Garland, Alex – Koma, Das

Ein junger Mann wird in der Londoner U-Bahn brutal zusammengeschlagen, wird bewusstlos und fällt ins Wachkoma. In der Parallelwelt versucht er zu erkunden, was mit ihm geschehen ist und wie er seine neue Existenzform zu bewerten hat. Am Schluss steht die Erkenntnis: „Du wachst auf, du stirbst.“

_Der Autor_

Der 1970 geborene, britische Autor Alex Garland lieferte mit seinem Aussteiger-Roman „Der Strand“ die Vorlage zu dem erfolgreichen DiCaprio-Film „The Beach“. Doch wesentlich stilvoller sind die verwobenen Erzählungen in dem Nachfolgeroman „Manila “ („Tesseract“). Garland lebt in London, wo sonst.

_Handlung_

Als Carl, ein junger ehrgeiziger Büroangestellter mit der letzten U-Bahn nach Hause fährt, wo seine Freundin Catherine auf ihn wartet, wird er Zeuge, wie vier Rowdies eine junge Frau belästigen. Er versucht, ihr zu Hilfe zu kommen, wird aber daraufhin brutal zusammengeschlagen.

Er erwacht erst nach einigen Tagen tiefer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus. Dem Polizisten kann er kaum antworten, denn sein Kiefer ist gebrochen. Etwas später darf er nach Hause zurückkehren, und dabei macht er eine schockierende Entdeckung. Seine Umgebung verändert sich ohne sein Zutun. Die Welt, die ihn umgibt, beginnt, ihm frend zu werden und er hat das Gefühl, sich in einer Traumlandschaft zu bewegen. Traum und Wirklichkeit sind ununterscheidbar geworden.

Da taucht ein Taxifahrer auf, der ihn zurück ins Krankenhaus fährt und ihm ein bestimmtes Bett zeigt. Darauf liegt ein schlafender Mann: Carl selbst. „Dies ist der Koma-Trakt“, sagt der Pfleger. Und wie kommt nun der im Wachkoma liegende Carl zurück in das, was wir als Wirklichkeit anerkennen? Es ist ein langer Weg voller Mühen. Wird das Ziel die Anstrengung lohnen?

_Grafiken_

Die jedem der sehr kurzen Kapitel vorgeschalteten Schwarzweiß-Grafiken sehen ein wenig aus wie Holzschnitte, doch dürfte die Technik eine andere sein. Ich bin dafür kein Experte. Der Künstler heißt Nicholas Garland, offenbar ein Verwandter des Autors. Tipp: Man kann durch schnelles Blättern das Buch auch als Daumenkino benutzen.

_Mein Eindruck_

Der Kurzroman mutet wie eine Phantasie von Philip K. Dick an. Für diesen Altmeister wäre sie allerdings lediglich eine Fingerübung gewesen. Garland beschränkt sich auf Erfahrungen seiner Hauptfiguren, die wir auch nachvollziehen können. Carl schwebt nicht zum Mars oder sonstwohin, sondern bleibt brav in London. Seine geistige Reise führt ihn – wie könnte es anders sein? – zurück in die früheste Kindheit, wo er seinen Eltern begegnet. Aber auch in der Rückbesinnung auf das, was er an jenem Unglücksabend im Büro tat, findet er Hinweise darauf, wie er seine „geistige Gesundheit“ zurückerlangen kann.

Doch der Autor zeigt, dass die Rückkehr keineswegs einfach ist. Das Erinnerungsvermögen des Menschen funktioniert eben nicht linear, sondern assoziativ, und so mag es nicht verwundern, wenn Carls Gedächtnis nur Fragmente von Sätzen aus den Bürodokumenten zusammenkratzt. Drei chinesische Figuren dienen als Haltepunkte – sie teilen den Gesamttext kontrapunktisch in mehrere Segmente auf. Was aber am meisten beunruhigt, ist Carls Erkenntnis: „Du wachst auf, du stirbst.“

Dieser Satz wirft ein Schlaglicht darauf, dass auch das Dasein im Koma eine legitime Existenzform sein kann. Es ist ein Parallel-Leben, nur eben in einer anderen Dimension der Wahrnehmung und Erinnerung. Zahllose Menschen in Krankenhäusern rund um den Globus teilen diese Erfahrung. Auch Douglas Coupland wusste darüber zu schreiben: in „Girlfriend in a Coma“.

Der Durchbruch ins „Wachsein“ ist daher für Carl & Co. keineswegs schmerzlos, sondern wie ein Geburtsvorgang der Austritt ins Ungewisse. Carl überlässt es dem Leser seines Berichts zu erraten, was er als erstes sieht.

_Unterm Strich_

Dies könnte das Vorspiel zu Danny Boyles Horror-Zukunfts-Vision „28 Days“ sein. Die männliche Hauptfigur liegt im Koma und erwacht in einer auf schreckliche Weise veränderten Welt. Doch „Koma“ schildert nicht das Ende, sondern den Anfang dieses Eintritts in eine Parallelwelt. Das Koma als legitime Existenzform hätte sicher auch Philip K. Dicks gebrochenen Helden gefallen.

Hier sind Traum und Wirklichkeit ebenso ununterscheidbar wie die eigene Identität unerkennbar. Die anderen Leute, denen Carl begegnet, scheinen ihn alle zu kennen, doch ist Carl wirklich der, für den sie ihn halten? Seltsame Sprünge geschehen in seiner Zeitwahrnehmung, als sei sein Leben ein Film aus geschnittenen Szenen. Wurde sein Gedächtnis editiert? Carl hat in einem Büro an Dokumenten gearbeitet, die sich mit anderen Staaten wie etwa Columbien befassen. War er ein Regierungsagent? Wurde er überwacht und bei Gefahr „aus dem Verkehr gezogen“?

Uns bleiben nur Spekulationen darüber, was Garland andeuten möchte. Doch es ist festzuhalten, dass die Lektüre anregend ist, denn Carl ist keineswegs blöd. Auch die Grafiken von Nicholas Garland tragen viel zum speziellen Reiz dieses Kurzromans bei (allerdings 160 Seiten statt der bei Amazon angegebenen 120).