Acht Leichen sind der Anfang. Es ist tiefe Nacht, als man die toten Körper am Ufer des Huangpu Jiang entdeckt. Ein groteskes, schreckliches Bild: Die Toten sind aufs Ärgste verstümmelt und gleichzeitig mit Eisenketten aneinander gefesselt. Ein unwirkliches Rad der Brutalität. Sun Piao, Hauptkommissar bei der Mordkommission von Shanghai, übernimmt den Fall. Und bereits am Tatort kündigt sich an, dass hier etwas unter der Oberfläche gärt, was nicht ans Licht kommen soll.
Zuerst ist es nur der Polizeipathologe, der sich weigert, die Toten zu untersuchen und auch Sun dazu rät, von der Sache abzulassen. Als dann auch noch einige hohe Kader am Ufer des Huangpu auftauchen und sich in die Ermittlungen einmischen, wittert Piao großen Ärger auf sich zukommen. Doch diesmal wird er nicht nach den Vorgaben des Systems handeln. Diesmal wird er sich nicht unterordnen und einfach abnicken, was seine Vorgesetzten ihm diktieren. Er ist fest entschlossen, die Hintergründe der Tat ans Licht zu zerren und in der korrupten, verkorksten Welt Shanghais ein einziges Mal für Gerechtigkeit zu sorgen. Zusammen mit seinem Kollegen Yaobang beginnt er auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen.
Doch schnell wird klar, dass hier äußerst einflussreiche Kräfte gegen die beiden Ermittler der Mordkommission stehen. Niemand will sich mit den Leichen abgeben, von keiner Seite kommt Unterstützung, die dem Fall auch nur im Entferntesten angemessen wäre. Lediglich die amerikanische Regierungsbeamtin Barbara Hayes scheint an der Lösung des Falls interessiert. Der Grund: Ihr Sohn ist einer der Toten. Allmählich entsteht vor den Augen des ungleichen Dreier-Gespanns ein grobes Bild – doch ergeben sich daraus am Ende immer nur neue Fragen. Was hatten die fünf Kriminellen, der amerikanische Student, der Archäologieprofessor und die schwangere Unbekannte gemeinsam, vom kalten Tod im Huangpu einmal abgesehen?
Für langes Grübeln bleibt wenig Zeit, denn schon bald müssen Hayes, Piao und Yaobang erkennen, dass sie durch ihre Nachforschungen sich und ihre Mitmenschen in größte Gefahr bringen. Die Zahl der Toten wächst, je tiefer sie graben. Dunkle Mächte stellen sich ihnen versteckt hinter Masken in den Weg – Schweigen und Tod sollen den Huangpu-Vorfall ins Vergessen führen …
Andy Oakes, geboren 1952, hielt sich einst im Zusammenhang mit geheimen Rüstungsprojekten für zwei Jahre in China auf. Er lernte hier neben Regierungsvertretern vor allem auch das lebendige Alltagsleben der Millionenmetropole Shanghai kennen. Später arbeitete er als Fotograf und Geschäftsführer einer Franchise-Firma, heute ist er Jugendberater und lebt in East Sussex. „Drachenaugen“ ist sein erster Roman und wurde ein voller Erfolg. Lobende Kritiken und ausgezeichnet mit dem |European Crime and Mystery Award| der SNCF, aber vor allem ein gelungenes wie fesselndes Machwerk.
Oakes erzählt eine Geschichte von Mut und Trotz gegen große Widerstände. Eine Geschichte vom Menschen, der versucht, sich einen letzten Rest von Eigensinnigkeit, Freiheit und Stolz zu wahren. Shanghai bietet hierfür ein ideales Bühnenbild, ein facettenreicher Ort der Gegensätze, Licht, Schatten, Trauer. In einer Welt, die abweichende Verhaltensweisen rigoros zu ahnden scheint, versuchen die Protagonisten Piao und Yaobang, den Kopf über Wasser zu halten und ein Stück weit gegen den Strom anzuschwimmen. Kein einfaches Dasein, das merken die Charaktere, vor allem aber merkt dies der Leser schnell.
Oakes schildert die Misslichkeiten des Lebens in einer sehr poetisch-metaphorischen Art und Weise, die den Leser stundenlang an das Buch zu fesseln vermag. Man wähnt sich bald selbst auf den regennassen Straßen Shanghais, zwischen Imbissbuden und Wolkenkratzern, zwischen Verfall und einem kleinen Rest Hoffnung.
„Drachenaugen“ ist keine leichte Kost; Oakes präsentiert ein dunkles, verwaschenes Gemälde, welches wenig Rücksicht auf seine Figuren nimmt. Trotzdem wohnt dem dunklen, grauen Schreibstil ein starkes Faszinationsmoment inne. Der Plot selbst wartet mit einigen Überraschungen auf – auch wenn man zum Ende hin den Eindruck gewinnt, der Autor spränge etwas zwanghaft vom Hundertsten ins Tausendste. Hier fühlt man sich als Leser ein wenig überrumpelt und leicht verloren zwischen den verschiedenen Machenschaften der Gegenseite. Von Schreibstil und kreierter Atmosphäre her ist „Drachenaugen“ jedoch definitiv zu empfehlen.
Taschenbuch: 520 Seiten
www.dtv.de
Michel Bernhardt
Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins X-Zine veröffentlicht.