiel, das sie mit mir spielte, wenn Vater nicht da war. Sie befahl mir, das Badezimmer zu putzen und setzte ihr übliches Zeitlimit dafür fest. Dann stellte sie einen Eimer mit einer Mischung aus Salmiakgeist und Clorox in den Raum und schloss die Tür. […] Ich wusste nicht, was mir bevorstand. Erst als Mutter die Tür schloss und mir verbot, sie zu öffnen, fing ich an, mir Sorgen zu machen. In dem schlecht belüfteten Raum veränderte sich die Luft schnell. In einer Ecke des Badezimmers fiel ich auf Hände und Knie und starrte den Eimer an. Gräuliche Nebelschwaden breiteten sich zur Decke aus. Als ich die Dämpfe einatmete, brach ich zusammen und spuckte. Meine Kehle fühlte sich so an, als würde sie in Flammen stehen. […] Nach ein paar weiteren Minuten dachte ich, dass ich mir die Seele aus dem Leib husten würde. Ich wusste, dass Mutter nicht nachgeben und ihr Spiel bis zum Äußersten treiben würde. Um es zu überleben, musste ich meinen Verstand gebrauchen. […] Ich fühlte mich so, als sei ich in einer Gaskammer eingesperrt. […] Nach ungefähr einer halben Stunde öffnete meine Mutter die Tür und befahl mir, den Eimer im Ausguss in der Garage auszuleeren, damit ich ihr Haus nicht verpestete. Unten spuckte ich über eine Stunde lang Blut. Von all den Strafen, die Mutter sich für mich ausdachte, hasste ich das „Gaskammerspiel“ am meisten.“

Im Mittelpunkt des Buches steht die Familie Pelzer, die zunächst aus Daves Eltern und seinen zwei Brüdern besteht. Später bekommt Dave allerdings noch zwei weitere Geschwister. Aus unerfindlichen Gründen hat Daves Mutter ausgerechnet ihn zum Opfer der Familie erkoren, während seine Brüder von Misshandlungen verschont bleiben. Allerdings unterstützen sie später ihre Mutter sogar bei ihrer Folter! Daves Vater lernt man als einen ziemlichen Schwächling kennen, der es nicht schafft, sich gegen seine Frau durchzusetzen und der es tatenlos mit ansieht, wie sie ihren eigenen Sohn fast zu Tode quält. Beim Lesen habe ich nicht nur auf Daves Mutter einen wahnsinnigen Hass entwickelt, sondern auch auf den Vater, der nicht in der Lage gewesen ist, seinen Sohn zu beschützen oder ihm zu helfen. Daves Mutter erscheint dem Leser als eine grausame, aber auch kreative Person, die Spaß daran zu haben scheint, sich immer neue Qualen auszudenken, die mir persönlich in meinen dunkelsten Albträumen nicht einfielen. Wäre es nicht so grausam, müsste man sie fast bewundern für ihren Einfallsreichtum … Als Leser ist man sprachlos ob der Dinge, die Dave angetan werden, ohne dass ihm irgendjemand zu Hilfe eilt! Hat denn etwa niemand bemerkt, was mit ihm passiert ist?

Die Charakterisierungen bleiben eher im Hintergrund, so erfährt man zwar, dass Daves Mutter regelmäßig trinkt und dann erst recht gewalttätig wird, doch wird an keiner Stelle erklärt, warum sie sich so verändert hat. Auch werden dem Leser viele Hintergrundinformationen vorenthalten, mir ist beispielsweise nicht klar geworden, ab welchem Zeitpunkt die Ehe von Daves Eltern am Kriseln war und ob diese Probleme vielleicht Auslöser für die Misshandlungen gewesen sein könnten.

An dieser Stelle möchte ich auch zum wesentlichen Kritikpunkt am Buch kommen, denn meiner Meinung nach bleibt es zu stark an der Oberfläche. Man erfährt zwar viel über Daves Überlebenskampf, nicht jedoch über seine Gefühle oder Probleme. Dave beschreibt, wie er in der Schule zum Außenseiter wird und auch dort gequält wird, doch wird kaum deutlich, wie verzweifelt er deswegen gewesen sein muss. Nur ganz am Rande schreibt Dave Pelzer, dass er Hass auf seine Brüder entwickelt hat, weil auch sie ihn im Stich gelassen haben, doch wird diese Problematik kaum ausgeführt. Entscheidende Dinge fehlten mir; so beginnt „Sie nannten mich Es“ mit dem Ende, nämlich mit Daves Rettung, doch endet es an einer sehr verzweifelten Stelle, ohne dass dem Leser Erlebnisse aus der Zeit zwischen Ende und Anfang des Buches näher gebracht werden. Wie ist es mit Dave weitergegangen, nachdem das Buch zu Ende war, wie hat er überleben können bis zu seiner Rettung?

Ein ganz wichtiger Aspekt, der völlig fehlt, ist derjenige von Daves Zukunft. Was ist mit ihm geschehen, nachdem er gerettet wurde? Wie hat er seine Probleme bewältigen können? Leidet er noch heute unter den Erlebnissen von damals? Was ist aus Daves Familie geworden? Wurde seine Mutter bestraft? All diese Dinge hätten mich brennend interessiert und wären für mich von entscheidender Wichtigkeit gewesen, doch werden diese Punkte wohl erst in einer Fortsetzung erklärt. Da Pelzer seine Biografie auf drei kurze Bücher verteilt hat, muss man daher dreimal zur Geldbörse greifen, um die gesamte Geschichte zu erfahren. Auf mich macht das den Eindruck, dass Dave Pelzer möglichst gewinnbringend seine Geschichte vermarkten möchte, um aus seiner schrecklichen Kindheit noch den größtmöglichen Gewinn zu ziehen. Mich schreckt dieser Kommerz etwas ab und auch seine Glorifizierung als großer Held, der seinen amerikanischen Traum verwirklicht hat, macht mich eher skeptisch. Vielleicht tue ich ihm damit Unrecht, aber das gesamte Marketing um ihn und seine Person finde ich mehr als merkwürdig.

Für mich macht das Buch zwar auf das Problem Kindesmisshandlung aufmerksam, lässt einen an dieser Stelle aber ziemlich hängen und bietet keinerlei Lösungsansätze. Vielleicht kann man von einem solchen biografischen Buch nicht erwarten, dass es einen Leitfaden ausgibt, nach dem man im Zweifelsfalle verfahren müsste, aber ich hätte mir dennoch ein ergänzendes Kapitel gewünscht, das auf diesen Punkt eingeht. So wäre es für selbst betroffene Leser sicherlich wichtig gewesen zu erfahren, wie Dave es geschafft hat, ein normales (?) Leben zu führen. Auch wäre mir eine Ergänzung interessant erschienen, die mögliche Erkennungszeichen von Kindesmisshandlung nennt und Schritte aufführt, die einzuleiten sind, wenn man solche Beobachtungen macht.

„Mit dem Löffel in der Hand kam Mutter auf mich zu. Als etwas Salmiakgeist vom Löffel auf den Boden tropfte, wich ich vor Mutter zurück, bis ich mit dem Kopf neben dem Herd an die Arbeitsplatte stieß. Ich lachte beinahe in mich hinein. „Das ist alles? Mehr nicht? Alles, was sie tun wird, ist, mich zu zwingen, etwas davon zu schlucken?“, dachte ich. Ich hatte keine Angst, ich war zu müde. […] Ohne zu zögern, öffnete ich den Mund, und Mutter rammte mir den kalten Löffel tief in den Rachen. Wieder dachte ich, dass doch alles noch glimpflich abliefe, aber einen Moment später bekam ich keine Luft mehr. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich stand wankend vor Mutter und hatte das Gefühl, mir würden die Augen aus dem Schädel springen. Ich fiel auf den Boden, auf Hände und Knie. „Atme!“, befahl mein Gehirn. Ich schlug mit aller Kraft auf den Küchenboden ein, versuchte, zugleich zu schlucken und mich auf die Luftblase in meiner Speiseröhre zu konzentrieren. Ich geriet sofort in einen Schockzustand. Tränen der Panik rannen mir über die Wangen. Nach ein paar Sekunden merkte ich, wie die Kraft meiner Fäuste nachließ. Meine Finger krallten sich krampfhaft in den Boden. Alles verschwamm vor meinen Augen. Die Farben schienen ineinander überzugehen. Ich merkte, wie ich wegdriftete. Ich wusste, dass ich sterben würde.“

Aufgrund der genannten Kritikpunkte stehe ich dem Buch etwas skeptisch gegenüber, da die beschriebene Geschichte zwar ihre Leser aufrütteln kann, allerdings zu wenig in die Tiefe geht und keinerlei Lösungshilfen für Betroffene anbietet. Als Leser bekommt man Foltermethoden einer Mutter präsentiert, wie man sie sich in seinen dunkelsten Träumen kaum hätte ausmalen können. Man ist schockiert und fragt sich, warum niemand Dave geholfen hat. Darüber hinaus bleiben allerdings auch Fragen offen, nämlich nach möglichen Methoden zur Problembewältigung, und auch auf Gründe für das Verhalten seiner Mutter geht Pelzer nicht ein. Damit bleibt das Buch für mich auf einer Ebene stecken, wo es nicht helfen kann, obwohl es doch so viel Verzweiflung schildert. Ich hätte mir daher einige Ergänzungen gewünscht, die auf derlei Fragen Antwort geben.

Taschenbuch: 160 Seiten
Erschienen: Mai 2000
www.goldmann-verlag.de