Maj Sjöwall & Per Wahlöö – Endstation für neun (Kommissar Beck 4)

Massenmord in Stockholm – ein Terroranschlag?

In Stockholm ist ein Bus kurz vor der Endstation gegen einen Zaun geprallt. Doch der Busfahrer und seine acht Insassen waren schon vorher tot. Ihre Körper sind durch die Schüsse eines Maschinengewehrs bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nur bei einem Opfer kann die Identität sofort geklärt werden: Es ist der junge Kriminalbeamte Åke Stenström. War Stenström der Lösung eines alten, längst zu den Akten gelegten Falls zu nahe gekommen? Und wenn ja, um welchen Fall handelt es sich?

Dies ist der vierte Band der verfilmten Serie um den schwedischen Kommissar Martin Beck.…

Die Autoren

Maj Sjöwall und Per Wahlöö begründeten das heute so erfolgreiche Genre des Schwedenkrimis, als sie in den sechziger und siebziger Jahren ihren Kommissar Martin Beck in sozialen Problemzonen und in der hohen Politik ermitteln ließen. Alle diese Romane wurden erfolgreich verfilmt.

Per Wahlöö

Per Wahlöö, 1926 in Schweden geboren, machte nach dem Studium der Geschichte als Journalist Karriere. Seit 1946 arbeitete er als Polizeireporter. In den Fünfzigerjahren ging er nach Spanien, wurde 1956 vom Franco-Regime ausgewiesen und ließ sich nach längeren reisen, die ihn um die halbe Welt führten, in Schweden nieder und begann Bücher zu schreiben. Zusammen mit seiner Frau, Maj Sjöwall, schrieb er einen Zyklus von zehn Kriminalromanen, die zu Welterfolgen wurden. Er ist 1975 gestorben.

Maj Sjöwall

Maj Sjöwall, 1935 in Schweden geboren, studierte Journalistik und Grafik-Design. Sie und ihr späterer Ehemann Wahlöö lernten sich kennen, als sie gemeinsam für dieselben Magazine arbeiteten. Sie heirateten 1962 und arbeiteten an ihren Kriminalromanen, nachdem sie ihre beiden Kinder zu Bett gebracht hatten. Nach dem Tod ihres Mannes schrieb sie selbst keine Kriminalromane mehr, übersetzte jedoch Kriminalliteratur ins Schwedische.

Alle Kriminalromane sind in Taschenbuchformat im Rowohlt Verlag erhältlich. Wahlöö hat noch eine ganze Reihe weiterer Romane geschrieben, die zwischen Krimi und Thriller angesiedelt sind, so etwa „Mord im 31. Stock“ und „Libertad“.

Die Kommissar-Beck-Reihe

1965–1975 Roman om ett brott (dt. „Roman über ein Verbrechen“)

• Roseanna (1965, dt. „Die Tote im Götakanal“)
• Mannen som gick upp i rök (1966, dt. „Der Mann, der sich in Luft auflöste“)
• Mannen på balkongen (1967, dt. „Der Mann auf dem Balkon“)
• Den skrattande polisen (1968, dt. „Endstation für neun“ (BRD) und „Der lachende Polizist“ (DDR))
• Brandbilen som försvann (1969, dt. „Alarm in Sköldgatan“ bzw. „Alarm in der Sköldgatan“ (DDR))
• Polis, polis, potatismos! (1970, dt. „Und die Großen lässt man laufen“)
• Den vedervärdige mannen från Säffle (1971, dt. „Das Ekel aus Säffle“)
• Det slutna rummet (1972, dt. „Verschlossen und verriegelt“ (BRD) und „Der verschlossene Raum“ (DDR))
• Polismördaren (1974, dt. „Der Polizistenmörder“)
• Terroristerna (1975, dt. „Die Terroristen“)

Handlung

Zwei Polizisten aus Solna sind um 23:00 Uhr am 13. November auf dem Weg nach Hause. Zu ihrem Pech werden sie just, als sie die Stadtgrenze zu Stockholm überqueren angefunkt: Ein Mann habe einen verdächtigen Bus gemeldet. Bitte nachsehen! Da kann man nix machen, sagen sich Kristiansson und Kvant und schauen nach. Alle anderen Cops sind nämlich im Einsatz, um eine Protestdemo zu sichern. Die Last der Welt ruht nun auf ihren schmalen Schultern.

Der hell erleuchtete Doppeldecker-Bus sieht selbst im strömenden Regen verdächtig still aus, aber es ist klar wie Kloßbrühe, dass nur ein führerloser Bus den Bordstein überfahren und den Zaun gerammt hätte. Sie steigen aus, befragen kurz den Zeugen, der seinen Hund Gassi geführt hat, und betreten den Bus durch die offene Vordertür. Was sie vorfinden sind neun Leichen – pardon, acht Leichen und einen Schwerverletzten. Den wackeren Polizisten wird ganz flau im Magen, als sie Meldung machen und Verstärkung rufen. Dann fangen sie an zu kotzen.

Das Team

Kommissar Martin Beck ist beileibe nicht der erste am Tatort, sondern wohl eher der letzte. Die Spusi ist bereits am Werk und deren Leiter flucht wie ein Kutscher. Die beiden Cops, die den Bus vorfanden, wären wie eine Elefantenherde durch den gesamten Bus getrampelt und so ziemlich jede brauchbare Spur vernichtet hätte, sei es im Oberdeck oder unten. Nachdem sie ihre Aussage zu Protokoll haben, dürfen sie wieder gehen.

Der Schwerverletzte, der das Massaker wie durch ein Wunder überlebt hat, wird flugs mit dem Rettungswagen ins nächstgelegene Krankenhaus expediert. Was alle Inspektoren verblüfft, ist die Tatsache, dass ihr werter Kollege Ake Stenström unter den Opfern zu finden ist. Es war ihm noch gelungen, seine Dienstwaffe zu ziehen. Doch wer ist die Frau an seiner Seite? Und was hatte Stenström überhaupt auf dieser Buslinie zu suchen?

Massenmord

Da dies der erste Massenmord solchen Ausmaßes ist, sind sämtliche Medien in Aufruhr, von der Stockholmer ganz zu schweigen. Der Justizminister nimmt den Mund reichlich voll, wie Martin Beck findet, und verspricht baldige Aufklärung dieses „abscheulichen“ Verbrechens. Doch Beck muss trotz Verstärkung durch zwei Landeier aus Malmö und Norrland durch Berge von Fakten wühlen, ohne der Lösung des Falls auch nur einen Zentimeter näherzukommen.

Der Überlebende stirbt dem Beamten vor der Nase weg, der auf seinem Rekorder nur wenige gehauchte Worte aufnehmen kann. Dies verstärkt die Rätsel nur, statt sie aufzulösen. Schließlich kommt einer im Team – war es Kollberg oder Gunvald Larsson? – dass der Schlüssel zum Rätsel die unerklärliche Anwesenheit von Stenström sein müsse.

Und ausgerechnet das Landei aus Malmö, Mansson, findet dort etwas, wo keiner der einheimischen Beamten nachzusehen sich die Mühe machte: Dort liegt ein Blatt, das aus einer dicken, alten Fallakte gerissen wurde. Den Fall kennt jeder im Team: der Teresa-Mord. Ein Fall, an dem sich bislang noch jeder die Zähne ausgebissen hat…

Mein Eindruck

Ein Buch wie ein Film: Mehrere Figuren agieren parallel zueinander, versacken mitunter in Exkursionen, die zu erstaunlich abgelegenen neuen Figuren und Geschichten führen. Martin Beck ist der große Integrator, aber der Fall wird nicht gänzlich aus seiner Sicht erzählt – das war nur in den ersten beiden Romanen „Die Tote im Götakanal“ und „Der Mann, der sich in Luft auflöste“ der Fall. Hier integriert er nur Erkenntnisse, Fakten, Figuren – und fast immer off-screen. Das heißt, dieses Tun wird vorausgesetzt und passiert nicht auf offener Bühne, ist keine Silbe wert.

Wenn Beck ermittelt – oder sein Alter Ego Kollberg -, dann muss dieser Besuch also implizit wichtig sein. Etwa bei Stenströms Witwe, die zur Kettenraucherin mutiert und versucht, nicht zusammenzubrechen. Als Familienvater sieht er ihr dieses Bemühen an der Nasenspitze an, nimmt sie in seinem Wagen mit, bringt sie zu sich nach Hause. Erst jetzt ist sie das heulende Elend, warum auch nicht: Zeit zu trauern.

Der Fall ist ein Doppelfall

Die Spur führt in die Vergangenheit, weit zurück in die seligen Fünfziger Jahre, als Volvo erst noch im Entstehen war und auf schwedischen Straßen noch Fords und Hispano-Suizas herumkreuzten. Da wurden Karosserien einfach ungeniert kopiert, leicht verändert – sehr leicht zu verwechseln. Solche Verwechslungen führten seinerzeit in einer Sackgasse, selbst landesweite Fahndungen nach bestimmten Autotypen führten ins Nichts.

Das ändert sich, als Mansson und Nordin auftreten und sich getrennt um den alten Fall kümmern. Dass ein Landei wie Nordin mit seinem Jägerhut in einer Bar des Rotlichtviertels von Stockholm auffallen könnte wie ein rosa Elefant auf einer grünen Wiese, ist seinen Vorgesetzten allerdings nicht in den Sinn gekommen. Erst Martin Beck erkennt die Absurdität dieser Situation und versetzt Nordin.

Erst die Autos und ihre Fahrer bzw. Besitzer stellen die Verbindung zwischen der entfernten Vergangenheit des Teresa-Mords (der seine eigene herzzerreißende Geschichte liefert) und der brenzligen Gegenwart des Bus-Massakers her. Stenström hatte einen Mordkomplizen von damals entdeckt und ihn beschattet. „In Beschattung war er richtig gut“, lautet das fachliche Urteil der Kollegen. Stenström war aber auch frech: Er zwang den so offensichtlich Beschatteten, Hilfe anzufordern. Diese Hilfe erschien in Gestalt eines alten finnischen Maschinengewehrs – der Rest ist Geschichte.

Mord als Eintrittspreis

Erst indem sich Becks Team quasi an Stenströms Fersen heftet, gelangen sie zu dem Mörder, der sowohl damals als auch jetzt aktiv war. Ein sozialer Aufsteiger, der als Preis für seinen Aufstieg einen Mord begehen musste. Und der jetzt einen zweiten Preis zahlen muss, indem er versucht, die Spur in die Vergangenheit zu kappen. Die anderen Leichen sind nur Tarnung. Entscheidend ist die merkwürdige Tatwaffe: ein finnisches MG aus dem Zweiten Weltkrieg. Dass jeder Kriegsheimkehrer von anno Toback solch ein unangemeldetes MG besitzen kann, macht eine Fahndung aussichtslos. Das weiß Beck nur zu gut.

Der Auslöser für die Katastrophe im Doppeldeckerbus war wohl Stenströms übertriebener Ehrgeiz. Er hätte solche Fälle wie den Teresa-Mord nicht mal mit der Beißzange anfassen dürfen. Aber die Gruppendynamik in Becks Kripo-Abteilung unterdrückte seinen kriminalistischen Ehrgeiz und so begann er, über die Stränge zu schlagen, nicht zuletzt, um seiner jungen Frau zu imponieren. Heldentum also – das Letzte, was Leute wie Beck gebrauchen können.

Die Übersetzung

S. 76: „Die Uhr war zwanzig nach drei.“ An diese schwedische Spracheigenart, die Uhrzeit auszudrücken, muss sich der deutsche Leser erst gewöhnen. Aber diese Wendung bleibt durchweg so bestehen.

S. 110: „Kapitel? Keins.“ Ich vermute, dass nicht „Kapitel“, sondern „Kapital“ gemeint ist, wenn es um eine Personenbeschreibung geht.

S. 155: „Tabletten der Marka Ritalina“. Gemeint ist wohl „Tabletten der Marke Ritalina“. Ritalin ist heute überall verbreitet.

S. 162: „Sie war war läufig geworden“. Ein „war“ reicht wohl völlig aus.

Unterm Strich

Dieser vierte Beck-Krimi ist ein typischer Fall der Prozedural-Kategorie: Das Vorgehen (Procedere) der Ermittler wird nahezu haarklein beschrieben. Der Reportagestil ist tonangebend und lässt Emotionen kaum noch Raum. Diese kommen erst in indirekten Erzählungen als Aussagen zur Geltung. Der trockene, nahezu technische Stil hat aber auch seine eigene Ironie, so etwa bei der Schilderung des Einsatzes der beschränkten Dorfpolizisten Kvant und Kristiansson.

Diese Sachlichkeit ist aber auch gute Tarnung bzw. Vorwand, um eine Tragödie zu erzählen: die Tragödie der Hure Teresa. Sie war nicht immer Hure, sondern wurde durch eine Vergewaltigung dazu gemacht. Bis sie an ihren Mörder geriet, der den sozialen Kontakt zu ihr verbergen musste – um jeden Preis. Der Preis war eine Kugel in den Kopf, danach ging es mit ihm unaufhaltsam bergauf. Bis es einem Landei-Cop einfällt, sich angelegentlich nach bestimmten Fahrzeugtypen zu erkundigen und Fehlerquellen aufzuzeigen. Mit der Festnahme gelingt es Becks Team, zwei Fälle mit einem Schlag zu lösen – zu spät für den Kollegen Stenström, der ein Opfer seines eigenen Heldentums wird.

Die Schilderung gibt dem heutigen Leser einen guten Einblick in das Ende des Traums vom schwedischen Wohlfahrtsstaat – sie beginnt nämlich mit einer von Cops schwer bewachten Demo. Wer jetzt an Hamburger Verhältnisse vom Sommer 2017 denkt, liegt goldrichtig. Die Polizisten, die dort eingesetzt werden, fehlen natürlich an anderer Stelle. Busmassaker sind also nicht auszuschließen – hoffentlich auch bei uns.

Taschenbuch: 218 Seiten
Info: Den skrattande polisen, 1971
Aus dem Schwedischen von Eckehard Schultz
www.rowohlt.de

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