Die Ballade vom traurigen Säufer
Im London der 1980er ermittelt der namenlose Detective Sergeant des A14 – Letzteres besser bekannt als die Factory – im Mordfall eines erfolglosen Schriftstellers und nimmt dabei weder Rücksicht auf Vorgesetzte noch auf sein Privatleben. Er kriecht förmlich in den Kopf seines Opfers, spürt dessen Exfrauen, Kollegen, Zechkumpane und ehemalige Feinde in tristen Pubs und Mietskasernen auf – so in Acacia Circus, einem Block, der von arbeitslosen Skinheads und Schwarzen bevölkert wird.
Voller Idealismus und die Forderung nach Gerechtigkeit verinnerlicht, begibt sich der namenlose Detective Sergeant selbst in allergrößte Gefahr … Mit seinen existentiellen, im England der Thatcher Ära angesiedelten Factory-Romanen schuf Derek Raymond faszinierende Noir-Hybride, die zunächst wie gewöhnliche Polizei-Romane daherkommen, um dann die Form zu wechseln und die Leiden der Opfer und das Leben selbst in den Mittelpunkt zu stellen. (Verlagsinfo)
Diese Besprechung beruht auf der englischen Originalausgabe (s.u.). Die deutsche Ausgabe soll am 30.9.2023 veröffentlicht werden.
Der Autor
Derek Raymond (* 12. Juni 1931 in London; † 30. Juli 1994 ebenda; eigentlich Robin William Arthur Cook) war ein britischer Schriftsteller, der überwiegend Noir-Romane schrieb.
Derek Raymond war der Sohn eines englischen Textilunternehmers und wuchs in London, seit 1937 auf dem Familienschloss in Kent auf. 1944 wurde er am Elitecollege Eton aufgenommen, brach die Schule allerdings drei Jahre später ab. In den 1950er Jahren lebte er in Paris, New York und Spanien, wo er wegen Beleidigung Francos zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. 1960 kehrte Raymond nach England zurück und veröffentlichte zwei Jahre später mit „The Crust on its Uppers“ einen Roman über die Londoner Unterwelt. (Einer Quelle zufolge war er auch Lektor von Jean-Paul Sartre.)
In den späteren 1960er Jahren arbeitete er in London als Romanschreiber, Pornoproduzent, Glücksspielveranstalter und Taxifahrer. Zwischenzeitlich lebte er in einer anarchistischen Kommune in Italien, in den 1970er Jahren dann die meiste Zeit in Frankreich. (Daher wirken die Schilderungen Frankreichs im vorliegenden Roman stilsicher und kenntnisreich.)
Den literarischen Durchbruch schaffte Derek Raymond in den 1980er und 1990er Jahren mit seiner Factory-Reihe um einen Sergeant der Abteilung A14 der Londoner Polizei, der es in den fünf Romanen der Reihe mit brutal zerstückelten Mordopfern zu tun bekommt und bei den Jagden nach den sadistischen Mördern zusehends in eigene psychische Abgründe getrieben wird. Der vierte Roman der Factory-Reihe „Ich war Dora Suarez“ erhielt 1991 den Deutschen Krimi-Preis.
Derek Raymond war fünfmal verheiratet (alle Ehen wurden geschieden) und hatte einen Sohn und eine Tochter. Er starb im Juli 1994 an Krebs. (Wikipedia.de)
Frühe Romane (veröffentl. unter dem Pseudonym „Robin Cook“)
1962: The Crust on its Uppers
1963: Bombe Surprise
1966: The Legacy of the Stiff Upper Lip
1967: Public Parts and Private Places
1970: A State of Denmark
1971: The Tenants of Dirt Street
Französische Romane (veröffentl. unter Robin Cook)
1983: Le Soleil Qui S’Eteint
1988: Cauchemar Dans La Rue
(deutsch als) Alptraum in den Straßen, dt. von Jürgen Bürger, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1990. ISBN 978-3-404-19138-3
Die Factory-Serie
=>1984: He Died with His Eyes Open
Er starb mit offenen Augen, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19074-4
1985: The Devil’s Home on Leave
Der Teufel hat Heimaturlaub, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19076-8
1986: How the Dead Live
Wie die Toten leben, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19077-5
1990: I Was Dora Suarez
Ich war Dora Suarez
1993: Dead Man Upright
Profil eines Serienmörders [veröffentlicht unter Robin Cook], dt. von Pieke Biermann, Rotbuch, Hamburg 1996. ISBN 978-3-88022-373-8
Autobiografie
1992: The Hidden Files
Die verdeckten Dateien, dt. von Michael K. Iwoleit und Reinhold H. Mai, Dumont, Köln 1999. ISBN 978-3-7701-4782-3
Letzter Roman
1994: Not Till the Red Fog Rises
Roter Nebel, dt. von Angelika Müller; Maas, Berlin 1996
„Der Kritiker Thomas Wörtche nannte Derek Raymonds Romane eine Mischung aus Poe, Kafka und Pulp. Gegen ihn wirken noch die schwarzen Klassiker vom Schlage eines David Goodis oder Jim Thompson fast wie sonnige Gemüter. Dies sind nicht nur die düstersten Bücher der Saison, sondern die schwärzesten Kriminalromane der 80er Jahre.“ (Verlagsinfo)
Handlung
Bei Scotland Yard gibt es die Abteilung A14, die als die unterste Gehaltsstufe gilt, auf die alle herabblicken: die Abteilung für ungelöste Todesfälle. Alle Helden in dieser Unterwelt des Yard sind namenslos, so auch der Ich-Erzähler. Täglich bekommt er von Charlie Bowman von der Abteilung „Serious Crimes“ eins reingewürgt, der sich für die A14 zu schade ist. Er lockt unseren namenlosen Ermittler mit Aufstiegschancen, was der jedoch immer ablehnt: Er müsste seine relative Unabhängigkeit aufgeben und nach Bowmans Pfeife tanzen.
Bowman gibt ihm einen neuen Fall. Ein Säufer mittleren Alters wird am Straßenrand in West-London tot aufgefunden. Er wurde offenbar brutal zusammengeschlagen, nur eines seiner Augen ist noch offen, das andere halb geschlossen. Aber der Tatort war am anderen Ende Londons, südlich der Themse, wo es schon Richtung East London geht, doch dort herrschen die Kray-Brüder. Staniland war ein gebildeter Mann, und wie die Kassetten und Briefe belegen, wusste er sich bestens auszudrücken. Bei der BBC weiß Viner, dass Staniland sogar ein eigenes Drehbuch verfasste, aber weil es zu ehrlich war, wurde es von denen da oben abgelehnt. Er eckte mit seinen linken Ansichten an.
Frankreich
Staniland muss entweder ein Weingut in Südfrankreich gekauft haben oder verdingte sich dort bei den Bauern und Winzern, um auf dem Weingut die Pacht zu zahlen. Die finanzielle Situation ist nicht gerade durchsichtig, aber weil er ständig trank – wie bei der BBC – geriet er immer wieder in Streit mit seiner Frau Margo, bis sie schließlich abhaute. Das bedauerte er sehr, sobald er nüchtern war, und er hinterließ ihr und seiner Tochter Charlotte das Weingut.
Die Gattin
Es ist nicht einfach, Margo Staniland ausfindig zu machen, aber sie erzählt von ihrem Sohn Eric, den sie aus erster Ehe hatte. Eric pumpte seinen Stiefvater mehrere Male an, um sich mehr Drogen kaufen zu können. Auch Eric „the Knack“ (der Kniff) ist nicht einfach zu finden, denn er ist jetzt ein Hausbesetzer ohne feste Adresse. Der Ermittler nimmt ihn so richtig auseinander und als er auch noch teuren Stoff bei ihm findet, legt er ihm die Daumenschrauben hat. Eric will um keinen Preis wieder zurück in den Knast und lässt sich breitschlagen. Schließlich waren es seine wiederholten Betteleien, die seinen Stiefvater in die Pleite trieben. Und beim Betteln hatte er wohl Hilfe der zuschlagenden Art. Aber den Mordvorwurf lässt er nicht auf sich sitzen.
Der Bruder
Nachdem Margo ihn verlassen hatte, ging Staniland zurück nach London und scheiterte mit dem Versuch, sich als Taxifahrer ein Auskommen zu verdienen. Den Unterhalt an Margo konnte er nach der Scheidung nicht mehr aufbringen. Seine Bruder ist ein Exmilitär mit einer frigiden Frau. Als unser Mann die beiden besucht, glaubt er sich in einem Antiquitätenladen. Es seien alles Erbstücke aus dem elterlichen Anwesen, verrät der Bruder. Doch schließlich gibt er zu, seinen Bruder Charles mit einem Almosen von 30.000 Pfund abgespeist zu haben. Ein Butterbrot, wenn es je eins gab. George lehnte jede Bitte seines Bruders um Geld ab, was den Cop angesichts dieser Umgebung nicht im geringsten wundert.
Femme fatale
Der Sargnagel war offenbar die hoffnungslose Liebe zu Barbara Spark, einer Prostituierten. Sie muss Stanilands mentale Erholung nach seiner Rückkehr vollends gebrochen haben, denn sie hat sich in der Kneipe „Henry of Agincourt“ auch mit einem Typen eingelassen, der dort als der „Laughing Cavalier“ bezeichnet wurde. Sein wahrer Name lautet offenbar Harvey Fenton. Offenbar prügelten sich die beiden Rivalen mehrmals. Das freute Barbara, denn sie hasste Schwächlinge, die keinen hochkriegen.
Da es keinerlei Beweise oder Indizien gibt, wer Staniland die Rippen gebrochen, ihn erstochen und zu Tode geprügelt hat, muss unser Ermittler Barbara Spark als Kronzeugin ausfindig machen. Nachdem er bereits fünf Klubs südlich der Themse abgegrast hat, stößt er endlich auf sie. Ihre körperlichen Reize sind außergewöhnlich gut entwickelt, aber sie hat eine schwarze Seele, soviel wird bereits am ersten Abend klar. Er muss den autoritären Macker spielen, denn er will nicht das gleiche Schicksal erleiden wie der bedauernswerte Staniland. Als er bei ihr übernachtet, ist er der erste Kerl, bei dem sie je einen Orgasmus erlebt hat. Sagt sie jedenfalls.
Danger Zone
Nach etwas Nachdenken erkennt unser Schnüffler, dass er Gefahr läuft, sich in „Babsie“ zu verlieben, und das wäre ungefähr das Schlimmste, das ihm und seiner Ermittlung passieren könnte. Und wer weiß, vielleicht werden sich auf einmal auch Harvey Fenton und seine Knochenbrecher für ihn interessieren…
Mein Eindruck
Den Hauptanteil des Textes nehmen Stanilands Erzählungen auf den Kassetten ein, die unser Chronist, ein Sergeant der Abteilung 14, der „Factory“, abspielt. Die Reihenfolge ist wahllos und durcheinander, ein erzählerischer Kniff der New Wave der sechziger Jahre, aber auch ein Mittel der Dekonstruktion: Die Vergangenheit ist kein wohlsortierter Selbstbedienungsladen, sondern eine Sammlung von Bruchstücken.
Diese in eine gewisse Reihenfolge auf der Wahrnehmungsebene zu bringen, ist auch die Aufgabe des Lesers. Am besten liest man sie deshalb zweimal. Jede Art von Zwangsläufigkeit oder gar Schicksalhaftigkeit im Leben des Charles Staniland wird auf diese Weise vereitelt. Ansonsten würde ja der Eindruck entstehen, er habe zum Opfer werden MÜSSEN. Das wäre fatal.
Auch die Ermittlung unseren Chronisten verläuft alles andere als konsequent und zielgerichtet. Wie in einer Spiralbewegung, die ins Zentrum führt, klappert er zunächst die einzelnen Randfiguren in Stanilands Leben ab. Er stößt auf Gleichgültigkeit, vielfach auch auf Ablehnung. So gebildet Staniland auch war – mindestens so gebildet wie der Autor selbst, als er Eton mit 16 Jahren den Rücken kehrte -, so wenig Willkommen zeigten ihm die BBC, die Franzosen und die Pub-Besucher. Von der Taxigesellschaft, für die er zeitweilig arbeitete, wurde er ausgebeutet, dann fallengelassen. (Der Autor kannte solche prekären Verhältnisse aus eigener Anschauung.) Er hat seine Frau nicht mehr den Unterhalt zahlen, verliert sie und seine Tochter. Das zieht ihn endgültig runter.
Babsie
Da wo Staniland versagt, da reüssiert Barbara Spark. Sie zahlt einen Preis dafür: ihr Gewissen, falls sie je eines hatte. Und ihre Freier zahlen sowieso. Dass sich ausgerechnet Staniland wie eine Klette an sie hängte, muss ihr lästig vorgekommen und geworden sein: dieser Loser. Ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans ist quasi Ganovenpflicht. Aber es gibt einen Zeugen, den jungen Eric, einen Junkie und Hausbesetzer. Aufgrund der Schnüffelei unseren Chronisten wird Babsie und Co. klar, dass Eric ein Sicherheitsrisiko darstellt. Aber warum sollte auch Staniland sterben, der keiner Fliege was zuleide getan hatte?
Im Finale stürmt unser Cop in Basies Zimmer, in dem sie sich mit Harvey Fenton vergnügt. Er stellt das Pärchen zur Rede. Inzwischen weiß er durch einen kleinen, diskreten Einbruch, dass Harvey Fenton von Basies und seiner Mutter durch Töpfchen-Training zu einem willenlosen Diener gewacht worden ist. Unser Cop hat die Peitsche zerbrochen, mit der sie Fenton traktiert haben. Doch nun, in diesem Moment unterschätzt er Barbara immer noch – und zahlt dafür um ein Haar mit seinem Leben: Das von ihr geworfene Messer, das in seinem Hals steckt, entzieht ihm die Lebenskraft…
Unterm Strich
“Derek Raymond”, geboren als Robin Cook, gilt als der Schöpfer des britischen Noir-Krimis. Der vorliegende Roman, der die Factory-Reihe eröffnet, beweist, dass er das wirklich war. Im Vorwort belegt James Sallis, dass andere Autoren, besonders aus USA, gegenüber den hoffnungslosen Szenarien, die Raymond entwarf, verblassen und als Chorknaben wirken. Das Opfer Charles Staniland ist eine Art Hiob, doch seine Geliebte Barbara Spark spielt den Todesengel. Sich mit ihr einzulassen, ist das riskanteste, das der Ermittler tun kann. Das Risiko ist absolut real, wie seine Nahtoderfahrung beweist.
Warum starb Charles Staniland mit OFFENEN Augen, mag sich der Leser fragen. Die Antwort ist einfach: Weil niemand sie für ihn geschlossen hat, um ihm frieden zu schenken. Dass er überhaupt „an Land“ neben der Schnellstraße gefunden wurde, ist überhaupt eine Art Betriebsunfall der Ganoven gewesen. Er sollte eigentlich in irgendeinem Gewässer entsorgt werden.
Sein Leben war nichts wert? Seine Aufzeichnungen auf den Kassetten schildern das Gegenteil: Er hatte Haus, Frau und Tochter, ein Einkommen in Frankreich. Viele hätte daraus werden können. Doch er war unangepasst, und das machte ihn an vielen Stellen lästig. Bei Babsie war Endstation, denn für sie hatten nur dominante Männer einen Wert. War einer zu schwach, unterwarf und dressierte sie ihn. So widerfährt es Harvey Fenton. Dass unser Cop so viele Fragen stellt, macht sie misstrauisch. Sie ist ein Überlebenstyp, und sie sorgt mit allen Mitteln dafür, dass dies so bleibt. Das bekommt auch ein Cop wie unser Chronist, zu spüren. Die Handlung könnte spannender sein, aber das hammerharte Finale gleicht dieses Manko wieder aus.
Taschenbuch: 270 Seiten
ISBN-13: 978-3946582014
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Der Autor vergibt: