Gerritsens erster Thriller, mit einem Schuss Romantik
Die erste Leiche ist ein Rätsel: jung, schön, unverletzt. Sie hält ein Streichholzheft in der Hand, in das eine Telefonnummer geschrieben wurde, die von Adam Quantrell, dem Chef des Bostoner Pharmakonzerns Cygnus. Die zweite Leiche ist eine Warnung, auch sie wurde im Sozialghetto South Lexington gefunden. Das dritte Opfer, ein Bodybuilder, lebt noch. Rechtsmedizinerin Kat Novak fürchtet, ein Serienmörder gehe um. Doch was hat ein Konzernchef damit zu tun?
Die Autorin
Tess Gerritsen war eine erfolgreiche Internistin, bevor sie mit dem Medizinthriller „Kalte Herzen“ einen großen Erfolg errang. Es folgten mehrere mittelmäßige Thriller wie „Roter Engel“, die durchaus spannend zu unterhalten wissen.
Mit dem Bestseller „Die Chirurgin“ ist ihr auch der Durchbruch in Deutschland gelungen, denn dieser Thriller ist noch eine ganze Klasse härter: Der Mörder entfernt seinen weiblichen Opfern die Gebärmutter. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Meister“, und „Todsünde“ ist der dritte Roman mit Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department. „Body Double“ trägt in der Übersetzung den treffenden Titel „Schwesternmord“. „Blutmale“ war der sechste Roman in ihrer Serie um Detective Jane Rizzoli und die Rechtsmedizinerin Dr. Maura Isles.
Gerritsen lebt mit ihrem Mann, dem Arzt Jacob Gerritsen, und ihren beiden Söhnen in Camden, im US-Bundesstaat Maine.
Handlung
Kat Novak, geschiedene Gerichtsmedizinerin in Albion bei Boston, bekommt wieder einmal eine Leiche vorgelegt. Ein toller Start für den Tag. Die zwei Cops von der Mordkommission, Sykes und Ratchet, sind scharf auf ihr fachliches Urteil: War es Mord? Kat öffnet den Leichensack: Eine schöne junge Frau kommt zum Vorschein, äußerlich unverletzt, aber mit Einstichwunden in der Armbeuge – ein Junkie. Muss wohl eine Überdosis gewesen sein. „Oder?“, fragen die Cops. Ja, aber eine Vermutung reicht nicht für ihren Bericht. Kat schickt die entnommenen Proben der Unbekannten ans staatliche Labor von Massachusetts.
Das Besondere an dieser Leiche: In der Hand hält sie ein Streichholzheft aus einem exklusiven Lokal. Wie kommt eine Frau, die im Sozialghetto South Lexington gefunden wurde, in solch ein Lokal. Sofort ruft Kat die Nummer an, die in dem Heftchen steht: eine tiefe Männerstimme – auf einem Anrufbeantworter. Wenig später meldet sich deren Besitzer. Adam Quantrell will sofort vorbeikommen. Wie so hat er es so eilig, wundert sich Kat. Der eindrucksvolle Chef des Pharmakonzerns Cygnus identifiziert die Leiche nicht: Es sei eine Unbekannte.
Tags darauf landet die zweite Frauenleiche auf ihrem Untersuchungstisch. Diesmal aber mit Identität: eine Xenia. Mit den gleichen Symptomen und dem ähnlichen Fundort, in South Lexington. Dem Vorort, aus dem Kat selbst stammt: Fünf hohe Wohnblocks, in denen das Verbrechen das Zepter schwingt. Auch diesmal kann Quantrell die Frau nicht als die Gesuchte identifizieren: Er sucht Maeve, seine Stieftochter, die sich von ihm losgesagt hat und seit sechs Monaten untergetaucht ist.
Kat lässt sich dazu bewegen, dem attraktiven Mann zu helfen, seine Tochter zu suchen. Mit ihrem klapprigen Subaru fahren sie nach South Lexington, wo sich die Verhältnisse seit ihrem Abschied nicht im Geringsten gebessert haben, eher im Gegenteil. Als sie nach dem Besuch bei einem alten Freund wieder gehen, ist Kats Wagen verschwunden – geklaut. Nicht genug damit, werden sie auch noch von Jugendlichen überfallen und ausgeraubt. Der eigentliche Grund, so erkennt Kat, ist nicht Geldgier, sondern Angst: Quantrells Tochter will nicht gefunden werden. Letzte Warnung!
Als ein drittes Opfer in einem Krankenhaus von South Lexington landet, diesmal ein starker Mann im Koma, weiß Kat bombensicher, dass sie es mit einer Mordserie zu tun hat. Aber keiner will ihr glauben – außer Quantrell. Aber kann sie einem Konzernchef trauen? Als sich herausstellt, dass die Killerdroge aus seinem eigenen Labor stammt, findet sie ihn erst recht verdächtig. Er beteuert weiterhin seine Unschuld: Das Zestron-L sei überhaupt nicht zugelassen und niemand könne es aus seinem Hochsicherheitslabor entwenden! Wirklich niemand? Seit Maeve hier arbeitete, wurde nicht einmal der Zugangscode geändert, also …
Als weder Bürgermeister Sampson noch Kats Ex, der Bezirksstaatsanwalt, ihr zuhören wollen, weil die Zweihundertjahrfeier nicht gestört werden soll, beginnt Kat auf eigene Faust weiterzuermitteln. Mit fatalen Folgen – eine allerletzte Warnung?
Mein Eindruck
Wenn man den Angaben des englischen Verlags glauben darf, so stellt die vorliegende Ausgabe eine Überarbeitung des ursprünglichen Romans „Peggy Sue Got Murdered“ aus dem Jahr 1999 dar, die auch bei uns erschien (siehe u. a. amazon.de). Und dem Verlag zufolge stellt der Roman den Übergang zwischen der Romanzenphase der Autorin und dem Thrillergenre dar, in das sie um das Jahr 2001/2002 mit „Der Chirurg“ wechselte. Dieser Thriller wurde dann bekanntlich ein internationaler Bestseller.
Die Romanze
Interessant ist jetzt natürlich die Frage, ob den Leser, der einen Thriller à la „Chirurg“ erwartet, eine ekelhaft süßliche Romanze bekommt. Das ist dank der erwähnten Überarbeitung keineswegs der Fall. Zwar verlieben sich die beiden Hauptfiguren Kat Novak und Adam Quantrell immer noch ineinander, doch ist ihre weitere Zukunft mit Hindernissen gepflastert, die vor allem in Katrinas zweifelndem Herzen begründet. Schließlich hat sie erst sechs Monate zuvor eine Scheidung zu Ende gebracht. Ausgerechnet mit dem noblen Herrn Bezirksstaatsanwalt, den sie jetzt zur Lösung ihres neuen Falles beknien muss, um Infos zu bekommen.
Außerdem sind da noch Adam Quantrells noble Hütte, seine „Gesellschafterin“ Isabel und sein Butler Thomas. Kat kommt hingegen aus dem Sozialghetto: Soll das Aschenputtel wirklich in den Palast des Prinzen, ach was! – des Königs hineinheiraten? Die Antwort auf diese weltbewegende Frage lässt bis zum Schluss auf sich warten. Der Leser wird gehörig auf die Folter gespannt. (Doch wer die Romanzen-Klischees kennt, weiß, was ihn erwartet.)
Soziale Euthanasie
Von den Bewohnern des Sozialghettos sowie ihrem Big Boss bekommt Kat im Zuge ihrer Ermittlung mit Adam eine erstaunliche Antwort: Die Polizei stecke hinter den Morden mit Zestron. Kat fällt es schwer, sich solch eine Art „Stadtsäuberungsaktion“ vorzustellen – auch nicht zur Zweihundertjahrfeier der Stadt. Selbst Bürgermeister Sampson würde sie solche „soziale Euthansie“ an zweifelhaften Subjekten nicht zutrauen. Immerhin fielen dem Teufelszeug aus Quantrells Labor ein paar ausnehmend hübsche Damen zum Opfer.
Doch was kann sonst dahinterstecken, fragt sie sich hartnäckig. Erst ganz zum Schluss macht sie die Arbeit eines richtigen Privatermittlers, stellt sich auf die Straße, klappert Adressen ab, wird endlich fündig, meldet dämlicherweise ihren Fund – und muss sich sogleich ihrer Haut erwehren. Der Showdown am Hafen hat alle Zutaten, die ein Actionthriller braucht, inklusive improvisierter Waffen und einem vermeintlichen Opfer.
Bevor es zum gewalttätigen Finale kommt, muss die Autorin einiges unternehmen, um das Interesse des Thrillerfreundes wachzuhalten. Ein Überfall hier, eine Bombe dort – das hat schon was. Danach darf sich unsere Prinzessin ein wenig im Palast des Königs, pardon: Quantrells erholen und die Liebe wiedererwecken. So viel Herzschmerz muss sein. Leider sind die Liebesszenen völlig ausgeblendet (es fehlt nur der zensierende Piep), sodass dem Voyeur keine Chance gegeben wird.
Unterm Strich
Man kann diesen emotionalen Thriller mit Romanzen-Szenen in nur einem Tag lesen. Ich brauchte zwei dafür, denn die Romanze interessierte mich nicht so wahnsinnig. Es ist von vornherein klar, dass allen Regeln des Genres zufolge Kat ihren Märchenprinzen bekommen wird – selbst wenn sie ihn zunächst gar nicht haben will und er obendrein höchst verdächtig ist. Aber Quantrell ist solch ein ehrlicher Charmeur, dass man ihm nicht böse sein kann. Hat ja auch sein Päckchen zu tragen.
Die Thrillerhandlung schlittert haarscharf an einer Verleumdungsklage vorbei. Vielleicht hat es die Autorin ja deshalb für nötig gehalten, aus Boston das fiktive Albion zu machen. Den Bürgermeister der sozialen Euthanasie zu verdächtigen, ist jedenfalls ein starkes Stück. Aber es hat ja schon Schlimmeres gegeben, wenn man an Bill Clintons misslungene Amtsenthebung denkt. „Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ – dieses Etikett bekommt auf einmal den bitteren Beigeschmack von Zyankali.
„Girl Missing“ ist der Prototyp für Gerritsens spätere Thriller. Trotz der Romanzenelemente ist es eine durchaus erträgliche Lektüre, denn Kat Novak ist eine starke Ermittlerfigur und ihre Ermittlung erweist sich als Entdeckungsfahrt in die Zwielichtwelt von Stadtverwaltung und Polizei. Tipp: Der gewiefte Leser sollte sich wichtige Details merken, die scheinbar nebenbei genannt werden. So kann er sich schon einen Reim darauf machen, was noch kommen wird.
Taschenbuch: 272 Seiten
Überarbeitete Neuauflage 2009
Der ursprüngliche Roman ist 1999 unter dem Titel „Peggy Sue Got Murdered“ erschienen
ISBN-13: 978-0593062753
https://www.penguin.co.uk/company/about-us
_Tess Gerritsen bei |Buchwurm.info|:_
[„Leichenraub“ 5366
[„Todsünde“ 451
[„Die Chirurgin“ 1189
[„Der Meister“ 1345
[„Roter Engel“ 1783
[„Schwesternmord“ 1859
[„Akte Weiß: Das Geheimlabor“ 2436
[„Scheintot“ (Lesung) 3913
[„Blutmale“ 4107
[„In der Schwebe“ 4454
[„Leichenraub“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5366
[„Grabkammer“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5740