Ian Watson – Feuerwurm

Ein Psychologe gerät an einen Patienten, dessen Albträume von einer seltsamen Kreatur sich als erstaunlich und erschreckend handfest erweisen … – Geschickt in der Grauzone zwischen Fiktion und Realität siedelt der Verfasser eine seltsame, den Leser lange im Ungewissen lassende Geschichte an, die durch ihre überraschende Auflösung zusätzlich gefällt; kein leichter Stoff, aber eine interessante Lektüre.

Das geschieht:

John Cunningham führt ein zurückgezogenes Leben ohne Aufregungen. Unter einem Pseudonym schreibt er erfolgreiche Horrorromane, die ihm Ruhm und Geld bringen. Hauptberuflich arbeitet Cunningham als Psychologe. Er hat sich auf die bei seinen Patienten sehr beliebte „Reinkarnationstherapie“ spezialisiert. Unter Hypnose meinen sich diese an frühere Leben zu erinnern. Cunningham selbst glaubt nicht an die Wiedergeburt. Die scheinbar erinnerten Leben hält er aus wissenschaftlicher Sicht für Einbildung, aber sie geben ihm Aufschluss über tatsächliche psychische Störungen, die auf diese Weise maskiert und ausgelebt werden.

Der junge Tony Smith passt gut ins Spektrum dieser Patienten. Seit einiger Zeit plagen ihn Albträume. Sehr plastisch erlebt er im Schlaf, wie ein Schuljunge namens Ted Appleby 1955 in einem kleinen Küstenstädtchen namens Tynemouth von einem grotesken Ungeheuer verfolgt wird. Der alchimistische Salamander oder Feuerwurm, ein Elementarwesen aus der Urzeit der Welt, geboren in der Glut des Erdinneren, haust in einer Felsenhöhle am Wasser. Halb schläft, halb wacht es, und es verfügt über enorme suggestive Kräfte. In gewissen Abständen zwingt es unglückliche Menschen in seinen Bann, die es als Wirtskörper für seinen Nachwuchs missbraucht. Ted ist eines dieser Opfer.

Cunninghams Recherchen ergeben, dass Tynemouth existiert. Es gibt auch die besagte Höhle. Der Psychiater findet heraus, dass sich hier schon vor 1955 seltsame Dinge ereigneten. Seit Jahrhunderten treibt der Feuerwurm sein Unwesen und zieht, gierig und geschickt gleichzeitig, eine Spur des Verderbens durch die Zeit. Immer tiefer dringt Cunningham in die Vergangenheit vor und stößt schließlich auf die Erkenntnis, dass es der Mensch ist, der sich selbst die schrecklichsten Monster schafft …

Alt, aber weder schwach oder gar tot

Freilich wird der Feuerwurm nicht erschaffen, sondern ‚nur‘ geweckt. Weil dabei etwas schrecklich schief geht, mutiert die an sich schon bemerkenswerte Kreatur zu einem wahrlich schauerlichen Ungetüm. Dass es so furchterregend geratend ist, verdanken wir der Kunst seines geistigen Vaters. Ian Watson bedient sich des alten, bei richtiger Anwendung immer wirksamen Tricks, sein Ungeheuer nur sporadisch auftreten zu lassen und seine Taten höchstens im Ansatz zu erklären. Deshalb wirkt es fremd und bleibt unheimlich, während Watson vermutlich hofft, dass sich nur wenige Leser beispielsweise fragen, wieso der Feuerwurm eigentlich nach menschlichen Brutkörpern sucht: Es gibt und gab ganz offensichtlich immer nur einen Feuerwurm.

Der ist ein Gast aus dem Reich des Übernatürlichen und unterscheidet sich angenehm von den ewigen Vampiren, Zombies und Zwischenfällen aus dem Genlabor, mit denen Reißbrett-Literaten ihr Publikum langweilen. Sehr schön ist auch der Einfall, die Geschichte des Feuerwurms und die Geschichte der kleinen Stadt Tynemouth parallel zu erzählen. Realität mischt sich dabei immer wieder mit Volksüberlieferung und halb vergessenen Gerüchten.

Monster im Rückblick

Der Salamander, der doch in seiner Höhle festsitzt, hat in den sieben Jahrhunderten seiner Existenz die Geschicke der Bürger von Tynemouth mehr oder weniger subtil beeinflusst und zum Teil gesteuert. Es macht Spaß zu lesen, wie Verfasser Watson drei Stationen dieses Weges rekonstruiert. Wir lernen den Feuerwurm in den Jahren 1955, 1843/44 und 1314 kennen. Watson entwickelt seine Geschichte gegen die Chronologie; eine schriftstellerische Herausforderung, die den Reiz der Lektüre erhöht, weil der Leser die komplexe Feuerwurm-Chronik immer weiter auf ihren überraschenden Beginn zurückverfolgen kann.

Allerdings kann nur die letzte (oder zeitlich erste) Episode im Rahmen der Handlung wirklich überzeugen. Watson versucht insgesamt zu viel. „Feuerwurm“ ist ein literarisches Spiel mit der Angst im Gewand des Historienhorror-Romans. Viel Mühe hat sich der Verfasser mit dem Lokalkolorit gegeben. Die 1950er Jahre nehmen miefig Gestalt an, der Ausflug ins 19. Jahrhundert ist gleichzeitig das Porträt einer klugen und freimütigen Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist. Das liest sich interessant. Nur haben diese Geschehnisse nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun. Die wird wie nebenbei hastig eingeflochten. Erst die Mittelalter-Episode stellt sich voll und ganz in den Dienst der Feuerwurm-Story.

Die Angst als Wurm

Watson schrieb „Feuerwurm“ 1988. Der ‚gegenwärtige‘ Handlungsstrang greift die zeitgenössische Angst vor der noch nicht lange bekannten und wenig erforschten AIDS-Seuche auf, als deren Inkarnation der Wurm mindestens ebenso mühelos auftritt wie als Schreckgespenst der Vorfahren. Der Autor zeichnet das Bild einer Welt, die vor einer geradezu apokalyptischen Katastrophe zu stehen scheint. Obwohl AIDS der Menschheit als Geißel erhalten blieb, ist der Untergang ausgeblieben. Watsons kunstvoll chiffrierte, aber durchaus auch tiradenhafte Beschwörung wirkt heute vor allem dokumentarisch.

„Feuerwurm“ hat wenig mit dem plakativen Bettlaken-Horror zu tun, der die Bestseller-Listen dominiert. Watson macht es seinen Lesern nicht einfach. Immer wieder verunsichert sie, stellt die Handlung in Frage. Gibt es John Cunningham wirklich? Oder ist er nur das Hirngespinst des Schriftstellers Jack Cannon, der gerade einen Roman mit dem Titel „Feuerwurm“ schreibt? Was ist Realität, was Wahnvorstellung? In einem den Action-Fan sicherlich schwer enttäuschenden Finale findet Watson zu einer originellen, aber unspektakulären Auflösung. Was man letztendlich aus dieser Geschichte herauslesen möchte, überlässt der Verfasser dem Leser – eine Herausforderung, der sich nicht jede/r stellen mag.

Autor

Ian Watson wurde am 20. April 1943 in St. Albans, einer Stadt in Südengland, geboren. Er studierte Englische Literatur und arbeitete ab 1967 als Dozent an verschiedenen Universitäten außerhalb Europas. Seit 1970 lehrte Watson in Oxford.

Ein erster Roman („The Embedding“, dt. „Das Babel-Syndrom“) erschien 1975, dem schon im folgenden Jahr der gleichermaßen erfolgreiche „The Jonah Kit“ (dt. „Der programmierte Wal“) folgte. Watson wurde hauptberuflicher Schriftsteller. Sein Werk fällt hauptsächlich in die Sparte Science Fiction, wobei sich Watson auf die psychologische Seite möglicher Zukünfte konzentriert. Wie sieht der Mensch die Welt. Wie ist ihre wahre Gestalt? Wie kommuniziert man mit jemandem, dessen Weltsicht sich fundamental von der unseren unterscheidet?

Für Stanley Kubrick und einen nie realisierten Film arbeitete Watson die Kurzgeschichte „Super-Toys Last All Summer Long“ von Brian Aldiss zu einem Drehbuch um; es wurde 2001 von Steven Spielbergs unter dem Titel „A. I. – Künstliche Intelligenz“ verfilmt. 1993 veröffentlichte Watson das umfangreiche „Book of Mana“, das auf dem 1835 erstmals erschienenen finnischen Nationalepos „Kalevala“ basiert. Die Geldbörse füllt Verbrauchs-Phantastik für das „Warhammer-40000“-Franchise.

Gebunden: 221 Seiten
Originaltitel: The Fire Worm (London : Victor Gollancz 1988)
Übersetzt von Michael Plogmann

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