E. F. Benson – Das unheimliche Turmzimmer (Gruselkabinett Folge 178)

Unheilvolle Vorbestimmung

Sussex, 1912: Beängstigende Alpträume plagen Clive Fellows über Jahre hinweg und prophezeien ihm einen schaurigen Aufenthalt in einem Turmzimmer. Als er von einem neuen Freund in dessen Anwesen eingeladen wird, um dort die Nacht zu verbringen, scheint sich der Traum zu bewahrheiten. Ausgerechnet im Turm soll er untergebracht werden, und dieser kommt ihm merkwürdig bekannt vor, vor allem das dort hängende Portrait… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Edward Frederic Benson (24. Juli 1867 – 29. Februar 1940) war ein englischer Romancier, Biograph, Memoirenautor, Archäologe und Kurzgeschichtenautor, bekannt unter dem Namen E. F. Benson. Seine Freunde nannten ihn Fred.

Benson wurde am Wellington College in Berkshire geboren, als fünftes Kind des Rektors, Edward White Benson, dem späteren Erzbischof von Canterbury. Benson studierte am Marlborough College in Marlborough, Wiltshire, und am King’s College in Cambridge.

E. F. Benson verfasste über 90 Bücher. Die populärsten waren seine komischen Romane über Dodo („Dodo“, „Dodo the Second“ und „Dodo Wonder“, 1914–1921) und Lucia, beginnend mit „Queen Lucia“ (1920) und „Lucia in London“ (1927). Außerdem verfasste er 1912 die Gruselkurzgeschichte „Die Turmstube“ („The Room in the Tower“). Zwischen 1911 und 1940 veröffentlichte Benson auch fünf Ausgaben mit persönlichen und familiären Erinnerungen.

Sein Bruder Arthur Christopher Benson wurde ebenfalls als Schriftsteller bekannt. Seine Schwester Margaret Benson war die erste Frau, die eine Lizenz in Ägypten erhielt und dort Ausgrabungen im Tempelbezirk der Göttin Mut in Karnak durchführte. Ihr Bruder „Fred“ unterstützte sie 1897 dabei, indem er Pläne zeichnete.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Clive Fellows: Simon Jäger
Dr. Herrmann: Jürgen Thormann
Julia Stone: Luise Lunow
Jack Stone / Diener Thomas: Marc Gruppe
John Clinton: Jens Wawrczeck
Mrs. Clinton: Ursula Sieg

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio und den Planet Earth Studios, bei LiveLive und Advertunes statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Clive Fellows ist bedrückt und sucht deshalb Dr. Herrmann, den Psychiater, auf. Seit 15 Jahren, erzählt Clive, habe er immer denselben Albtraum. Darin tauchen Leute aus seiner eigenen Kindheit auf, darunter sein Schulkamerad Jack Stone. Der lebt auf einem großen Anwesen, auf dessen Rasen gerade eine Art Tee-Party stattfindet. Es ist heiß, und nur ein großer alter Baum spendet Schatten, in der Nähe ragt ein alter Turm empor. Jacks Mutter begrüßt Clive freundlich und sagt, sie haben für ihn ein Zimmer in diesem Turm. Doch er schafft es nie ganz hinauf in dieser Zimmer, denn dort lauert etwas, das ihn mit Grauen erfüllt.

Das Merkwürdige ist jedoch, dass die Menschen in seinem wiederkehrenden Traum alt werden, während sie immer wieder den gleichen Ablauf wiederholen. Mrs Stone, die ihr Mantra wiederholte, stirbt zwar, doch auf ihrem Grabstein, der keineswegs auf einem Friedhof emporragt, steht unter jenem großen Baum im Schatten, und darauf steht: „In böser Erinnerung: Julia Stone“. Und wenn ihn Jack Stone hoch ins Turmzimmer führt, riecht Clive Verwesungsgeruch…

Höchst sonderbar, findet Dr. Herrmann. Vor allem, weil Clive dieses Haus nie real gesehen hat. Der Psychiater beruhigt ihn mit der Versicherung, dass es ziemlich unwahrscheinlich sei, dass er dieses Traum-Haus mal sehen werde.

Das Turmzimmer

Clive lernt in London John Clinton kennen, der ihn auf seinen Landsitz in Sussex einlädt. Dort angekommen, hat Clive ein massives Gefühl des déjà vu: Es ist das Landhaus aus seinem Albtraum. Da ist der Rasen, der große Baum, der alte Turm und die alte Begrenzungsmauer. Das Golfspiel ist erfrischend, hinterher gibt es eine Teegesellschaft, und Mrs. Clinton, Johns Mutter, findet Clive „entzückend“. Sie habe für ihn ein Zimmer im Turm reserviert (wo sonst?). Ein Gewitter rollt an und verspricht, die schwüle Hitze zu vertreiben. Beim ersten Donnerschlag scheucht man Clive hinauf in sein Quartier. Er ist nicht beklommen, sondern neugierig.

Unter dem Fenster zu seinem Zimmer entdeckt Clive, was er bereits erwartet hat, als würden sich Traum und Realität vermischen oder überlagern: das Grab der alten Julia Stone, mit seiner missgünstigen Inschrift. Clive ist erleichtert: Alles ist, wie es sein sollte. Nur zwei Dinge sind neu im Turmzimmer: eine Zeichnung mit der Signatur von Jack Stone und ein riesiges Gemälde seiner Mutter – Julia Stone, wie sie leibt und lebt: alt, weißhaarig und mit bösem Blick, der sich schon auf die Ergreifung des Betrachters freut.

Weil ihr Blick ihn und John Clinton zu verfolgen scheint, nehmen sie ab. Es ist erstaunlich schwer, so dass sie den Butler hinzurufen. Als sie es abstellen, bemerken alle. Dass ihre Finger Blut aufweisen – aber keine Schnitte. Erst als es schon 23 Uhr ist, bricht das Gewitter mit einem lauten Donnerschlag los. Im Turmzimmer ist alles in Ordnung, scheint es Clive, und er legt sich schlafen. Ein weiterer Donnerschlag weckt ihn: Das Gemälde hängt wieder an der Wand – und am Fußende seines Bettes steht der dunkle Geist von Julia Stone…

Mein Eindruck

Wie der Geist von Julia Stone vertrieben wird, darf hier nicht verraten werden. Auch die Frage, was denn die Dame, die laut Grabinschrift „in böser Erinnerung“ gehalten wird, bitteschön mit Clive Fellows zu tun hat, wird bis zum Schluss unbeantwortet bleiben. Allerdings verrät uns wenigstens der Schluss, was es mit ihr auf sich hat. Sie ist eine Selbstmörderin. Als wäre Sussex immer noch unter der Herrschaft der römisch-katholischen Kirche, soll sie daher in ungeweihter Erde begraben werden. Der Sarg kehrt immer wieder zurück. Daraufhin lässt sie der Landbesitzer, eben John Clinton, exhumieren und verbrennen, als wäre sie eine mittelalterliche Hexe.

Während diese Vorgänge tief in die Vergangenheit weisen, liegen sie für Clive Fellows zu Anfang immer noch in der Zukunft. Diese ziemlich schräge Temporalkonstruktion macht den Reiz der schaurigen Erzählung aus. Dem Hörer schwant, dass Clive etwas Schlimmes bevorsteht, was mit dem titelgebenden Turmzimmer zu tun haben muss. Und diese Vorahnung sorgt für gehörige Spannung. Auch das Mantra, das Julia Stone bis zum Schluss wiederholt, kann nichts Gutes bedeutet: „Ich habe im Turm schon ein Zimmer für dich vorbereitet.“ Das Mantra suggeriert die Unausweichlichkeit eines Ereignisses, das noch geschehen muss.

Unerwartet erscheint indes Clives Reaktion, als er schließlich vor dem Turm steht: Er fühlt sich nicht beklommen, sondern neugierig. Alles ist, wie es gemäß seinem Traum sein soll, doch nun kommt etwas hinzu, das er noch nicht kennt: Es ist, als befände er sich seit 15 Jahren in einer TV-Serie, die nun endlich einem neuen Regisseur anvertraut worden ist. Anders als erwartet, bietet das Neue jedoch nichts Schönes, sondern eine weitere „Drehung der Daumenschraube“ (Henry James) des Grauens.

Da zwischen Clive und Julia Stone, seiner Nemesis, vom Erzähler keine Verbindung hergestellt, etwa eine obskure Verwandtschaft, muss die Bedeutung des Geschehens anders abgeleitet werden. Julia Stone ist der böse Hausgeist, den die Menschen der Gegend durch ihre Verbrennung erzeugt haben und der nun jeden beliebigen (!) Besucher des Turmzimmers, in dem sie sich erhängt hat, heimsucht. Hier wird die Ironie vollständig: Sie erhängte sich, weil sie ewiges Leben erlangen wollte (was etwas widersinnig erscheint), und das hat sie ja nun erhalten: als böser Geist, der niemals Erlösung erlangen kann.

Der „Fluch der bösen Tat“ greift offenbar um sich, so dass auch unbeteiligte Personen wie Clive davon berührt werden, 15 Jahre lang. Das ist etwa so, als würden die Gräueltaten des Ukraine-Kriegs per Telepathie in die Träume der Schlafenden gelangen, um sie zu quälen. Der Psychiater Dr. Herrmann kann seinen Klienten nur vertrösten und beruhigen, aber den Traum zu vertreiben, liegt ihm offenbar fern. Es ist ja auch kein prophetischer Traum, wie ihn gewisse Figuren aus dem Alten Testament gesandt bekommen haben. „Nur ein Traum, nichts weiter“ – was hätte wohl Hamlet bzw. sein Schöpfer dazu gesagt? „Nur ein Schlaf und ein Vergessen“? Nicht für Clive Fellows.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Die Hauptfigur Clive Fellows wird von Simon Jäger ausgezeichnet gesprochen. Jäger ist ein altbewährter Routinier und kennte jede Nuance für jeden Moment. Dr. Herrmann wird von Michael Caines Stimmbandvertretung Jürgen Thormann gesprochen und hat, offen gesagt, recht wenig zu tun; er dient lediglich als Echokammer, damit uns Clive nicht alles selbst erzählen muss.

Julia Stone, gesprochen von Luise Lunow, bildet das Zentrum des Bösen in diesem Stück. Und an ihr Mantra (s.o.) wird man sich noch lange erinnern.

Mrs. Clinton, gesprochen von Ursula Sieg, ist quasi die Wiedergängerin der längst nicht exorzierten Julia Stone. Mrs. Clinton ist dazu verdammt, ihre Vorgängerin zu wiederholen – ohne es zu ahnen.

John Clinton, gesprochen von Jens Wawrczeck, ist ein Hexenverbrenner. Das würde man nicht vermuten, wenn ihm Clive Fellows begegnet und ihn so sympathisch findet, das er mit ihm Golf spielt. Clive führt uns also in die Irre, und auch Johns sonstiges Gebaren verrät nicht, dass er einst Julia Stones Leiche endgültig ins Jenseits befördert hat. Dabei machte er einen entscheidenden Fehler, so dass sie als Geist weiterspukt: Er ließ die Selbstmörderin nicht erlösen.

Der junge Jack Stone und der Diener Thoma werden beide von Marc Gruppe gesprochen. Seine Kompetenz in kleinen Rollen hat er schon viele Male unter Beweis gestellt. Von Cameo-Auftritten à la Hitchcock kann man deshalb nicht mehr sprechen.

Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln, klappernde Teetassen, Kaminfeuer, tickende Uhren – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Tierstimmen spielen wie so häufig eine wichtige Rolle, repräsentieren sie doch die unschuldigen – und ungezähmten – Kräfte der Natur: Als der Hund Toby auf den Kater Darius losgeht, wird dem Hörer signalisiert, wie sehr die Welt aus dem Lot ist, denn normalerweise sind die beiden beste Freunde.

Dass im letzten Drittel ständig Donner grollt und Blitze krachen, setzt dem nur die Krone auf. Nur die Spukerscheinung selbst fehlt jetzt noch. Der Erscheinen bzw. ihre Wahrnehmung in Clives Bewusstsein sind von einer akustischen Verzerrung begleitet. Wir können seiner Wahrnehmung und Darstellung nicht vertrauen.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die Spannung von Szene zu Szene, bis die Spannung in der Spukszene im Turmzimmer kulminiert. Tiefe Bässe, so fand ich heraus, kommen am besten mithilfe einer Soundbar zur Geltung.

Die Tonregie hat sich einen kleinen Scherz erlaubt, wie mir scheint: Schon der Name „Dr. Herrmann“ weckt die Assoziation an die Musik von Bernard Herrmann in Hitchcocks Thriller „Psycho“. Wenn mich nicht alles täuscht, ertönen an einer Stelle dieses sehr ausgefeilten Soundtracks auch die kreischenden Geigen aus „Psycho“. Julia Stone, dargestellt auf dem Cover, spielt in diesem Kontext die böse, untote Mutterfigur dar – in diesem Fall jene Frau, die John Clinton wie eine Hexe verbrannt hat.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der das Porträt der Selbstmörderin Julia Stone zum leben zu erwachen droht – natürlich im titelgebenden Turmzimmer. Im rechten Fenster ist ein Blitzstrahl zu sehen. Im Vordergrund steht ein zugedecktes Bett, das den bedauerlichen Betrachter dieses Horrors beherbergen dürfte.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS bis Herbst 2022 verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Folge 176: Crawford: Das Lächeln des Toten
177: Ludwig Bechstein: Furia Infernalis
178: Benson: Das unheimliche Turmzimmer
179: Heron: Der Fall Medhans Lea – Flaxman Low 3
180: Blackwood: Das unbewohnte Haus
181: R. Conner: Das gefährlichste Spiel der Welt
182: F.G. Loring: Sarahs Grabmal
183: Eric Stenbock: Die andere Seite
184: Bertha Werder: Das Haar der Sklavin

Unterm Strich

Kann die Schuld zweier Verbrechen auch Unschuldige treffen? Das scheint die zentrale Frage zu sein, die der Autor seinem Publikum zu stellen scheint. Denn der Frau, deren Porträt im Turmzimmer ausgestellt ist – siehe Titelillustration – wurde zweimal Unrecht getan: Erst wurde ihr als Selbstmörderin ein geweihtes Grab verweigert und zweitens wurde ihr exhumierter Leichnam vom lokalen Landesherrn verbrannt, als wäre sie eine Hexe. Ihr Verbrechen: Sie wollte das Geheimnis ewigen Lebens erlangen. Ewiges Leben hat sie nun ironischerweise wirklich erlangt, sehr zum Bedauern ihrer Zeitgenossen: Sie ist dazu verdammt, die Bewohners des Turmzimmers heimzusuchen – vorzugsweise während eines krachenden Gewitters.

Eine weitere Ironie: Der Besuchers dieses Spukortes weiß bereits, was ihn dort ungefähr erwartet: Seine Träume haben es ihm verraten. Sie sind bis zu diesem Augenblick sein persönlicher Alptraum gewesen. Aber ob ihm die Spukerscheinung auch die Erlösung vom Fluch bringen wird, darf hier nicht verraten werden. Das einzige, was dem Hörspiel fehlt, sind Romantik und gefüllte Lücken in der Logik.

Das Hörspiel

Dieses Hörspiel macht durch seine ausgefallene Zeitabfolge neugierig: Der Protagonist ahnt 15 Jahre lang, was eines Tages auf ihn wartet. Als die erträumte Szene dann eintritt, spitzt sich die erahnte Angst zu einem Alptraum zu, der in einem grausigen Finale gipfelt. Hier trifft der viktorianische Okkultismus auf die Psychoanalyse von Freud, Adler und Jung.

Die ausgefeilte Tonkulisse, die etwas an „Psycho“ angelehnt ist, macht diese Folge des Gruselkabinetts zu etwas Besonderem. Denn damit der ungewöhnliche Plot funktioniert, der doch ein paar Lücken aufweist (s.o.), muss die Musik die Emotionen des Hörers ganz gehörig „massieren“, bis aus Beklemmung erst Angst und dann Panik wird. Die Geräuschkulisse mit Donnerschlag und Blitzekrachen ergänzt die Musik ausgezeichnet.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Die Sprecherriege für diese neue Reihe ist höchst kompetent und renommiert zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars wie John Malkovich (Tennstedt) und George Clooney (Bierstedt). Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars Clooney und Malkovich vermitteln das richtige Kino-Feeling.

CD: Länge: ca. 60 Minuten
ISBN-13: 9783785783887

http://www.titania-medien.de

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