Dan Simmons – Hyperion (Hyperion 1)

Die Pilger und das Shrike

Auf der Welt Hyperion herrscht das Shrike, ein unüberwindliches Ungeheuer aus den Tiefen von Raum und Zeit. Manche verehren es als Gott, andere sehen in ihm das absolute Böse und wollen es vernichten, aber gefürchtet wird es von allen. Im Tal der Zeitgräber, wo sich riesige Gebilde mit ihren rätselhaften Botschaften aus der Zukunft in die Vergangenheit bewegen, wartet das Shrike auf die Pilger. Und es wartet auf sie alle, egal ob auf den Orakelsuchenden oder auf den Attentäter.

Diese Welt wird von außen durch eine überlegene Alienrasse bedrängt und von innen durch abtrünnige Künstliche Intelligenzen (KIs), die ihre Chance gekommen sehen, den Menschen als führende Intelligenz abzulösen.

Diese erste Ausgabe ist meines Wissens die einzige, die komplett illustriert ist. Sie enthält ein Foto des Autors und ein Vorwort des Herausgebers Wolfgang Jeschke. Ein Interview mit dem Autor sowie zwei Artikel über sein Werk findet der SF-Fan im „SF-Jahr 1996“ (Reihennr. 06/5380, S. 412-483).

Der Autor

Dan Simmons, geboren 1948 in Illinois, ist bekannt geworden mit dem Horror-Roman „Sommer der Nacht“, der auch für „A Winter Haunting“ den Hintergrund bildet. Noch erfolgreicher wurde er allerdings mit Science Fiction-Romanen: „Hyperion“ und Hyperions Sturz“ sowie „Endymion“ und „Endymion – Die Auferstehung“ fanden ein großes Publikum. Diese Tradition setzte er im Herbst 2003 mit seinem Roman „Ilium“ fort, in dem griechische Götter eine wichtige Rolle spielen. (Die Fortsetzung trägt den Titel „Olympos“ und kam Mitte 2005 auf den Markt.)

Außerdem ist Dan Simmons ein Verfasser exzellenter Kriminalthriller (z.B. „Darwin’s Blade/Schlangenhaupt„) und Kurzgeschichten (z.B. „Styx“ bei Heyne). Mit „Hardcase“ hat er eine Krimireihe um den „gefallenen“ Privatdetektiv Joe Kurtz gestartet, die mit „Hard Freeze“ und „Hard as nails“ fortgesetzt wurde (auf Deutsch bei FESTA). Simmons wuchs selbst in Buffalo, dem Schauplatz der drei Kurtz-Romane, auf, bevor er 1974 nach Boulder in Colorado umzog. Sein Domizil hat er nach dem Shrike benannt…

Handlung

Das 28. Jahrhundert. Im Vordergrund der verzweigten Handlung stehen die sieben Protagonisten, die zu einer letzten Pilgerfahrt zum Planeten Hyperion aufbrechen, um dort eines der letzten ungelösten Geheimnisse des Universums zu lüften: die Zeitgräber, die sich scheinbar aus der Zukunft kommend rückwärts in der Zeit bewegen. Umgeben von einem „Anti-Entropiefeld“, das zuweilen starke Störungen in der Zeitlinie hervorrufen kann, dient es zugleich als Gefängnis für das Shrike.

Dieses legendäre Dornenwesen – gefürchtet von den meisten, angebetet von seinen Jüngern – besitzt Kontrolle über die Zeit, und kann so in Sekundenschnelle ganze Armeen niedermetzeln. Und eben diese Anti-Entropiefelder, die als einziges ein planetenweites Massaker durch das Shrike verhindern, beginnen sich seit einiger Zeit aufzulösen und drohen bald vollkommen zu verfallen. Kein Wunder, dass die Menschen eine eigene Kirche gegründet haben, die das Shrike verehrt.

Die Wichtigkeit der Pilgerfahrt ergibt sich auch aus einer weiteren Tatsache: Vor langer Zeit, als die Erde durch den „Großen Fehler“ zerstört wurde und die Menschen sich auf viele entlegene Planeten, die nur aufgrund der sie verbindenden „Farcaster“ (eine Art Sternentore) ein Netz bilden, zerstreut haben, hat sich ein kleiner Teil, die sogenannten „Ousters“, vom Rest losgesagt und die Reise in unbekannte Teile der Galaxie angetreten. Diese Ousters planen nun eine Offensive gegen das „Netz“ der Farcaster, und der Planet, den sie zuerst in ihre Gewalt bringen wollen, ist Hyperion. Denn falls sie das Geheimnis der Zeitgräber lösen können, kann sich ihnen nichts mehr in den Weg stellen. Denken sie.

Die Mission

Der Hegemoniekonsul, der von Hyperion stammt, wird von Meina Gladstone, der greisen Senatspräsidentin der Regierung der Hegemonie, über die sich entwickelnde Krise informiert und nach Hyperion entsandt, um die Interessen der Regierung zu vertreten. Meina lässt ihm keine Wahl. Denn bereits jetzt evakuiert die FORCE-Weltraumtruppe die Millionen Hegemoniebürger auf Hyperion, um sie vor den Ousters in Sicherheit zu bringen.

Und sie werde versuchen, unter großen Kosten und Mühen, einen militärischen Farcaster über Hyperion zu installieren – mit dem Risiko, dass die Ouster über solch einen Farcaster in sämtliche, ungeschützten Welten der Hegemonie eindringen könnten. Das müsse der Konsul möglichst verhindern. Nur noch ein kleiner Punkt: Der Konsul soll die Zeitgräber wieder schließen oder, wenn das nicht geht, wenigstens deren Geheimnisse für die Hegemonie sicherstellen.

Diese Teile enthält der erste Band:

1) Die Geschichte des Priesters: „Der Mann, der zu Gott flehte“
2) Die Geschichte des Soldaten: Die Liebenden im Krieg
3) Die Geschichte des Dichters: „Hyperionische Gesänge“
4) Die Geschichte des Gelehrten: Der Fluss Lethe schmeckt bitter
5) Die Geschichte der Detektivin: Der lange Abschied
6) Die Geschichte des Konsuls: Erinnerungen an Siri (auch in ISBN 9783453093058)
7) Die Geschichte des siebten, bis dato unbekannten Pilgers fehlt. Präsidentin Gladstone vermutet, dass es sich um einen Agenten der Ouster handelt.

Es würde dem Leser jegliche Spannung nehmen, wenn ich verriete, wie diese Geschichten aufgebaut sind und worum es darin geht – die jeweiligen Titel sollten als Andeutung genügen. Wer trotzdem alles darüber wissen, lese den englischsprachigen Wikipedia-Artikel.

Mein Eindruck

Doch all dies dient nur als Hintergrund, denn eigentlich passiert im Laufe des ersten Bandes dieses Doppelromans nicht allzu viel. Die sieben Pilger treffen sich auf einem Baumschiff der „Tempelritter“ der Shrike-Kirche, treten ihre Reise zu den Zeitgräbern an und erreichen die Welt Hyperion. Wer jetzt vermutet, dass sie viele Abenteuer auf ihrem Weg zu bestehen haben, liegt leider falsch, denn außer dass der „Tempelritter“ – einer der Pilger und Kapitän des Schiffs, das sie nach Hyperion brachte – verschwindet, passiert nicht viel.

Die Funktion der Reise liegt vielmehr darin, den Protagonisten genug Zeit zu geben, um sich à la „Canterbury Tales“ gegenseitig ihre Lebensläufe zu erzählen. Sie hoffen auf diese Weise herauszufinden, warum gerade sie auserwählt wurden und wie sie das Shrike im Ernstfall besiegen können.

Da gibt es den Priester, der bei der Suche nach einem auf Hyperion verschollenen Kollegen eine unglaubliche, mit dem Menschen symbiotisch verschmelzende Lebensform entdeckt: das Cybrid. Das gibt es den Soldaten, der sich bei seinen Kampfsimulationen in ein vermeintliches Konstrukt der Matrix verliebt und es dann nach einem Absturz auf Hyperion in persona trifft.

Der Dichter erkennt nach einigen, ihm gewissermaßen aufgezwungenen Bestseller-Romanen, dass ihn seine Muse verlassen hat, und reist nun der auf der Suche nach Inspiration in die „Stadt der Dichter“ auf Hyperion. Die Tochter des Gelehrten erleidet bei den Zeitgräbern einen Unfall und wird seitdem stetig jünger. Die Detektivin ist von einer KI beauftragt worden, die Lücke in ihrem Gedächtnis zu füllen. Und schließlich ist da der Politiker, der Hegemoniekonsul, dessen Geschichte den Lauf des Geschichte am meisten beeinflusst.

All diese Geschichten decken langsam aber sicher die Hintergründe auf, die Dinge, die unter der Oberfläche des „Netzes“ der Farcaster geschehen: sei es das Technocore, eine Vereinigung von KIs, die die Geschicke der Menschheit in Wirklichkeit leitet, oder seien es nur die geheimen Hoffnungen und Ängste, die die verschiedenen Parteien mit Hyperion verbinden.

Unterm Strich

Die Gesamtheit der sechs Pilger-Geschichten plus Rahmenhandlung bleibt jedoch recht unterhaltsam. Der regelmäßige Wechsel in Stil und Inhalt in der jeweiligen Geschichte sorgt für gehörige Leselust. Ganz gleich, ob es sich um Action, Thriller, Lyrik, Sex oder Politik handelt, liefert der Autor für jeden einen sowohl geistig als auch emotional anregenden Text.

Und obwohl beispielsweise bei den Farcastern nicht einmal der Versuch unternommen wird, eine Erklärung der Funktionsweise zu liefern (frei nach dem Motto: Kein Mensch weiß, wie sie funktionieren … Hauptsache sie tun es), merkt man, dass sich der Autor bemüht hat, wenigstens einigermaßen realistisch zu bleiben – soweit man davon im 28. Jahrhundert sprechen kann.

Unterm Strich bleibt also relativ gute Unterhaltung, die allerdings nur das Fundament für den Fortsetzungsband „Der Fall von Hyperion“ erzeugen soll: ein gigantischer Cliffhanger, den offenbar der Verlag erzwungen hat, um noch etwas mehr Umsatz herauszuquetschen (wie man diversen, zeitgenössischen Rezensionen aus USA entnehmen kann).

Ohne Fortsetzung wäre dieses Buch jedenfalls ziemlich unbefriedigend, da es gerade in dem Moment endet, als die finale Konfrontation der Pilger mit dem Shrike bevorsteht. Und wer das Pech hat, die deutsche Erstausgabe zu besitzen, wird erstaunt feststellen, dass die letzte Seite fehlt: Es handelt sich um einen Fehldruck. Die letzte Zeile lautet: „‚Ist das ein bekanntes Phänomen?‘, fragte Pater Hoyt.“ Hoffentlich nicht!

Man sollte sich also möglichst die Heyne-Ausgabe „Die Hyperion-Gesänge“ zulegen, die beide Romane vereint.

Hardcover: 687 Seiten (in der Erstausgabe des Hardcovers fehlt die letzte Seite)
Originaltitel: Hyperion, 1989;
Aus dem Englischen von Joachim Körber, illustriert von Zoltan Boros & Gabor Szikszai.
ISBN-13: 9783453133044

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)