Die Vorlage für Túrin Turambar
„Die Geschichte von Kullervo“ ist „der Ursprung meiner Versuche, eigene Legenden zu schaffen“, sagte JRR Tolkien. Die Hauptfigur ist ein tragischer Held wie Túrin, Turambar, Beren Einhand und Frodo. In direkter Linie ist er sogar die Vorlage für Túrin, den Drachentöter.
„Kullervo ist ein Waisenknabe mit übernatürlichen Kräften und einem Schicksal voller Schrecken. Er wächst bei seinem Onkel auf, dem finsteren Magier Untamo. Jener hatte einst seinen Vater umgebracht, seine Mutter entführt und Kullervo selbst, als er noch ein Junge war, dreimal zu töten versucht. Doch die Stunde der Rache ist nicht mehr fern.“ (korrigierte Verlagsinfo)
Diese etwa 1912 – noch vor der ersten Earendel-Geschichte – entstandene Geschichte wurde im Nachlass auf einem Dutzend großer Blätter im Folio-Format gefunden. Der komplette Text ist mit Anmerkungen und Kommentaren versehen. Das gleiche gilt für Tolkiens Aufsatz „Über das Kalevala oder Das Land der Helden“, der angehängt ist.
Die Herausgeberin Verlyn Flieger hat neben der Einleitung noch einen Essay mit dem Titel „Tolkien, das Kalevala und Die Geschichte Kullervos“ beigefügt- Der Tolkien-Fan und -Experte bekommt also ein Konvolut, das auf dem Niveau von Tolkiens Epos über Sigurd und Gudrun angesiedelt und dementsprechend anspruchsvoll ist.
Der Autor
John Ronald Reuel Tolkien wird am 3. Januar 1892 in Bloemfontein in Südafrika geboren. Bei einem Verwandtenbesuch in England im Jahre 1896 stirbt Johns Vater an den Folgen eines Blutsturzes. Die Tolkiens, John, sein älterer Halbbruder Hilary und seine Mutter Mabel, bleiben daraufhin in England und werden von ihrer Familie finanziell unterstützt. Im Jahre 1900 entscheidet Mabel sich dazu, vom Protestantismus zum katholischen Glauben zu wechseln. Das empört ihre Familie, die ihr daraufhin den Geldhahn zudreht.
Vier Jahre später, am 14.November 1904, stirbt Mabel in einem diabetischen Koma. John und sein Halbbruder werden von einer Tante aufgenommen, und John geht an eine königliche Schule und bekommt ein Stipendium für das Exeter College in Oxford, das er 1913 mit Auszeichnung verlässt. Während dieser Zeit lernt er auch Edith Bratt kennen, die er 1916 heiratet. Kurz nach der Heirat muss er aber für das Königreich in den Ersten Weltkrieg ziehen. 1916 ist er in Frankreich stationiert und wird schwer krank. Dieser Krankheit hat er zu verdanken, dass er im gleichen Jahr nach Hause kann und nie mehr in den Krieg ziehen muss. Schon während dieser Zeit beginnt er an dem „Silmarillion“ zu arbeiten.
1918 bringt Edith das erste von fünf Kindern zur Welt: John Francis. Die drei ziehen nach Oxford, wo Tolkien sein angefangenes Sprachstudium wiederaufnimmt und beendet. Im Oktober 1920 kommt der zweite Sohn Michael zur Welt. Im selben Jahr zieht die Familie nach Leeds, weil John dort einen Platz als Dozent an der Uni bekommt. 1924 wird John zum Professor berufen und sein dritter Sohn Christopher kommt zur Welt. Dieser sorgt nach dem Tod seines Vaters dafür, dass alle Manuskripte vervollständigt und veröffentlicht werden. Ein Jahr später gewinnt John die Wahl zum Angelsächsischen Professor an der Uni in Oxford. Die Familie zieht wieder zurück nach Oxford.
1929 legt Tolkien den Grundstein zu „Der Hobbit“. Außerdem wird seine erste Tochter geboren: Priscilla. Im folgenden Jahr beginnt Tolkien mit dem Manuskript zum Hobbit“. Sieben Jahre später, am 21.September 1937, erscheint dann der „Hobbit“ bei Unwin und erhält viele positive Buchkritiken. Das Buch wird unter anderem mit dem „New York Herald Tribune“- Jugendpreis ausgezeichnet.
Im nächsten Jahr hat Tolkien schon konkrete Vorstellungen vom “Herrn der Ringe“, weil Raynor Unwin um eine Fortsetzung des „Hobbits“ gebeten hatte. Tolkien unternimmt mehrere Anläufe und schreibt jedes Mal den Anfang komplett neu. Nach dem Start herrscht aber wegen des Zweiten Weltkriegs, in dem zwei seiner Söhne dienen, erst einmal eine künstlerische Pause, die bis 1947 dauert. Erst jetzt fängt er wieder an, am „Herrn der Ringe“ zu arbeiten. Zwei Jahre später ist das Buch dann fertig, wird aber erst 1954/55 veröffentlicht, da Tolkien den „Herrn der Ringe“ zusammen mit dem „Silmarillion“ und mit allen Anhängen herausbringen wollte. Der Verlag verlangt aus Kostengründen (Papier war rationiert und teuer), dass das Buch in drei Teile aufgeteilt wird, die nacheinander erscheinen.
Am Anfang sind die Bücher nicht besonders erfolgreich, werden als absurd und schwer verständlich eingestuft. Erst nach dem Ace-Raubdruck ca. 1966 wird das Buch vor allem bei amerikanischen Studenten beliebt und schließlich zweimal verfilmt.
Im Jahre 1968 zieht Tolkien wegen seiner Frau noch einmal um, und zwar ins das Seebad Bournemouth, welches die Familie aus Urlaubsbesuchen kennt. Am 19. November 1971 verstirbt Edith an den Folgen einer Gallenblasenentzündung. Tolkien zieht wieder nach Oxford um, wo er als Ehrenmitglied auf dem Unigelände wohnt. Er erhält von der Queen den „Kommandeursorden des Britischen Empires“ (CBE). Außerdem hat er die Hoffnung, sein Lebenswerk, das „Silmarillion“, noch vor seinem Tod fertigstellen zu können. Aber Tolkien stirbt am 2. September 1973 achtzigjährig im Krankenhaus, als er gerade ein paar Freunde besucht. Im Jahre 1977 veröffentlicht sein Sohn Christopher das „Silmarillion“ nach radikaler Überarbeitung und bringt noch andere Bücher seines Vaters heraus.
J.R.R. Tolkien (1892-1973) verschlang schon als Schüler „Beowulf“ und die Abenteuer des Artus-Ritters Sir Gawain auf Mittelenglisch. Die Lektüre des finnischen Nationalepos „Kalevala“ war für ihn eine Offenbarung. Tolkien studierte in Oxford und wurde mit 32 Jahren zum Professor für mittelalterliche englische Literatur. Er lehrte nahezu 40 Jahre lang und gab u.a. ein mittelenglisches Wörterbuch heraus, das bis heute auf diesem Gebiet zu den Standardwerken zählt. Sein besonderes Interesse galt jedoch der Mythologie, den Sagen und Märchen. Tolkien zufolge spiegeln all diese Geschichten – auch die von ihm selbst erdachten – einen Funken ewiger Wahrheit wider.
Die Herausgeberin
Verlyn Flieger ist emeritierte Professorin für Englisch. Ihre Forschungsschwerpunkte an der Universität von Maryland waren vergleichende Mythologie und mittelalterliche Literatur. Sie hat zahlreiche Bücher und Essays zu Tolkiens Werk veröffentlicht.
Christopher Tolkien hat ihr beträchtlich geholfen. Von ihm stammen die Faksimiles für die Titelblätter und ein Original-Aquarell seines Vaters, das den Titel „Das Land Pohja“ trägt. Es zeigt drei beieinander stehende Bäume vor einem violett-grauen Hintergrund.
INHALTE
Vorwort und Einleitung der Herausgeberin
Die Herausgeberin erläutert auf mehreren Wegen und in Schleifen, worum es im Grunde geht: Dass „Die Geschichte von Kullervo“, die Tolkien um das Jahr 1912 herum verfasst haben muss, die früheste Arbeit an einem eigenen Legendarium darstellt. An der Vorlage aus dem finnischen Nationalepos „Kalevala“ hat er nämlich schon zahlreiche eigene Änderungen vorgenommen, eine Namenliste angelegt und mehrere Handlungsskizzen angelegt, die den Fortgang seines Epos-Fragments erahnen lassen. Die erste Geschichte seines eigenen Legendariums entstand wohl erst um 1916, als er im Lazarett vom Grabenfieber genas. Deren Thema war ein rätselhaftes altenglisches Wort namens Earendel…
Von zentraler Bedeutung ist im vorliegenden Buch die Hauptfigur Kullervo. Er ist ein Ausgestoßener wie Beren, Túrin Turambar und eine Waise wie Frodo Beutlin (der ebenfalls bei seinem Onkel aufwächst, einem geheimnisumwitterten Typen namens Bilbo). Folglich darf die Herausgeberin eine direkte literarische Herkunftslinie vom Kalevala über „Die Geschichte Kullervos“ und „Das Silmarillion“ bis zum „Hobbit“ und „Der Herr Ringe“ herstellen. Diese Linie war bis zum Jahr 2015, als ihr Buch erschien, der Literaturwissenschaft unbekannt gewesen und folglich der Einfluss des Kalevala von den Forschern völlig unterschätzt worden. Tolkiens Biograph Humphrey Carpenter wagte es beispielsweise, dem Einfluss des Kalevala nur eine „oberflächlichen“ Wirkung zuzugestehen. Wie man sich doch irren kann.
Die Geschichte von Kullervo / The Story of Kullervo (zweisprachig)
In jener Zeit, als der Zauber noch jung war, geschah es, dass ein Adler und ein Falke die Küken der heiligen Schwänin entführten und sie in zwei verschiedenen Ländern landeten. Kalervo, der Gute, wuchs in Karelien auf, beackerte das Land und bekam von seiner Frau Keimi zwei Kinder. Doch sein Bruder Untamo errichtete ein Reich jenseits des Grenzflusses, welches später Rus genannt wurde. Und keine Liebe war in ihm, sondern nur Gier.
Krieg
Daher fischte er in Karelien in Kalervos Fluss und trieb sein Vieh auf dessen Wiesen und Weiden. Das erzürnte Kalervo, und es kam zum Krieg. Als die eisenbewehrten Knechte Untamos in Sicht kamen, stürzte sich Kalervo alleine mit seinem Schwert auf sie und wurde unweit seines Hofes erschlagen. Die bewaffneten Mannen Untamos erschlugen alle außer Kalervos schwangerem Weib und seine Kinder. Die ließ er in seine Hauptstadt entführen, wo sie Frondienst zu leisten hatten.
Zwillinge
Keimi aber, traurig wie sie war, gebar Kullervo, denn sein Name bedeutet „Zorn“, und Wanona, denn ihr Name bedeutet „Weinen“. Von seiner Mutter empfing Kullervo nur Trauer und Zorn, und als er ein Jahr alt war und schon ein stattlicher Jüngling, schenkte sie ihm das heimlich mitgebrachte Messer Sikki, dessen Klinge ungewöhnlich geformt war. Als er es empfängt, schwört er ihr, seinen Vater zu rächen. Dies aber hört Untamo, der sich fürchtet und beschließt, den Knaben loszuwerden.
Sechs Prüfungen
Keimi erzählt Kullervo vom Hund Musti alias Mauri, der ihn mit seinen magischen Fähigkeiten beschützt. Obwohl die Knechte ihn zu fangen versuchen, gelingt Musti immer die Flucht. Er lehrt Kullervo die Kunst des Haut- und Gestaltwechsels, bevor er ihm drei seiner schwarzen Haare schenkt. Wenn Kullervo ihn bei je einem Haar anruft, werde er ihm helfen.
Und dies wird alsbald nötig, denn Untamo sinnt darauf, Kullervo, seinen Neffen, erst auf drei Weisen zu töten, und, als dies nicht gelingt, durch herkulische Arbeiten zu zerstören: Er soll einen Wald abholzen, einen Zaun errichten und im Fluss fischen. Doch was immer Kullervo im Zorn anfängt, wird maßlos und zerstörerisch und infolgedessen nutzlos.
Versklavt
Als er von Untamo schließlich in die Sklaverei im Lande der Rus verkauft wird, gelangt er zu dem Schmied Asemo (im Kalevala: Ilmarinen), der sich wenig von dem Tunichtgut erwartet und Untamo schlecht in rostigen Eisenwaren bezahlt. Weil Asemo ihm keinen Auftrag gibt, treibt sich der ungebärdige Jüngling mehr mit Musti, den Wölfen und den Bären herum, statt sich auf dem Hof nützlich zu machen. (Dass er hier zu seinem schwarzen Schwert kommt, liegt nahe.)
Das macht ihn bei Asemos (namenlosem) Weib wenig beliebt, und sie beschließt, ihn durch schlechtes Brot, in dem ein Stein verborgen liegt, und durch Kuchen zu töten. Denn als Tochter der nordischen Königin Koi ist sie eine Prinzessin und erwartet Ehrerbietung. Die aber will ihr der finster dreinblickende Sklave keineswegs gewähren. Sie schickt ihn hinaus mit den Ochsen und Kühen, damit sie auf der Weide fressen könnten.
Messer und Flöte
Als er aber am Abend das Brot genießen will, wird er misstrauisch und schneidet zuerst die Kruste auf. Sein Messer Sikki bricht ab, als es auf den Stein stößt. Sikki, sein Erbstück! Wutentbrannt schwört er ihr Vergeltung und treibt Ochsen und Kühe in den Sumpf, in dem sie jämmerlich feststecken. Er ruft seine Freunde, die Wölfe und Bären, herbei, damit sie sich an dem zahlreichen Vieh gütlich tun. Doch bevor er zu Asemo zurückkehrt, macht er sich aus einem der Kuhknochen eine Flöte, auf der er eine zauberisch-schrille Melodie pfeift. Wölfe und Bären nehmen die Gestalt von Kühen und Ochsen an, die er auf Asemos Farm treiben kann, ohne Verdacht zu erregen.
Rache
Als aber Asemos Weib die Kühe melken will, verwandeln sich diese in Wölfe und Bären, die über sie herfallen. Sterbend versucht die Königstochter Kullervo zu verführen, doch Kullervos Herz ist aus Stein. Daraufhin verflucht sie ihn dreimal.
Als der Sklave nun in die blauen Wälder wandert, ereilt ihn ein Gedanke, den Ilu ihm sendet: „Ich will Untamo töten, um Mutters Tränen und Vaters Tod zu rächen.“ Doch er kennt den Weg nicht und verirrt sich. Da begegnet ihm eine alte Frau (Mielikki, die Frau des Herrn des Waldes Taipo), die ihm den Weg weist. Doch sie warnt ihn vor einem bestimmten bewaldeten Berg, den er meiden solle, wolle er nicht Unheil heraufbeschwören.
Schönheit
Die Wegbeschreibung erweist sich als zutreffend. Doch auf dem bewaldeten Berg stößt er auf einer Lichtung auf eine wundersame und berückend schöne junge Frau. Sie schreckt zunächst vor dem schrecklich anzusehenden Mörder und seinem schwarzen Schwert zurück, doch er verführt und besänftigt sie. So kommt es, dass Kullervo seiner eigenen Schwester Wanona beiwohnt. Als sie dieses Tabubruchs gewahr wird, springt sie von einem Felsen über einem dreifachen Wasserfall in den Tod.
Traurig und zornig ob seines Schicksals wendet sich Kullervo ab und seinem eigentlichen Ziel zu: Untamos herrschaftlichem Anwesen…
Flieger: Die Skizzen zum Fortgang des Epos
Der Anti-Held tötet alle, die auf diesem Gut leben, einschließlich seiner zwei Geschwister und seines Onkels. Nachdem es nichts mehr auf der Welt gibt, das ihm etwas bedeutet, bittet er sein Schwert, seine Seele zu nehmen. Wie später auch Túrin Turambar antwortet das Schwert bereitwillig. Er stürzt sich ins Schwert, so dass dies das Ende von Kullervos Geschichte ist.
Mein Eindruck
Wer die „Geschichte der Kinder Húrins“ kennt, der kennt auch sämtliche Varianten der Geschichte von Túrin Turambar, dem Drachentöter. Die Parallelen zu Kullervos oben skizzierter Geschichte sind auffallend. Nun erklärt sich auch Fliegers These, dass Kullervo das Vorbild für Túrin gewesen sein müsse, und diese These erscheint plausibel.
Der Kontext ist allerdings mitentscheidend für die Bewertung von Tolkiens Leistung (er war damals etwa 19 oder 20 Jahre alt). Ich kenne das Epos „Kalevala“ nur ansatzweise, vor allem den Anfang und die wichtigsten Figuren, so etwa den Schmied Ilmarinen, den Helden Väinamoinen, den Verführer Lemminkäinen und den magischen Sampo, eine Art Gral. Schauplatz ist vielfach Karelien, die südöstlich im Grenzland zu Russland gelegene Region, welche bis zum 2. Weltkrieg zu Finnland gehörte.
Der finnische Komponist Jean Sibelius widmete diesem schönen Flecken Erde, der von Wäldern und Seen geprägt ist, seine „Karelia Suite“, welche wiederum einem gewissen Keith Emerson zur Vorlage diente. Und den Wasserfall, der im Kullervo“-Epos erwähnt wird, kann jeder Besucher auch noch heute bestaunen. Karelien ist kein Phantasieland wie Mittelerde, sondern hat seine Wurzeln in der Realität. Lediglich die Figuren und Ereignisse treten vor dieser Kulisse auf wie Homers Helden und Heldinnen in der „Odyssee“.
Alte Magie
Das legendäre, von Zauberern und Zauberinnen erfüllte finnische Land kennt keine Grenzen zwischen sprechenden Menschen und sprechenden Tieren. Die Gestalt lässt sich zwischen beiden Reichen wechseln, wenn man weiß, wie’s geht. Daher kennen die Magier auch geheimes Wissen, das nur den Tieren bekannt ist, denn diese machen Erfahrungen und erkunden Gegenden, die Menschen nicht zugänglich sind.
Daher kann Kullervo, der Zornige, zwar alle seine Gegner besiegen, wird aber von einer bis dato unbekannten Macht bezwungen: von der Liebe. Dass diese ausgerechnet zu seiner Schwester entbrennt, ist ein Tabubruch, der schon damals in vorchristlicher Zeit aus guten Gründen galt, die bis heute Gültigkeit haben. Denn aus Inzest entsteht nachgewiesenermaßen nur gesundheitlich benachteiligte Nachkommenschaft.
Nach dem Tabubruch (der auch Túrin widerfährt) bleiben dem Helden nur noch zwei Aufgaben: die Vernichtung seines Onkels Untamo mitsamt dessen Gesinde sowie der Selbstmord durch das eigene Schwert. (Dass solche Schwerter schwarz sind, signalisiert dem Zuhörer bzw. Leser, dass es verflucht ist. Solche Stilmittel sind der mündlichen Überlieferung durch Schamanen geschuldet, auf der das „Kalevala“ seit Jahrtausenden beruht. Der Nationaldichter Elias Lönnrot sammelte lediglich, was bei Schamanen vorfand, und formte daraus ein durchgehende Geschichte.)
Maßlosigkeit und Nemesis
Das bis heute Aufregende an den Geschichten der beider Killer Kullervo und Túrin sind die Szenen extremer Brutalität. Es ist der Zorn, die Verbitterung und die Trauer um die Mutter, die beide maßlos in ihrem Verhalten sein lässt. Beide verlieren ihre Liebsten an die fremden Eroberer. Bei Kullervo sind es die Leute aus Rus, bei Túrin sind es „Ostlinge“, die sich das Land der Elbenfreunde (die Kinder Húrins) unter den Nagel reißen. Diese Ostlinge sind von Morgoth geschickt worden.
Nachdem die Elbenfreunde fast alle vertrieben oder getötet worden sind, schickt Morgoth seinen ersten sprechenden Drachen. Er trägt den Namen Glaurung und verfügt über diverse fiese Eigenschaften, darunter die der Unverwundbarkeit, des betörenden Blicks und der Intelligenz. Am Ende wird Glaurung zu Túrins Nemesis, indem er ihm die Wahrheit über seinen Inzest enthüllt. Woher Glaurung dieses Wissen hat, könnte uns höchstens Morgoth, sein Schöpfer, verraten.
Mächtige Frauen
Glücklicherweise tritt bei Kullervo kein Drache auf, doch die Intelligenz und der Hochmut der Prinzessin, der er als Sklave dienen muss, erinnern an einen Drachen: Sie will Kullervo auf verschiedene Weise bestrafen und töten. Allerdings bekommt sie in gleicher Münze heimgezahlt. Wie auch Mielikki, die Waldzauberin, verfügt Kois Tochter über magische Kräfte, so dass sie es wagt, ihren Sklaven dreimal zu verfluchen. Es ist erstaunlich und spannend zu verfolgen, wie alle ihre Flüche in Erfüllung gehen. Alle Frauenfiguren in dieser Geschichte sind wirkmächtig und alles andere als Heimchen am Herd.
Mit ausführlichen Anmerkungen hat die Herausgeberin neue Namen usw. erläutert, aber auch auf Tolkiens Fehler hingewiesen.
Tolkien: „Über das Kalevala oder Das Land der Helden“ (Manuskript/Vortrag)
Tolkiens Vortrag, den er zweimal hielt, liegt hier erst als Handschrift und dann auch als Typoskript vor. Die Handschrift weist viele Abkürzungen vor, die ergänzt werden mussten. Viele Referenzen sind in den Anmerkungen zu den beiden Texten erklärt bzw. mit Textstellen ergänzt worden.
Tolkien vergleicht die Lektüre der zwei Versionen des Kalevala (1835 bzw. 1849) mit einer Reise in ein unbekanntes Land, im Typoskript mit einer Urlaubsreise. Die Unterschiede sind also nicht gravierend, aber das Typoskript ist wesentlich geschliffener und weitschweifiger formuliert. Er vergleicht das Kalevala bzw. dessen viele mündlich überlieferte Balladen mit den Mythen des walisischen „Mabinogion“. Die Unterschiede sind beträchtlich und dienen ihm dazu, das „Kalevala“ und dessen „Autoren“ genauer zu charakterisieren. Ein Vergleich mit Longfellows Langgedicht „Hiawatha“ ist stichhaltig, wenn auch überraschend.
Im folgenden geht Tolkien auf die ungewöhnliche Sprache des Finnischen, dessen Dichtung, deren „Religion“ und göttlichen Wesen sowie auf den Animismus ein, also jene „Religion“, die allen Dingen einen Charakter zuspricht. Wenn man bedenkt, dass Kullervos (und auch Túrins) Schwert einen langen Monolog hält, das es als Schlagetot ausweist, dann leuchtet dieser Animismus durchaus ein. Jeder Leser des Túrin-Epos in „Die Kinder Húrins“ läuft ein kalter Schauder bei der Rede von Túrins schwarzem Schwert hinunter. Und Animismus erklärt auch, warum Drachen sprechen können und über die Gabe des Gedankenlesens verfügen: Glaurung, Ancalagon, schließlich Smaug.
Das ist für alle, die das finnische „Epos“ kennenlernen wollen, sind Manuskript und Typoskript sehr interessant. Auf seine eigene Verwendung der Figur des Kullervo geht er indes mit keiner Silbe ein. Er betrachtete es wohl mehr als jugendliche Narretei – und weit von einer Veröffentlichung entfernt.
Etwas frustrierend ist der Umstand, dass das Typoskript mitten im Satz (auf S. 197) abbricht. Aber was er noch schreiben wollte, hat er ja schon im Manuskript in Abschnitt V gesagt.
Flieger: Essay über „Tolkien, das Kalevala und Kullervos Geschichte“
Die Herausgeberin berichtet, welche Stellung Tolkiens früheste Dichtung, die hier vorliegt, in seinem Werk einnimmt und warum die Bedeutung des „Kullervo“-Fragments bislang von der Literaturforschung bis 2015 nicht erkannt werden konnte. Daher kam es zu Falschdeutungen, etwa durch H. Carpenter, Tolkiens Biographen. Nicht zuletzt der Autor selbst konnte sein Werk nicht mehr genau datieren. Daher schwanken die Einschätzungen zwischen „Ende 1912“ und „Anfang 1914“.
Die Bedeutung für sein „Legendarium“ ist hingegen durch Flieger gesichert: Zwischen der „Kalevala“ und der ersten der drei Hauptgeschichten des „Silmarillion“ (1977) (Beren und Luthien, Túrin Turambar und „Tuor in Gondolin“) bildet „Kullervo“ eine Brücke. Die Brücke besteht nicht nur thematisch, sondern auch sprachlich: Offenkundig übernahm der 20-jährige Tolkien nicht nur den Vortragsstil eines Runo-Sängers, sondern auch den altertümelnden Stil von „Das Haus der Wulfings“ des englischen Fantasy-Autors William Morris.
Auf Seite 214 fasst die Autorin freundlicherweise die komplette Handlung zusammen. Dann sucht sie nach deren Relevanz für Tolkien, der ja selbst ein Waisenkind – sein Vater starb, als er vier, seine Mutter, als er zwölf Jahre alt war – ist und außerdem von seinem Vormund von der Frau ferngehalten wird, die er liebt, seit er 16 war: Edith Bratt, ebenfalls eine Waise. Und das nur, weil Tolkien ein katholischer „Papist“ ist. Natürlich erzählte nicht von sich, als er Kirbys Übersetzung des „Kalevala“ für sich adaptierte. Aber Tolkien konnte sich aufgrund seiner Biografie sehr gut in Kullervos Lage versetzen, und das kam, wie Flieger ab Seite 2018 ausführt, der Ausformung seines Legendariums zugute, zu dem seine Adaption des „Kullervo“ ja die Brücke bildet.
Warum sich Tolkien überhaupt die Mühe machte, erklärt Flieger mit der magischen Formel des Philologen: „Sprache ist Mythologie, und Mythologie ist Sprache.“ Er war von der Sprache des „Kalevala“ angesprochen und entdeckte auf diesem Weg dessen Mythologie. Er ging den gleichen Weg, als er zuerst seine eigenen Sprachen Qenya, Sindarin und die Zwergensprache erfand, bevor er die dazugehörigen Völkerschaften und schließlich deren Mythologie (Valar, Dúrin usw.) und Heldentaten erfand. Am Ende des Dritten Zeitalters von Mittelerde sind davon nur noch spärliche Reste vorhanden, die vor allem durch Poesie (Lieder, Gedichte, Sagen) an die Lebenden kolportiert werden können. Das „Kalevala“ lieferte Tolkiens philologischem Ansatz fiel Material und Substanz: Es wurde bis vor kurzem durch Runo-Sänger mündlich wieder- und weitergegeben. Das kam seinem Plan, ein englisches Epos zu schaffen entgegen.
Am Schluss zählt Flieger sechs Aspekte auf, die das Kalevala mit Tolkiens „Kullervo“ und den Legenden im „Silmarillion“ verbinden. Dabei berichtet sie, dass es schon bei Elias Lönnrot, dem Geschichtensammler und Herausgeber des „Kalevala“, zu Ungereimtheiten kam, denn er sammelte Quellen aus sehr unterschiedlichen Region und verschmolz dieses Material mehr oder weniger gefällig. Daher kam es, dass der Kullervo aus dem „Kalevala“ auf einmal zwei Familien hatte, die er nacheinander verlor. Tolkien machte daraus eine weit verzweigte Verwandt, die zudem auch noch in Kriegswirren versprengt wird. Nur so ist es erklärbar, dass Kullervo seine eigene, lange vermisste Schwester Wanona nicht mehr wiedererkennt.
Dieser Inzest wird in den drei Versionen „Kalevala“, „Kullervo“ und „Túrin Turambar“ unterschiedlich behandelt. Bei Tolkien ist er am ausgefeiltesten, und daran lässt sich ablesen, wieviel ihm das Thema bedeutete: eine Ursünde – wie der Katholizismus in einem Land voller Protestanten – der als unbewusstes Verhängnis letztlich zum Untergang des heroischen Außenseiters führt.
Signifikant sind auch die Unterschiede im tragischen Ende des Helden. Kaum hat er realisiert (sehr spät sogar) dass er mit seiner Schwester Inzest begangen hat, bittet er sein Schwert, ihm das Leben zu nehmen. Das Schwert hält eine kleine Rede und erklärt sich darin dazu bereit. Das Leben eines Schuldigen sei ja noch weniger wert als das der Unschuldigen, das es bereits genommen habe (bei Túrin sind dies die Recken Beleg und Brandir). Das Schwerter reden, ist im Reich der Legenden Standard.
Das Schwert verkörpert das dunkle Schicksal. Dass Schwerter ebenso wie Tiere sprechen, erlaubt auch, dass ein zaubermächtiges und intelligentes Tier wie ein Hund auftritt und eine Rolle spielt. Bei Kullervo ist es Musti, was auf Finnisch „schwarz“ bedeutet. In der Legende von Beren und Luthien wird daraus der Hund Huan. Musti wie auch Huan begleiten den bzw. die Helden bis an deren Ende, bevor sie selbst sterben.
Flieger behauptet, dass es ohne Musti keinen Huan gegeben hätte, was die Notwendigkeit der „Kullervo“-Adaption belege. Sie macht deutlich, worin die große Eigenleistung Tolkiens bestehe. Von den verschiedenen Quellen des „Kalevala“ übernahm er nur die wichtigsten Motive, bevor er seinen eigenen Kullervo erschuf, die charakterlichen Unterschiede sind bereits signifikant. Aus Kullervos tragischer Geschichte erschuf er über viele Umwege – etwa in „Nachrichten aus Mittelerde“ – die Endversion des tragischen Held-Außenseiters Túrin Turambar. Dieser tritt in einer rätselhaften Szene schon in einer Szene auf, als sein Verwandter Túor sich mit dem Elben Voronwe auf dem verborgenen Weg zur Elbenstadt Gondolin befindet.
Am Schluss fasst Flieger ihre Argumente zusammen, um Tolkiens Bestreben zu erklären, jenes Epos für England zu schaffen, das es nie hatte oder das ihm von den verschiedenen Invasoren, etwa den Wikingern ab 793, genommen wurde. Die Wikinger plünderten und brandschatzten nicht zuletzt auch die Büchereien der reichen Klöster und vernichteten, so Tolkien berechtigte Vermutung, das Gedächtnis eines ganzen Volkes. Ironie des Schicksals: Das heidnische Heldengedicht „Beowulf“ wurde ausgerechnet von einem Mönch geschrieben.
Die Übersetzung
Joachim Kalkas Übersetzung ist ausgezeichnet gelungen, und das ist an vielen Stellen, die auf den vorhergehenden Tolkien-Übersetzungen beruhen, die Klett-Cotta veröffentlicht hat, merkbar. Deshalb kommt es zu keinen Abweichungen von der eingeführten Nomenklatur. Dies betrifft auch die umfangreiche Bibliographie. Nur auf S. 231 wird aus Túrins Schwert Anglachel auf einmal „Aglachel“.
Unterm Strich
Die vorliegende Ausgabe des Klett-Cotta Verlags ist sicherlich eine herausragende Leistung und verdient einen Ehrenplatz im Tolkien-Programm. Nicht nur ist die Übersetzung ausgezeichnet gelungen, sondern auch die Anmerkungen wurden sämtlich überprüft, belegt und mit Querverweisungen versehen. Die Zusatztexte in den Anhängen liefern weitere Einsichten zu Tolkiens Arbeitsweise und Leistung.
Gebunden: 240 Seiten
O-Titel: The Story of Kullervo, 2015
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
ISBN 9783-608-960907
www.Klett-Cotta.de
Der Autor vergibt: