David Liss – Die Papierverschwörung

Im London des Jahres 1719 gerät ein Privatermittler ins Getriebe einer Verschwörung, deren Mitglieder sich finanziell bereichern und die politische Macht an sich ziehen wollen; Mitwisser sind unerwünscht und wurden bisher erfolgreich ausgeschaltet … – Auf realhistorischem Fundament gründet Autor Liss einen trotz des Titels niemals trockenen, sondern schlüssigen und spannenden Historienthriller mit gut gezeichneten Figuren: zeitloses Lesefutter.

Das geschieht:

England steckt 1719 in einer politischen Dauerkrise. Vor fünf Jahren starb Königin Anne kinder- und erbenlos. Um die Macht brach im Kabinett ein erbitterter Kampf aus. Die Regierungspartei hob den Kurfürsten Georg von Hannover, einen weitläufigen Verwandten Annes, als George I. auf den Thron. Die Opposition und große Teile der Bevölkerung können sich mit dem „Ausländer“ nicht anfreunden. Aus dem Exil droht Jakob (VIII.), Sohn des 1707 abgesetzten Königs von Schottland, mit Hilfe des alten Erzfeindes Frankreich seine Ansprüche geltend zu machen. Die Staatsverschuldung erreicht astronomische Höhen. Die Regierung bekommt den Haushalt einfach nicht in den Griff. Immer noch schwelt der Konflikt zwischen der protestantischen Regierungspartei und der katholischen Opposition. Unsicherheit bestimmt den Alltag. Glücksrittern und Spekulanten versuchen aus der undurchschaubaren Lage wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Überaus beliebt ist vor allem der Handel mit Aktien geworden.

Benjamin Weaver, ein ehemaliger Faustkämpfer, verdingt sich als Privatermittler und Leibwächter. Er ist das schwarze Schaf der angesehenen und vermögenden Kaufmannsfamilie Lienzo, mit der er sich vor langer Zeit überworfen und deren Namen er abgelegt hat – und er ist Jude. Damit bleibt ihm in einer Zeit, in der Religionsfreiheit ein Fremdwort ist und Nächstenliebe sich auf die christlichen Mitbürger beschränkt, ein echter gesellschaftlicher Aufstieg verwehrt.

William Balfour, Benjamins neuem Klienten, scheint dagegen die ganze Welt offenzustehen. Sein vornehmes Gehabe ist allerdings Maske. Vor zwei Wochen hat sich sein Vater umgebracht, nachdem er sich an der Börse verspekulierte. Doch Michael Balfour habe nicht Selbstmord begangen, behauptet nun sein Sohn; er sei ermordet worden, nachdem er einer Verschwörung auf die Spur gekommen sei, deren Mitglieder sich durch Börsenmanipulationen bereichern. Auch Benjamins Vater, angeblich vor zwei Wochen bei einem Verkehrsunfall umgekommen, hätten die Drahtzieher aus dem Weg räumen lassen! Natürlich übernimmt Benjamin den Fall – und begibt sich ahnungslos in eine wahre Schlangengrube, deren Bewohner ihm mit allen Mitteln nach dem Leben trachten …

Glanz und ELEND des Historienromans

Es gibt ihn, den ‚historischen‘ Kriminalroman, der diesen Namen verdient. Leider beschränkt sich die kreative Leistung der meisten Schriftsteller, die sich in diesem Genre tummeln, in der Regel darauf, der Rose einen anderen Namen zu geben. Ansonsten rekonstruieren sie die versunkene Welt der Vergangenheit auf einem Niveau, das dem der Mittelalter-Märkte entspricht, die hierzulande über Stadtfeste und Wirtschaftsschauen mittelgroßer Provinzstädte gaukeln. Lehnsherr böse, Bischof bigott, Schankwirt schwatzhaft, Magd drall, Äbtissin weise, Jude klug, Novize neugierig, Ritter edel – dies schmort im schier bodenlosen Topf von Klischees, aus dem, wir armen Leser immer wieder abgespeist werden.

Solche dürftige Kost macht auf Dauer nicht satt. Vergangenheit ist mehr als ein kunterbuntes Durcheinander altertümlich anmutender, vor allem aber exotischer Kulissen, Figuren und Gebräuche. Doch die Welt von 1719, in die uns David Liss Einblick gewährt, mag uns Nachgeborenen konfus und fremdartig erscheinen. Auf die Zeitgenossen traf dies ganz und gar nicht zu. Sie lebten in ihrer Welt, und folglich kannten sie die geschriebenen wie die ungeschriebenen Gesetze und Regeln, an die sie sich (meist) ganz selbstverständlich hielten.

Einen guten Historienkrimi erkennt man daran, dass Zeit, Ort und Personen der Handlung berücksichtigt werden. Dabei geht es nicht darum, in jedem Detail authentisch zu sein. Der Laie erkennt die meisten Anachronismen ohnehin nicht. Das ist wiederum kein Freibrief, die Leser vorsätzlich für dumm zu verkaufen. Wie nachhaltig der fortwährende Verstoß gegen diese einfachen Grundsätze den Lesespaß mindert, machen viel zu viele Romane deutlich, die (vor allem) als verkappte Liebesschnulzen eher einem armseligen Maskenball gleichen.

Gier und Glaube

„Die Papierverschwörung“ zeigt, wie man es spannend richtig macht. Eben weil Autor Liss seinem Publikum Benjamin Weaver und die Welt, in der er lebt, nicht nur vorstellt, sondern dies auch in die Handlung zu integrieren weiß, stellt er die Weichen für eine unglaubliche aber eben glaubwürdige Geschichte, die auf sorgfältig gelegten Schienen und nur im Mittelteil durch einige Steigungen verlangsamt ihrem furiosen Finale entgegenstrebt.

Der Mikrokosmos der Börse und die Hochfinanz, Schauplatz waghalsiger Spekulationen und Betrügereien, die binnen kürzester Zeit aus strahlenden Gewinnern ruinierte Verlierer und umgekehrt machen kann, funktioniert als Kulisse 1719 genauso gut wie heute, wir wir ‚dank‘ der Banken- und Finanzkrise von 2007 wissen. Wer fände es nicht interessant zu erfahren, wie einst diese eigentümliche Schattenwelt entstanden ist, in der tüchtig gegelte Banditen im Power-Anzug nunmehr digital und global verschwören? Aktien sind zunächst einmal nur Papier (oder Daten). Erst der feste Glaube daran, dass sie reale Werte repräsentieren, lässt sie zum Handelsobjekt werden. Wie jeder Möchtegern-Spekulant, der eine mächtige Bauchlandung hingelegt hat, wohl bestätigen kann, übt die Börse dieselbe magische Anziehungskraft wie das Labor eines mittelalterlichen Alchimisten aus: Man versteht nicht wirklich, was dort vorgeht, hofft aber, es werde Gold dabei entstehen. Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten, verlieren buchstäblich den Verstand, wenn dies dann tatsächlich klappt – oder auch nur zu klappen scheint!

Doch wo das Blut (bzw. Geld) von Dummköpfen im Wasser treibt, bleiben die Haie nicht lange aus. Für Betrüger und Diebe muss die Börse von 1719 so etwas wie das Schlaraffenland gewesen sein: noch diffus und in der Entwicklung begriffen, ohne echte Gesetze und Regeln, undurchschaubar sogar für jene, die hier tagtäglich ihre Geschäfte abschlossen. Welche Möglichkeiten boten sich hier dem, der geschickt und skrupellos genug war, die Gier und die Unerfahrenheit der gutbetuchten Masse auszunutzen! Liss zeigt sie uns auf – und zeigt, wie man das vermeintlich komplizierte und trockene Thema nicht nur beherrschen, sondern vortrefflich zum Leben erwecken kann. Prägnant gezeichnete Figuren bilden dabei ein wichtiges Element, aber Liss enthält seinem Publikum außerdem keineswegs vor, wonach es eigentlich hungert: eine zwar vertrackte aber letztlich logisch aufzulösende Krimi-Handlung!

Historischer Hintergrund oder: Traktat über menschliche Dummheit

(Dieser Abriss über die Frühgeschichte der englischen Börse lässt sich vom historisch weniger interessierten Leser problemlos überspringen. Er liefert ein wenig mehr Hintergrundinformation, als Liss uns zugestehen mag.)

Zwar hat David Liss einen Roman geschrieben hat, dessen Handlung jedoch fest im Boden historischer Tatsachen verwurzelt ist. Der „Große Südsee-Schwindel“ begann in England 1711 mit der Gründung einer Gesellschaft, die der Regierung dringend benötigtes Geld verschaffen sollte. Die „Südsee-Gesellschaft“ versprach jenen, die in die Entwicklung der überseeischen Kolonien investierten, hohe Dividenden. Als sie 1720 anbot, gleich mehrere Millionen Pfund Staatsschulden gegen die Erlaubnis zu übernehmen, ihr Kapital unbegrenzt und zu jedem Kurs zu erhöhen, brach beim hohen Lord wie beim armen Hausierer das Spekulationsfieber aus. Geld wurde ohne Sinn oder Verstand aber in wahnwitzigen Summen in die Gesellschaft gepumpt. Niemand schien sich daran zu stören, dass man in eine höchst ungewisse Zukunft investierte und dem Kapital keinerlei reale Sicherheiten gegenüberstanden.

Die Aktienkurse wurden vom gewissenlosen Direktorium der Südsee-Gesellschaft künstlich in die Höhe getrieben. Sie setzten Gerüchte in die Welt: Bald gäbe es Verträge zwischen England und Spanien, der Freihandel mit allen spanischen Kolonien und damit der Zugriff auf die Gold- und Silberminen Südamerikas sei praktisch garantiert. Diese Ankündigten entbehrten jeder politischen Grundlage, doch sie wurden geglaubt, weil sie geglaubt werden wollten. Eine Mittsommerdividende von fabelhaften 10% wurde 1720 angekündigt, die auch Neuzeichnern zugutekommen sollte. Binnen weniger Stunden waren anderthalb Millionen Aktien gezeichnet.

Im Umfeld der Südsee-Gesellschaft gingen überall neue Firmen (u. a. zur Versorgung Londons mit Kohlen aus dem Meer oder zur Herstellung des Perpetuum Mobile …) an die Börse. Auch hier investierte die Bevölkerung praktisch blind. Dabei wurden diese Neugründungen von besonnenen Zeitgenossen nicht umsonst „bubbles“ genannt. Ein Wahnsinn hatte die Menschen befallen: Die „Gesellschaft zur Durchführung eines überaus nützlichen Unternehmens, das aber noch niemand kennt“ – Liss kann aus gutem Grund nicht widerstehen, sie in seinem Roman zu erwähnen – zeichnete in sechs Stunden eintausend Aktien à zwei Pfund Anzahlung je 100-Pfund-Aktie.

Sturz aus den Wolken

Nach acht Monaten platzte die Blase. „Dann, im Sommer 1720, wachte London auf und sagte: ‚Aus welchem Grund sind diese Aktien eigentlich so viel wert?‘“, fasst Liss in einem Satz das Umkippen der Situation zusammen. Quasi aus heiterem Himmel begannen die Möchtegern-Spekulanten zu Tausenden zu verkaufen. Weder Einpeitscher noch Betrüger konnten diese Sturmflut eindämmen. Der Kurs sank ins Bodenlose – und da war nichts, mit dem die Südsee-Gesellschaft hätte haften können. Das Direktorium hatte das Geld der verblendeten Tröpfe abgeschöpft, der Staat seinen Anteil davon bekommen.

Die Ernüchterung war unbeschreiblich: „Tausende von Familien werden an den Bettelstab kommen. Die Bestürzung ist unbeschreiblich, der Zorn riesengroß und die Lage so verzweifelt, dass ich keine Möglichkeit sehe, das Unglück abzuwenden. Ich habe keine Ahnung, was als nächstes zu tun wäre“, schrieb der Unterhausabgeordnete Broderick am 13. September 1720 an Lordkanzler Middleton. Einige Köpfe rollten, aber letztlich geschah genau das, was Broderick befürchtet hatte. Zehntausende hatten wie die Balfours beim Tanz um das Goldene Kalb alles verloren. Unbeschreibliches Elend war die Folge. Praktisch zeitgleich schüttelten ganz ähnliche Börsenskandale den europäischen Kontinent: Die Menschen lernten auf die ganz harte Tour, dass das Papier den Stein tatsächlich schlagen kann.

In diesem Umfeld fanden David Liss bzw. Benjamin Weaver eine Nische auf dem dicht bestellten Feld des Historienromans. Der Erfolg der „Papierverschwörung“ ließ den Verfasser weitere ökonomische Krisen des 18. Jahrhunderts als Hintergrund für neue Kriminalfälle ‚auswerten‘. Wenig überraschend kehrte Benjamin Weaver zurück. Er gab zum Ende seines ‚Berichts‘ über die Papierverschwörung bekannt, dass er sich vom gewöhnlichen Diebesfänger zu einem Ermittler-Spezialisten entwickelt und dabei später noch ganz andere Abenteuer erlebt habe! Sie sind auch in Deutschland erschienen und viel zu schade, um im Meer antiquarischer Bücher unterzugehen.

Autor

David Liss, geboren am 16. März 1966 im US-Staat New Jersey, promovierte an der Columbia Unversity über britische Literatur und Kultur im 18. Jahrhundert, ohne seine Doktorarbeit zu vollenden. Das dabei erworbene Wissen setzte er ab 1999 als Schriftsteller von Historienromanen ein. Liss‘ Erstling „A Conspiracy of Paper“ (dt. „Die Papierverschwörung“) – 2001 mit einem „Edgar Allan Poe“-, einem „Barry“- und einem „Macavity Award“ als bestes Krimi-Debüt ausgezeichnet – war Auftakt einer bisher zweifach fortgesetzten Reihe um den ehemaligen Boxer und Privatdetektiv Benjamin Weaver, dessen Ermittlungen ihn regelmäßig in Lebensgefahr bringen.

Seit 2011 schreibt Liss auch Vorlagen für Graphic Novels („Black Panther“, „The Spider“ u. a.). 2014 startete er die Science-Fiction-Jugendserie „Randoms“. Mit seiner Familie lebt David Liss im texanischen San Antonio.

Benjamin-Weaver-Serie

(1999) Die Papierverschwörung (A Conspiracy of Paper) – btb Verlag 73068
(2004) Die Falschspieler (A Spectacle of Corruption) – btb Verlag 75127
(2009) Die Teufelsgesellschaft (The Devil’s Company) – btb Verlag 73692

Taschenbuch: 631 Seiten
Originaltitel: A Conspiracy of Papers (New York : Random House 2000)
Übersetzung: Gerald Jung
http://www.randomhouse.de/btb
davidliss.com

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