Gerhard J. Rekel über seinen historischen Roman über den Orient-Express


„Der Orient-Express gilt als berühmtester Zug der Welt. Agatha Christie, Graham Greene und schließlich Hollywood machten ihn zum Mythos. Doch was ist die Geschichte des Orient-Express, wer hat ihn auf die Gleise gestellt, welche Vision steckte dahinter? Um 1880 stehen die Zeichen in Europa auf Nationalismus, viele europäische Länder streben eine Großmachtstellung an und schotten sich ab. In dieser Zeit taucht ein Mann auf, der die europäischen Staaten miteinander verbinden will: Georges Nagelmackers (1845–1905). Trotz Vorurteilen, Fremdenhass und bürokratischer Hindernisse gelingt es dem Eisenbahn-Pionier, ab 1883 Paris mit Konstantinopel zu verbinden und ein Netzwerk von über 180 europäischen Nachtzugverbindungen aufzubauen.

Georges Nagelmackers’ Lebensgeschichte, hier in Szene gesetzt und mit prächtigen zeitgenössischen Illustrationen versehen von Gerhard Rekel, ist ein Plädoyer für die hartnäckige Verfolgung einer Vision, das raffinierte Spiel über die Bande und den Glauben an den Umweg: geografisch, politisch und menschlich.“ (Verlagsinfo)

Ihr Buch eröffnet mit einer Krisensituation: Unser Held steht vor Erfolg oder Untergang. Wollten Sie ein spannendes Buch schreiben? Die Spannung, die eine Verschwörung erzeugt, haben Sie ja bereits in Ihrem Kaffee-Roman genutzt.

Rekel: Ich durfte vor drei Jahren eine 60-minütige Doku für ZDF & ORF der Reihe Terra X über den „Orient-Express“ drehen. Dabei ist mir aufgefallen, was für ein spannendes, abenteuerliches Leben sich hinter der Verwirklichung des „Orient-Express“ und weiterer 180 Nachtzugverbindungen in Europa verbirgt. Ich habe mich gefragt, wie hat dieser Mann es geschafft, in einer Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870 und des boomenden Nationalismus alle Metropolen Europas zu verbinden. Mit gerade mal 25 Jahren. Obwohl die Politiker, die Banken und sogar sein eigener Vater gegen das Projekt waren. Wie konnte er Grenzen überwinden, ohne E-Mail, Fax und anderen modernen Kommunikationsmitteln? Welches Geheimnis, welche Formel, welche Strategie verfolgte dieser Mann? Das Herauszufinden und möglichst wahrheitsgetreu und spannend zu erzählen, war mein Hauptmotiv.

Nagelmackers, Belgien und die Eisenbahn, so beginnt das zweite Kapitel. Das Schicksal des „Helden“ ist von Anfang an mit dem der Eisenbahn verknüpft. Ist die Eisenbahn also nicht nur eine neue Technologie, sondern auch eine Chance, um ganze Nationen umzukrempeln?

Ich denke, die Eisenbahn ist ein Katalysator. Politisch, menschlich und industriell. Sie bringt Individuen über große Distanzen als auch in engen Abteilen zusammen. Erstmals konnten mit ihr Revolutionsaufrufe und Zeitungen über Nacht in nahezu alle Städte eines Landes befördert werden. Das war zuvor mit der Postkutsche nicht möglich, die Postkutsche erreicht im Schnitt kaum 15 km/h, braucht deutlich länger.

Der Orient-Express als völkerverbindendes Unternehmen und somit ein pazifistischer Erfolg. Dem steht jedoch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Widerspruch gegenüber. Ist Nagelmackers also letztendlich doch gescheitert und der Orient-Express nur ein Vehikel des Massentourismus?

Nagelmackers starb 1905, also vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges. Aber natürlich haben beide Weltkriege das Projekt der Nachtzüge und die Firma CIWL zurückgeworfen. Die Kriegsparteien haben Speise- und Schlafwagen konfisziert, viele der über 1000 Waggons wurden durch Kriegseinwirkungen zerstört. Trotzdem überlebte die Idee. Denn der „Orient-Express“ baut eine Brücke zwischen Morgen- und Abendland – obwohl der geografische Raum des Orients politisch durch Vorurteile belastet ist. Denn bei den meisten Menschen ist der Begriff „Orient-Express“ positiv konnotiert. Assoziiert wird ein Bild des Zuges aus vielen Filmen und den Romanen von Agatha Christie und anderen Schriftstellern. In diesem Bild schwebt etwas Exotisches und Romantisches, eine Sehnsucht nach Abenteuer, etwas Verbindendes.

Aus welchem Grund wollten Sie gerade dieses Buch schreiben? Ist auch Ihr Schicksal mit dem Orient-Express oder Nagelmackers verbunden?

Ja, beide Großväter waren Eisenbahner, der eine Lokführer, der andere Schaffner. Möglicherweise habe ich ferrophiles Blut (lacht).

Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?

Etwa zwei Jahre, zusammen mit einigen Eisenbahnexperten, die mich unterstützt haben. Es ist die erste Biografie weltweit über Nagelmackers. Er hatte in seinem turbulenten Leben keine Zeit, ein Tagebuch zu führen. Wir mussten also andere Belegstellen ermitteln.

Welches war der aufwändigste Part dieses Buchs? Waren es die historischen Illustrationen?

Eher die Faktenlage. Wir haben in Archiven in Paris, Wien, Brüssel und anderen Städten über 600 Belegstellen recherchiert, aus denen etwa 600 Fußnoten hervorgingen. Also Korrespondenzen, Zeitungen, Berichte, woraus ich ein Puzzle zusammensetzen konnte, das zeigt, was die unternehmerischen und privaten Strategien dieses Mannes waren. Ein wesentlicher Aspekt: der Umweg. Menschlich, politisch und geografisch. Nagelmackers hatte nie über die Diretissima seine Ziele erreicht. Er hat nahezu immer die bürokratischen und menschlichen Hindernisse mit Fantasie überwunden. Dies gilt sogar für seine Ehe, denn er heiratete eine geschiedene Frau, die höchstwahrscheinlich eine Hetäre war und deren Heirat in seiner konservativ-katholischen Familie zu einem Skandal geführt hätte. Aber auch diesen konnte er vermeiden. Dank eines klugen, fantasiereichen Umwegs.

Welches war der für Sie zufriedenstellendste Part bzw. Aspekt des Buches?

Gerade wo wir heute in einer dunklen Zeit leben, die von Krieg und Krisen dominiert wird, hat es mich sehr gefreut, mit „Monsieur Nagelmackers“ eine Geschichte erzählen zu dürfen, die von einer positiven Vision getragen ist und die berichtet, wie man Hindernisse ohne Gewalt überwindet. Oder wie es der letzte Nachfahre Baudouin Nagelmackers auf den Punkt bringt: „Georges Nagelmackers hat es geschafft, Europa zu verbinden ohne Krieg zu führen.“

Haben Sie die Reaktionen Ihrer Rezensenten und Leser erwartet oder waren Sie auch mal überrascht?

Ich war über die positiven Rezensionen erfreut, insbesondere von so renommierten Medien wie „Die Süddeutsche“, „Die Zeit“, „FAZ“ und „Handelsblatt“ Dass die Reaktionen in dieser großen Anzahl ausschließlich positiv waren, hat mich in der Tat überrascht. Und natürlich noch mehr gefreut.

https://www.kremayr-scheriau.at/

Das Interview führte Michael Matzer.