Erle Stanley Gardner – Die seltsame Nixe

gardner mason 37 seltsame nixe cover 1976 kleinDas geschieht:

Rechtsanwalt Perry Mason aus Los Angeles vertritt ein Firmensyndikat gegen den Unternehmer George S. Alder, der einen düsteren Ruf als rücksichtsloser Geschäftsmann besitzt – eine Tatsache, die Mason hofft ausnutzen zu können. Deshalb mietet er sich ein Kanu und rudert in der Nacht hinüber zu einer Insel, auf der Alder sich eine feudale Villa errichten ließ. Aktuell feiert er dort eine Party.

Was immer Mason zu entdecken hoffte wird bedeutungslos, als er eine junge Frau beobachtet, die schwimmend die Insel erreicht, sich ein Abendkleid überstreift, von der Gesellschaft als Gast akzeptiert wird, später dabei erwischt wird, wie sie Arbeitszimmer des Hausherrn durchsucht, mit einer Flasche in der Hand das Weite sucht und ins Wasser zurückspringt. Mason fischt sie auf und lässt sich diese Geschichte erzählen: Dorothy Fenner verdächtigt Alder, der Mörder ihrer Cousine Minerva Danby zu sein, deren Leiche vor sechs Monaten aus dem Meer gezogen wurde. Die Flasche enthält einen Brief, den Minerva an Bord der Jacht „Thayerbelle“ geschrieben und über Bord geworfen hat, als sie – offenbar zu Recht – fürchten musste, von Eigner Alder umgebracht zu werden.

Minerva hatte auf einer Südamerikareise Georges Schwester Corrine entdeckt, die nach dem Ausbruch einer Geisteskrankheit als verschollen galt. Corrine war Miteigentümerin von „Alder Associates“, einer in Familienbesitz befindlichen Firma, die George nach dem Verschwinden der Schwester nach eigenem Gutdünken leiten konnte. Er hatte deshalb kein Interesse an Corrines Wiedererscheinen, beseitigte offenbar die Schwester sowie Minerva als einzige Zeugin. Nun glaubt ihn Dorothy Fenner in der Falle. Doch Alder dreht den Spieß um und lässt sie als angebliche Juwelendiebin verhaften. In ihrer Not bittet Dorothy Mason um Hilfe. Dieser sagt wohl oder übel zu, denn als Alder ermordet aufgefunden wird, muss er fürchten, persönlich in den Fall verwickelt zu werden …

Zum 1ten, zum 2ten, zum 37ten

Erreicht eine Krimi-Serie ihren 37ten Band, ist sie einerseits erfolgreich und andererseits überraschungsarm. Auf die Perry-Mason-Romane von Erle Stanley Gardner trifft beides in besonderem Maße zu. Der scheinbare Widerspruch ist tatsächlich keiner, denn auf neuen Wegen wäre die Mehrheit der Leser dem Autor nicht gefolgt: Dieses Publikum wünschte ausdrücklich die Variation des Bekannten und das darin ruhende Moment der weniger aufregenden als zuverlässigen Unterhaltung!

In diesem Punkt blieb Gardner auch vom Trommelfeuer weniger begeisterter Kritiker ungerührt. Diese listeten die Bausteine des typischen Mason-Krimis auf und wiesen die stetigen Wiederholungen nach. Auch „Die seltsame Nixe“ ist die übliche Wechselfolge kriminalistischer Deduktion und dramatischer Gerichtsauftritte, in denen ein anfänglich unterlegener und scheinbar hoffnungslos in die Enge getriebener Mason das Steuer final herumreißt, das argumentative Gespinst der Gegenpartei zerfetzt und im Triumph die Unschuld eines Angeklagten nachweist, der oder die sich schon in der Todeszelle wähnte.

Der Auftakt gehört zu den erwähnten Variationen, denn er zeigt nicht den Privatdetektiv Paul Drake, der normalerweise für Mason ermittelt, sondern den Anwalt persönlich auf der nächtlichen Suche nach Fakten, die er gegen seinen aktuellen Kontrahenten verwenden kann. Dies ist erforderlich, weil Mason auf diese Weise juristisch in jenes Zwielicht geraten soll, das Autor Gardner dieses Mal als zusätzliches Element der Spannung neben den eigentlichen Kriminalfall setzen möchte.

Ermitteln und streiten

Während die Gerichtsszenen einen Präzisionsgrad und Detailreichtum aufweisen, der den Verfasser als juristischen Insider offenbart, lässt Gardner ansonsten die Zügel gern locker. Schon die Ausgangssituation sollte für Stirnrunzeln sorgen: Ziel des vor allem abenteuerlichen Einbruchs der „Nixe“ Dorothy Fenner ist eine Flaschenpost, die auf hoher See über Bord geworfen wurde und exakt den einen Mann erreicht hat, der den Inhalt des in der Flasche befindlichen Briefes fürchten muss.

Auch sonst geht Gardner lax vor. Das umständlich eingefädelte Komplott erweist sich im Laufe dieser Geschichte als unwichtig, die gesamte Vorgeschichte der dysfunktionalen Alder-Sippe spielt ebenfalls keine echte Rolle. Plötzlich ist George Alder, der Hauptverdächtige, tot, und Mason verteidigt ganz simpel eine Frau, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Genau das weist er auf seine unnachahmliche Weise nach – als „courtroom drama“, das nicht nur das US-Publikum als Kampf zwischen David und Goliath liebt, obwohl es Anwälten ansonsten misstrauisch gegenübersteht.

Doch Mason ist ein Verteidiger, der den Schwachen hilft, die sonst durch Justizias Mühlen gedreht, von ehrgeizigen aber gefühlskalten Staatsanwälten angeklagt und verurteilt würden, um im Gefängnis zu versauern oder hingerichtet zu werden. Damit nimmt er automatisch für sich ein, denn Gardner sorgt dafür, dass nur Pechvögel Masons Klienten werden, während echte Strolche zuverlässig bekommen, was sie verdienen. Dabei ist es kein Hindernis, wenn sich besagte Klienten als schwierige Zeitgenossen entpuppen, die zielstrebig das Falsche tun, lügen oder sich als Trottel erweisen: Auf Dorothy Fenner trifft alles zu, weshalb die sich einleitend so selbstständig wie verführerisch gebende Frau dem Leser zunehmend unsympathischer wird. Für die Geschichte, wie Gardner sie erzählt, ist Dorothy Fenner da freilich unwichtig geworden; sie wird im eigentlichen Finale nicht einmal erwähnt.

Profis unter sich

Perry Mason ist ein Mann mit dem Gemüt einer Teflonpfanne: An ihm gleiten Gefühle spurlos ab. Mason ist im Grunde nur lebendig, wenn er vor den Schranken eines Gerichtes mit Richtern, Gegner-Anwälten und widerspenstigen Zeugen rauft. Als Dorothy Fenner nicht nur andeutet, dass sie sich als Frau für Mason interessiert, lässt dieser sie nicht eiskalt sondern glaubhaft gleichgültig abblitzen. Schon vorher hat Mason sie so charakterisiert: „Dorothy Fenner ist ein braves, kleines Mädchen, das sich an meine Anweisungen hält.“ Ein Feminist ist Mason somit nicht, und es ist kein Wunder, dass Dorothy keine amourösen Gefühle ihn ihm aufwallen lässt. Sollte er sie besitzen, beschränken sie sich ohnehin auf Sekretärin Della Street, die möglicherweise in seinem Büroschrank wohnt, um stets zur Stelle zu sein, wenn der Meister ihre Dienste verlangt: Das womöglich nach Feierabend ehelos geteilte Bett musste dauerhaft unerwähnt bleiben, um die Geschäftstauglichkeit des Produktes „Perry Mason“ nicht zu beeinträchtigen.

Das glatte Profil war notwendig für einen Serienhelden, der mindestens zweimal jährlich mit einem neuen Abenteuer auf dem Buchmarkt präsent sein sollte. Weil Gardner darüber hinaus Non-Mason-Romane produzierte, hatte er keine Zeit für Ecken & Kanten oder eine ausführliche Biografie. Perry Mason, Della Street, Paul Drake, dazu einige öfter auftretende Polizeibeamte und Juristen: Sie standen bereit für den nächsten Einsatz, ohne mit den Erinnerungen und Erfahrungen früherer Fälle belastet zu sein. Auf diese Weise schrieb bzw. diktierte Gardner 82 Mason-Krimis, ohne dass deren Beliebtheit nachließ. Nur sein Tod stoppte die Serie.

Erstaunlicherweise funktionieren diese schablonenhaften Geschichten gut. Die altmodische Mason-Welt hat sich nostalgisch verklärt, die unerfreulichen Chauvinismen und latenten Rassismen lassen sich zeitgenössisch erklären, ignorieren sowie problemlos auch in der ‚großen‘ Literatur dieser Jahre finden. Gardner weiß zudem, wie man ein Garn spinnt. Er hat sein Handwerk – und genau das ist es – von der Pike auf gelernt, als er vor dem Zweiten Weltkrieg Storys für die „Pulp“-Magazine weniger verfasste als manisch absonderte. Fleiß und Arbeitsökonomie sind die schlichten Geheimnisse eines Erfolges, der bis in die 1980er Jahre dafür sorgte, dass Gardners zahlreiche Werke auch in Deutschland beinahe vollständig erschienen und ständig nachgedruckt wurden.

„Die seltsame Nixe“ im Fernsehen

Durch die Baukastenstruktur der Romane und die Limitierung der Figurenzeichnungen war Perry Mason quasi geschaffen für das (US-) Fernsehen, das überdies strenge Zensurvorgabe erfüllen musste. Sex blieb generell außen vor, Gewalt war weniger ein Problem und blieb in diesem Fall ohnehin moderat. 1957 übernahm Raymond Burr (1917-1993) die Rolle seines Lebens. „The Case of the Negligent Nymph” wurde bereits im Dezember 1957 in der ersten Staffel als Episode 12 ausgestrahlt. „Perry Mason“ brachte es auf insgesamt neun Jahre Laufzeit und 271 Folgen. Ebenfalls mit Burr entstanden zwischen 1985 und 1993 weitere 26 Episoden in Spielfilmlänge.

Autor

Erle Stanley Gardner wurde am 17. Juli 1889 in Malden, Massachusetts geboren. 1909 begann er ein Jurastudium. Dass er kein Bücherwurm war, belegt u. a. die Tatsache, dass ihn die Valparaiso University im US-Staat Indiana wegen einer Schlägerei hinauswarf. Gardner liebte den sportlichen Kampf; er boxte und arrangierte illegale Ringkämpfe.

1910 eröffnete er seine erste eigene Kanzlei in Kalifornien. Das Geschäft ging schlecht, sodass Gardner auch als Handlungsreisender arbeitete. Außerdem entdeckte er die „Pulps“, billige Magazine, die in den 1920er Jahren aufkamen Gardner verfasste unter Pseudonymen wie A. A. Fair, Carleton Kendrake oder Charles J. Kenny eine Flut von Stories. Jeden dritten Tag trug er eine neue Geschichte zur Post, zwischen 1921 und 1933 schrieb er durchschnittlich eine Million Wörter pro Jahr; kein Wunder, dass er sich ein Diktaphon zulegte, seine Geschichten nunmehr diktierte und abtippen ließ.

1933 verfasste Gardner seinen ersten Roman, der gleichzeitig das Debüt des Anwalts Perry Mason wurde. „The Case of the Velvet Claws“ bildete den Auftakt einer insgesamt 82-teiligen Serie, die bis 1973 lief. Trotzdem war Gardner ständig in Geldnöten. Deshalb reaktivierte er 1939 das Pseudonym A. A. Fair und erfand das ungleiche Detektivpaar Bertha Cool und Donald Lam, die bis 1970 29 ebenfalls sehr beliebte Abenteuer erlebten. Außerdem verfasste er neun Folgen einer weiteren Serie.

Als Jurist blieb Gardner weiterhin aktiv. 1948 gründete er den „Court of Last Resort“, der Personen unterstützte, die womöglich einem Justizirrtum zum Opfer gefallen waren. Tatsächlich verhalf diese Einrichtung einer ganzen Reihe von Unglücklichen zu Freisprüchen. Hoch geehrt und von seinen Fans weiterhin treu gelesen verstarb Erle Stanley Gardner – bis zuletzt fleißig diktierend – am 11. März 1970 auf seiner Farm in Temecula in Kalifornien.

Taschenbuch: 173 Seiten
Originaltitel: The Case of the Negligent Nymph (New York : William Morrow & Co. 1950)
Übersetzung: Gottfried Beutel

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