David Pirie – Die Augen der Heather Grace

Bevor Schriftsteller Arthur Conan Doyle durch Sherlock Holmes & Dr. Watson zu Ruhm und Reichtum kam, war er als junger Mediziner Assistent des Dozenten und Ermittlers Dr. Joseph Bell, mit dem er einige mysteriöse Kriminalfälle löste … – Aus seinen Drehbüchern für eine TV-Mini-Serie destillierte Autor Pirie drei Romane, in denen er historische Realität geschickt, kundig und unterhaltsam mit dem Holmes-Mythos verknüpft: Schon Band 1 bietet stimmungsstarke Historienkrimi-Spannung.

Das geschieht:

1878 ist Arthur Conan Doyle noch nicht der berühmte Schriftsteller, sondern studiert Medizin an der Universität zu Edinburgh. Unter seinen Dozenten ist Dr. Joseph Bell, der wegen seiner Fachkenntnisse gerühmt wird. Weniger bekannt ist Bells Beratertätigkeit für die Polizei, die schwierige Fälle aufgrund mangelhafter Ermittlungsgrundlagen eher durch Raten oder falsche Schuldzuweisungen zu ‚lösen‘ pflegt. Bells Ansatz ist für die Zeit revolutionär: Er sammelt Indizien, fügt sie zusammen und wertet sie aus. Seine Kombinationsgabe und seine Schlussfolgerungen wirken auf die Zeitgenossen oft wie Zauberei – und sie erregen Misstrauen.

Auch Doyle ist lange skeptisch. Dennoch ernennt ihn Bell zu seinem Assistenten und versucht, Doyle von der „Methode“ zu überzeugen. Dem jungen und gefühlsbetont denkenden und handelnden Schotten fällt dies nicht leicht. Doch Doyle erinnert sich seines Mentors, als er 1882 eine erste Stelle als Arzt in einer Kleinstadt der englischen Grafschaft Hampshire antritt. Unter seinen wenigen Patienten ist Heather Grace, eine junge Frau mit tragischer Familiengeschichte: Ihre Eltern wurden grausam ermordet, was nicht ohne psychische Folgen blieb. Schon einmal musste Heather in einem Sanatorium behandelt werden. Labil ist sie geblieben, was zum Problem wird, als sie erneut unter Druck gerät: Ein Onkel und Verwalter sowie Nutznießer ihres beträchtlichen Erbes würde sie gern wieder einliefern lassen, ein örtlicher Lehrer drängt sie zur Ehe. Außerdem fühlt sich Heather von einem unheimlichen Wesen verfolgt, in dem sie den (längst hingerichteten) Mörder ihrer Eltern zu erkennen glaubt.

Doyle will helfen, stößt aber an seine Grenzen. Er bittet deshalb Bell um Hilfe. Dieser reist tatsächlich umgehend an, denn der Fall Heather Grace hat sein Interesse erregt. Dass Bell richtig mit der Vermutung eines Verbrechens liegt, wird durch mehrere brutale Morde bestätigt. Dennoch ist das wahre Geschehen so grotesk, das auch Bell überrascht und zu spät reagiert, als Heather plötzlich verschwindet …

Gab es einen wahren Sherlock Holmes?

Auf dieser Welt geschieht wenig ohne Vorgeschichte. Zumindest die Werke großer Künstler besitzen Wurzeln, die von Kritikern und Biografen eifrig ausgegraben werden, um deren Intentionen zu erkennen. Wie man „groß“ definiert, ist dabei natürlich eine Ermessensfrage. Vielen Literaturkritikern gilt Arthur Conan Doyle (1859-1930) nicht als Künstler, sondern als Meister der Unterhaltung, die er als ausgezeichneter Handwerker ausübte. Dabei war ihm neben dem entsprechenden Talent das Glück hold: Doyle gelang die Schöpfung eines Figur-Duos, dessen abenteuerliche Erlebnisse genau jene Saiten berührten, die nicht nur den Geist seiner Zeitgenossen zum Mitschwingen brachte, sondern sie auch ihre Geldbörsen öffnen ließ.

Sherlock Holmes und Dr. John Watson tauchten 1887 erstmals im Roman „A Study in Scarlet“ (dt. „Studie in Scharlachrot“) auf. An dieser Stelle soll auf ihre bis heute unverminderte Präsenz und Allgegenwart in sämtlichen Medien nicht eingegangen werden; dies erübrigt sich angesichts einer Prominenz, die ihren Kultstatus nicht behaupten muss.

Natürlich ist Arthur Conan Doyle als Schöpfer von Holmes & Watson ebenfalls ins Zentrum des Interesses gerückt. Dies geschah bereits zu seinen Lebzeiten und lange nicht zu seiner Freude. Doyle zählte seine Kriminalgeschichten keineswegs zu seinem Hauptwerk. Holmes & Watson brachten Geld in seine Kasse, mit dem er sich ein angenehmes Leben finanzierte und das ihm den Spielraum für Aktivitäten verschaffte, die ihm wirklich wichtig waren. Im Alter wurde Doyle milder. Bereitwillig beantwortete er die Fragen der Holmes-Aficionados, unter denen eine naturgemäß stets auftauchte: Gab es ein Vorbild für den Meisterdetektiv, der nicht aus dem Kaffeesatz aber aus kleinsten Hinweisen noch das komplizierteste Verbrechen zu rekonstruieren wusste?

Die Kunst imitiert (und erhöht) das Leben

Doyle hatte in der Tat jemanden im Sinn, auch wenn Sherlock Holmes letztlich eine Kunstfigur blieb, während das Vorbild zwangsläufig in seinem Schatten verharren musste: Kein realer Mensch kann es mit einem Sherlock Holmes aufnehmen. Das schließt Dr. Joseph Bell (1837-1911) ein, zumal dieser anders als von David Pirie behauptet niemals geheim ermittelte, sondern primär jene, die seine ‚Tricks‘ bewunderten, dazu veranlassen wollte, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Dieser fromme Wunsch richtete sich verständlicherweise an Bells Studenten am Royal Infirmary in Edinburgh. Zu ihnen gesellte sich 1877 der junge Arthur Conan Doyle, der – hier bleibt Pirie der Realität treu – ein Jahr später tatsächlich Bells Assistent wurde.

Nicht nur Doyle, sondern zumindest Bells denkfähige und dem Neuen aufgeschlossene Zeitgenossen erkannten die Vorteile seiner Methoden, die deshalb die Grenzen der Medizin sprengten und über die Forensik auch Polizei und Justiz erreichten, wo man erkannte, dass Übeltäter nicht nur in flagranti ertappt werden mussten, sondern Verdächtige auch nachträglich durch Indizien entlarvt – oder entlastet – werden konnten. Dabei waren stark ausgeprägte Vorbehalte zu überwinden; ein Prozess, den Pirie in seine Roman-Trilogie einfließen lässt. Bell und Doyle ermitteln auch deshalb anonym – und daher von der Geschichtsschreibung scheinbar unbemerkt -, weil sie auf ihren Ruf achten müssen: Honorige Mediziner und Dozenten tummeln sich nicht in jenen Niederungen, in denen als lästige Übel betrachtete Polizeibeamte – keine Gentlemen – sich die Finger schmutzig machen.

Pirie legt die Latte noch einmal ein Stück höher, wenn er Doyle zwar als Bells Chronisten agieren lässt, ihn aber keineswegs zum zweiten Dr. Watson formt. Dieser Doyle ist nicht nur skeptisch, sondern auch aufbrausend und beratungsresistent. Bell dient ebenfalls nicht als deckungsgleiche Blaupause für Sherlock Holmes, obwohl es natürlich Parallelen gibt: Bell knausert mit Informationen, oft schließt er Doyle aus seinen Ermittlungen aus. Dagegen lässt er seinem Assistenten mehr Spielraum. Doyle ist aktiver als Watson, weshalb seine Irrtümer und Fehlschlüsse kapitaler und folgenschwerer ausfallen.

Der mühsame Weg zur Erkenntnis

Die Bände der Bell-&-Doyle-Trilogie sind keine ‚normalen‘ Historienkrimis. Es gibt mehrfache Zeitsprünge, und Pirie scheut nicht vor Erinnerungen an Ereignisse zurück, die in diesem ersten Roman nur angesprochen aber (noch) nicht erzählt werden. Bis der Fall Heather Grace ins Zentrum des Geschehens rückt, vergehen viele Seiten, auf denen Doyle von der komplizierten Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Bell berichtet. Dabei springt er erneut in der Chronologie und wirft Fragen auf, die absichtlich unbeantwortet bleiben bzw. deren Klärung auf spätere Bände verschoben wird. Es dauert eine Weile, bis der Leser sich an diese unruhige Struktur gewöhnt hat. Ähnlich schwierig ist es, mit den beiden Hauptfiguren warm zu werden. Weder Bell noch Doyle werden uns sympathisch. Zwar zeigt Bell wie Holmes im Verlauf der Handlung menschliche Schwächen, aber ihm fehlt das gewisse Etwas, wobei offen bleibt, ob dies vom Verfasser beabsichtigt ist.

Auch Doyle wächst uns nicht ans Herz. In seinem Fall ist freilich klar, dass dies zu einem Reifeprozess gehört, dem Pirie seine Figur unterwirft. In einer Rahmenhandlung, die zwei Jahrzehnte nach dem Fall Heather Grace spielt, erinnert sich ein älterer und auch durch böse Erfahrungen klüger gewordener Doyle an seine Jugendjahre. Hier profitiert Pirie von einer Offenheit, die der reale Doyle nie gewagt hätte. Nicht grundlos ermittelte Holmes nie gegen Jack the Ripper, obwohl dieser ein ‚Zeitgenosse‘ war: Perversionen dieses Kalibers hatten in der akzeptablen Unterhaltung der spätviktorianischen Epoche keine Daseinsberechtigung. Höchstens die schamfreie Sensationspresse bediente die niederen Triebe ihrer ebenso niederen (aber zahlenden) Leser. Im 21. Jahrhundert müssen solche Rücksichten nicht mehr genommen bzw. Scheinheiligkeiten nicht mehr gewahrt bleiben. Die Auflösung des Falls Heather Grace ist deshalb ‚modern‘ – so modern, dass Bell über eine Erweiterung seiner kriminalistischen Forschungen nachdenkt: „… es muss da eine Möglichkeit geben … die Methode genauso streng auf den Charakter eines Menschen anzuwenden wie auf forensische Einzelheiten. Lassen Sie mich darüber nachdenken.“ (S. 329) Diese Arbeit musste Bell nicht allein leisten: Auf dem europäischen Kontinent begann in den 1880er Jahren Sigmund Freud seine Arbeit.

„Die Augen der Heather Grace“ endet mit einem ebenfalls der TV-Vorlage entnommenen Epilog, der bereits den zweiten Band vorbereitet. Dank der Spannung dieses Auftaktbandes, die einhergeht mit dem vollständigen Verzicht auf jene Rührseligkeit, die viele Autoren von Historienromanen mit Emotionalität gleichsetzen, dürfte Piries Rechnung aufgehen.

Doyle & Bell im Fernsehen

1999/2000 entstand für die BBC die fünfteilige TV-Serie „Murder Rooms: Mysteries of the Real Sherlock Holmes“. David Pirie schrieb die Drehbücher, Ian Richardson (1934–2007) spielte Dr. Bell, während Doyle-Darsteller Robin Laing ab Episode 2 durch Charles Edwards ersetzt wurde. Obwohl sowohl Kritiker als auch Zuschauer angetan waren, wurde die Produktion eingestellt. Pirie ‚recycelte‘ seine Drehbücher und veröffentlichte 2001, 2002 und 2004 drei Romane um Bell & Doyle, die viele ‚filmische‘ Züge übernahmen. 2005 thematisierte er für den TV-Film „The Strange Case of Sherlock Holmes & Arthur Conan Doyle“ noch einmal die Geschichte von Bell (Brian Cox) und Doyle (Douglas Henshall) als Inspirationsquelle für Sherlock Holmes und Dr. Watson.

Autor

David Pirie wurde am 16. Dezember 1953 in Garston, einem Stadtteil von Liverpool in Mittelengland, geboren. Schon in jungen Jahren war er als Filmkritiker und -kenner bekannt. Bereits 1973 erschien ein erstes Buch. In „A Heritage of Horror: The English Gothic Cinema 1946–1972“ analysierte er den britischen Horrorfilm nach dem Zweiten Weltkrieg und schuf ein Standardwerk, das er 2008 überarbeitet und ergänzt neu veröffentlichte. Ebenfalls bekannt und berühmt wurden Piries „The Vampire Cinema“ (1975; dt. „Vampir-Filmkult“) oder das von ihm herausgegebene Sammelwerk „Anatomy of the Movies“ (1981)

Seit den 1980er Jahren gehört Pirie zu Englands besten Drehbuchautoren. Vor allem seine oft ‚schwarzen‘ Mystery-Thriller wurden für das Fernsehen verfilmt. Mehrfach betreute Pirie erfolgreiche Mini-Serien wie „Never Come Back“ (1990), „Natural Lies“ (1992) oder „Murderland“ (2009). Zudem lieferte er Drehbücher für Serien wie „Agatha Christie‘s Poirot“ und „Lewis“. Ungenannt arbeitete Pirie 1996 am Drehbuch zum Lars-von-Trier Klassiker „Breaking the Waves“ mit.

Pirie schreibt nicht nur Sach- und Drehbücher, sondern auch Romane. Unter ihnen ragen drei zwischen 2001 und 2004 erschienene Bände heraus, die nach der TV-Serie „Murder Rooms: Mysteries of the Real Sherlock Holmes“ (2000/01) entstanden und die fiktiven Ermittlungsabenteuer des realen Figurengespanns Arthur Conan Doyle und Joseph Bell beschreiben.

Die „Arthur-Conan-Doyle-&-Dr.-Bell“-Romane erscheinen in der Verlagsgruppe Lübbe:

(2001) Die Augen der Heather Grace (The Patient’s Eyes) – BAR 16974
(2002) Die Zeichen der Furcht (The Night Calls) – BAR 17150
(2004) Die Hexe von Dunwich (The Dark Water) – BAR 17243

Taschenbuch: 333 Seiten
Originaltitel: The Patient’s Eyes (London : Century 2001/New York : St. Martin’s Minotaur 2002)
Übersetzt von Michael Ross
www.luebbe
www.murder-rooms.com

eBook: 2847 KB
ISBN-13: 978-3-8387-5368-3
www.luebbe

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