J. R. R. Tolkien – Geschichten aus dem gefährlichen Königreich. Illustriert von Alan Lee

Illustrierte Tolkien-Geschichten für die Kleinen, die Jungen und alle anderen

Die »Geschichten aus dem gefährlichen Königreich« präsentieren Tolkiens beliebte Fantasy- und Abenteuer-Erzählungen. Der Band ist reich illustriert von dem bekannten Tolkienkünstler Alan Lee. Diese fünf märchenhaften Geschichten aus einem Land jenseits von Mittelerde sind mit der Fantasie und Hingabe erzählt, die auch den Hobbit zu einem der beliebtesten Bücher gemacht haben.

Die Geschichten:

• „Roverandom“
• „Bauer Giles von Ham“
• „Die Abenteuer des Tom Bombadil“ (Gedichte)
• „Schmied von Großholzingen“
• „Blatt von Tüftler“

Diese Ausgabe fasst die deutschen Veröffentlichungen „Roverandom“, „Fabelhafte Geschichten“ und „Tom Bombadil“, alle bei Klett-Cotta erschienen, mustergültig zusammen.

Der Autor

Zu John R. R. Tolkien (1892-1973) braucht man (hoffentlich) nur noch wenig zu sagen, da durch die neue Verfilmung seines Hauptromans „Der Herr der Ringe“ (HdR) fast jeder Mensch von ihm gehört hat. Doch nicht allzu viele Menschen wissen, dass die Ereignisse, die in HdR geschildert werden, nur die Spitze des Eisbergs dessen darstellen, was Tolkien zeit seines Lebens geschaffen hat. Dieses imaginäre Universum findet sich zu großen Teilen (aber nicht vollständig) im „Silmarillion“ wieder, das erst vier Jahre nach dem Tod des Oxford-Professors erscheinen konnte, so kompliziert war die Arbeit daran.

Der Illustrator

Alan Lee ist neben John Howe für das künstlerische Konzept von Peter Jacksons Verfilmung verantwortlich. Jackson stieß auf den zurückgezogen lebenden Lee (s. u.) durch dessen Illustrationen in der vorliegenden HdR-Ausgabe. Sie entstanden bereits 1991. Die bevorzugte Technik scheint eine Aquarell-Mischtechnik zu sein, aber leider bin ich dafür kein Experte.

Alan Lee wurde 1947 in Middlesex, westlich von London, geboren. Er ging auf die Ealing School of Art und spezialisierte sich bereits damals auf Illustrationen. Mittlerweile hat er eine breite Palette von Büchern illustriert, darunter „Faeries“ (zusammen mit Brian Froud), „The Mabinogion“ (walisische Sagen), „Castles“ und „Merlin Dreams“.

Mit dem Film hatte er bereits vor Jacksons LOTR Erfahrungen gesammelt, nämlich mit Terry Gilliams „Erik the Viking“. Tolkiens Werke haben ihn inspiriert, seit er in jungen Jahren LOTR gelesen hatte. „Das Buch hat wahrscheinlich die Richtung meiner Laufbahn über die folgenden 25 Jahre beeinflusst. Es steuerte mich nicht so sehr Richtung Fantasy, sondern zu einem erhöhten Interesse an Mythen und Legenden und zu einer lebenslangen Anerkennung des wundervollen Könnens eines Geschichtenerzählers.“

Er lebt heute am Rande des großen Dartmoors in Devonshire, Südwestengland. Dort spürte ihn Jackson via Global Positioning System und FedEx auf. Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.

Die Erzählungen

1) Bauer Giles von Ham

Ein Bauer, ein Schatz und ein Drache sind die wichtigsten Zutaten zu einem vergnüglichen Abenteuer mit Tiefgang. Tatsächlich tut Tolkien in seiner „mock-heroic tale“ so, als handle es sich bei dieser Erzählung um die Wiedergabe einer Familienchronik à la 11. oder 12. Jahrhundert. Stets wird der alte, natürlich lateinische name für irgendwelche Phänomene (wie diese Erzählung) angegeben und dann – in der „vulgären Zunge“ der englische Name: The Rise and Wonderful Adventures of Farmer Giles, Lord of Tame, Count of Worminghall, and King of the Little Kingdom“ – was für ein pompöser und völlig lächerlicher Titel!, denkt man. Und doch macht sich Tolkien daran, sämtliche dieser nie gehörten Titel zu rechtfertigen und schließlich sogar heutige Ortsnamen in der Umgebung von Oxford/England davon abzuleiten.

Farmer Giles heißt mit richtigem, d. h. lateinischem Namen Aegidius Ahenobarbus (= Rotbart) Julius Agricola (= Bauer) de Hammo (= Ham, Weiler). „Da es so wenig Leute und so viel Zeit gab, legten sich die Leute bedeutende Namen zu, die sehr lang sein durften“, erzählt uns Tolkien. Und jedes Dorf ist stolz auf sich, ebenso wie jeder Bauer – so auch Giles.

Er hat einen treuen, wenn auch nicht sehr tapferen Hund namens Garm, der sich gerne mit Giles unterhält, welcher ihn jedoch für einen Nichtsnutz hält. Garm stößt eines Tages auf einen Riesen, der des Weges kommt und die Kuh seines Herrn tottrampelt. Von Garm alarmiert, schnappt sich Giles seine Donnerbüchse und verpasst dem Riesen eine Ladung ins Gesicht. Der Riese findet die Stiche der hiesigen Insekten ein wenig zu schmerzhaft für seinen Geschmack und kehrt nach Hause zurück in seine Berge.

Durch diese Tat wird Giles zum Helden des Landes, und sein Ruf eilt ihm voraus bis an den Hof des Königs von Middle Kingdom (damals gab es in Britannien noch viele Königreiche). Man kann sich denken, dass auch dieser König einen ellenlangen Namen sein Eigen nennt. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Augustus (= der Erhabene). Er schickt Giles ein gesiegeltes Dokument mit seinem Lob und einem langen Schwert, das für ihn selbst, da es unmodisch ist, keinen Wert hat. Giles‘ Ansehen steigt noch um etliche Grade.

Drachen sind bereits rar. Doch eines Tages taucht ein echter Drache auf und beginnt, das Königreich zu verwüsten. Sein Name ist Chrysophylax (= Goldschuppe in der „vulgären Zunge“) Dives (= der Reiche), und er speit Feuer. Garm stößt mal wieder als Erster auf die Gefahr und warnt seinen Herrn. Doch der Drache tobt noch weit entfernt, und so schickt er Garm erst einmal weg. Der verbreitet die Nachricht im gesamten Dorf. „Oh toll, aber was ist mit den Rittern des Königs?“ fragt man sich dort.

Woher nun einen Drachentöter nehmen, fragt sich seinerseits der König – und wird von seinen Rittern schmählich im Stich gelassen: Schließlich ist Weihnachten und bald gibt’s ein wichtiges Turnier. Auch die Dörfler sind enttäuscht von den Rittern und wenden sich daher an den „Helden von Ham“.

Giles jedoch zögert lange, schließlich ist ein feuerspeiender Drache nicht sein täglicher Umgang. Da entdeckt der Pfarrer in seinen Büchern, dass Giles‘ Schwert das berühmte Schwanzbeißer (richtig: Caudimordax) ist, das berühmteste Drachentöterschwert weit und breit. Wenn das keine Verpflichtung ist!

Doch ein Drachentöter braucht auch eine Rüstung und ein Pferd. Weitere Probleme! Und als Giles endlich auf Chrysophylax trifft, fällt er glatt von seinem Ross. „Verzeihung“, fragt der Drache voll Argwohn, „aber haben Sie zufällig nach mir gesucht?“ „Aber nie im Leben“, gibt sich Giles entrüstet. „Wer hätte gedacht, dass man Sie hier treffen würde. Ich wollte nur mal ausreiten.“

Es ergibt sich, dass Schwanzbeißer den Drachen verletzt und so flugunfähig macht, dass dieser dem Schwert nur durch Rennen zu entkommen versuchen kann. Allerdings führt die Flucht des Drachen mitten ins Dorf Ham, wo er um sein Leben fleht. Die Dörfler wollen es ihm schenken, falls Chrysophylax ihnen seinen riesigen Schatz übergibt. Der hinterlistige Drache verspricht es und haut ab.

Kaum hört der König davon, fordert er bereits seinen Anteil. Doch leider hat der Drache nicht die Absicht, sich dem gnadenlosen Schwanzbeißer nochmals auszusetzen und bleibt daheim, sodass der gierige König in die Röhre wütend guckt, als er sein Lager in Ham aufschlägt und am verabredeten Übergabetermin vergeblich wartet.

Da erinnert er sich an Giles. Dieser soll die königlichen Ritter gegen den Drachen führen und diesen wegen Meineids etc. bestrafen. Die Ritter vernehmens mit finsterer Miene. Ein Bauer als Anführer?! So weit kommts noch.

Doch was kann ein Bauer schon gegen den Befehl des Königs tun? Also macht sich Giles wieder auf zum Drachen. Allerdings schließen die beiden einen Handel ab, bei dem der König schon wieder in die Röhre schaut. Schließlich führt Aegidius Ahenobarbus seinen Königstitel nicht umsonst.

Mein Eindruck

„Farmer Giles of Ham“ ist von einer ganz besonderen Tonart. „Farmer Giles“ tritt wie ein derber Hobbit-Bauer auf, und er redet auch so: eben vulgär. Der Drache Chrysophylax hingegen zeichnet sich durch eine Schlauheit aus, die mit Hinterlist gepaart ist, ein wahrer Materialist obendrein. Und so weiß er einen Kampf zu meiden und mit Giles einen Deal abzuschließen, der beiden das Leben rettet, ja sogar immens erleichtert.

Tolkien beschreibt sehr genau, wie sich die einzelnen Gesellschaftsteile mit der Bedrohung arrangieren, aber auch, wie sie mit dem Reichtum des Drachen umgehen. Die Dorfgenossen Giles‘ sind ebenso gierig wie der König, doch Giles ist mit dem zufrieden, was er selbst besitzt. Er bräuchte den Drachenschatz im Grunde nicht, doch er weiß dennoch etwas damit anzufangen: Er nutzt ihn zugunsten seiner Mitmenschen. Davon leitet sich in Tolkiens Augen seine moralische Legitimation als rechtmäßiger König des Little Kingdom ab.

Auch wenn sich „Bauer Giles“ vordergründig als fröhliche Drachentöterparodie liest, so versteckt sich dahinter eine harsche Kritik an egoistischen Herrschern, die für ihre Untertanen nichts übrig haben und deren Ritter (= Beamte, Minister) nichts taugen. Aber natürlich wird auch der Drache nicht unkritisch präsentiert. Er verkörpert die Versuchung materialistischen Reichtums, doch das Geld kaschiert nur seinen Hunger nach (Menschen-) Fleisch. Immerhin lässt sich sein Reichtum und seine bedrohliche Präsenz sinnvoll in Diensten eines selbstlosen Königs wie Giles einsetzen.

2) Roverandom

Bevor Tolkien mit seiner Familie nach Oxford übersiedelte, um dort Professor für Angelsächsisch zu werden, machte er 1927 mit seiner Familie Urlaub an der Nordsee. Dabei verlor sein „Sohn Nummer zwei“, Michael, am Strand einen kleinen schwarzweißen Spielzeughund namens Rover. Zum Trost dachte sich sein Vater die Geschichte von Rovers Abenteuern aus.

Er fertigte allmählich fünf Fassungen davon an, denn er wollte sie ebenso wie den „Hobbit“ bei Allen & Unwin publizieren. Schon in diesem frühen Werk gelingt es Tolkien meisterhaft, Elemente aus Sagen und Mythen mit biografischem und literarischem Material zu verknüpfen. Es erschien 1998 in Buchform.

„Roverandom“ erzählt von den Abenteuern, die Rover, der von einem bösartigen Zauberer verwandelt wurde, auf dem Mond, auf den Meeren – er segelte bis zu den Inseln der Elben! – und beim Meervolk erlebte. Natürlich lernte er auch Mondhunde und Meerhunde kennen. Wichtiger waren aber zweifellos seine Begegnungen mit guten Zauberern: mit dem Sandkundigen und dem Mann im Mond. Am Schluss wird alles wieder gut, wenn auch nicht für alle : Dem bösen Zauberer wird eine Lehre erteilt.

Leseprobe

„Der Mond wurde größer und heller und die Welt unten dunkler und ferner. Schließlich hörte die Welt plötzlich auf, und Rover konnte die Sterne sehen, die aus der Dunkelheit unten ihnen heraufstrahlten. Tief unten konnte er die weiße Gischt im Mondlicht erkennen, wo Wasserfälle über den Rand der Welt fielen und geradewegs in den Raum stürzten. Ihn überkam ein höchst unbehagliches Schwindelgefühl, und er kuschelte sich in Möwes Federn und schloss die Augen für eine lange, lange Zeit. Als er sie wieder öffnete, erstreckte sich unter ihnen der Mond, eine neue weiße Welt, schimmernd wie Schnee, mit weiten freien Flächen von Mattblau und Grün, wo die hohen, spitzen Berge ihre langen Schatten auf den Boden warfen.“

Mein Eindruck

„Roverandom“ bezaubert zunächst durch die phantasievolle Handlung Kinder ab 6 Jahren, zieht aber durch das wahre Feuerwerk an Wortspielen und das Schicksal des Zauberers Artaxerxes auch Erwachsene in seinen Bann. Für Tolkien-Fans ist „Roverandom“ vor allem auch wegen seines ganz speziellen Humors des weltbekannten Fantasy-Autors ein richtiger Leckerbissen.

„Roverandom“ hat nur geringe Verbindungen zur restlichen Mythologie Tolkiens und ist daher für Tolkienforscher nur von begrenztem Interesse. Daran freuen können sich Kinder schon eher. Es ist eine kurzweilige Geschichte, die Tolkien zwar anfangs etwas mühsam und mit vielen Leseranreden, dann aber zunehmend flüssiger erzählt – so bieten schließlich Rovers Erlebnisse beim Meervolk und der Seeschlange pures Lesevergnügen.

3) Die Abenteuer des Tom Bombadil (und andere Gedichte)

Die Reihe der Gedichte eröffnen zwei erzählende Texte um die Figur Tom Bombadil. Er ist ja allen Lesern des „Herrn der Ringe“ aus dem 1. Band bekannt, wo Frodo und seine Gefährten das Auenland verlassen. In der Tat scheint das erste und ältere Gedicht „Die Abenteuer des Tom Bombadil“ schon vor dem „Herrn der Ringe“ entstanden zu sein, doch taucht hier bereits Toms Gefährtin, die Fluss- oder Quellnymphe Goldbeere, auf, die er zum Schluss zur Frau nimmt. Auch der Alte Weidenmann hat einen Auftritt, bei dem er Tom – wie später Frodos Gefährten – erst in den Schlaf wiegt und dann zu erwürgen versucht. Na, Tom hustet ihm was! Ebenso wie dem „Gräbergauch“ (barrow wight), der ihn ins kühle Grab holen will.

Im zweiten Gedicht, „Tom geht rudern“, macht sich der Held mit seinem wackligen Ruderboot auf den Weg, auf dem Fluss Weidenwinde zu den Hobbits zu reisen. Unterwegs necken ihn zahlreiche Bekannte. Von den Hobbits lässt er sich über den Fluss Brandywein übersetzen, um im Wirtshaus ordentlich zu zechen. Am nächsten Morgen bringen seine tierischen Freunde den Besinnungslosen im Ruderboot nach Hause.

Im folgenden Gedicht „Irrfahrt“ (The Knight Errant) – einem „mock heroic“ – tritt eine Art Don Quichotte auf, der sich nach Art der Ritter und Helden machen möchte, aber leider nur von sinnlosem Abenteuer zu Abenteuer taumelt, ohne Frieden und Ruhe zu finden.

„Prinzessin Ich-mi“ ist eine recht romantische Skizze, die aber einen ernsten Hintergrund hat. Die titelgebende Prinzessin ist nämlich völlig allein und sehr einsam. Nichtsdestotrotz ist sie in feinste Stoffe und Juwelen gekleidet. Am Teich trifft sie auf eine Fremde, die sich Sie-si nennt, aber genau wie sie aussieht. Seltsam! Allmählich wird dem Leser klar, dass es sich um Ich-mis Spiegelbild handelt.

In den nächsten beiden lustigen Balladen geht es um den Mann im Mond. Diese Wirtshauslieder könnte Sam Gamdschie gut im Wirtshaus „Zum tänzelnden Pony“ in Bree vortragen: „Die Kuh sprang über den Mond …“ und so weiter. Dementsprechend ist sind Vers und Reim sehr einfach gehalten.

Troll-Gedichte

Die Balladen „Der Steintroll“ und „Luftikus“ gehören ebenfalls thematisch zusammen. bei beiden steht ein Troll im Mittelpunkt. Trolle sind ja, wie jeder „Hobbit“-Leser weiß, recht ungemütliche Zeitgenossen: Sie sind aus Stein und fressen Menschen. In „Steintroll“ gibt Tom dem Troll einen kräftigen Tritt ins Hinterteil, weil der ihm den Bruder Tim gefressen hat – nur dessen Knochen ist noch übrig, und den will Tom zurückhaben, um ihn bestatten. Doch so ein Trollhintern ist eben verdammt hart, Toms Fuß wird auf Lebenszeit gelähmt, und der Troll behält Tims Knochen.

In „Luftikus“ ist dieser Narr der einzige Mensch, der einem armen, sich sehr einsam fühlenden Einsiedel-Troll Gesellschaft beim Essen leiten will. Alle anderen Menschen nehmen Reißaus. Doch wie staunen sie, als Luftikus vom Troll mit einem vollgefressenen Wanst zurückkehrt! Nun wollen sie auch, doch sie werden abgewiesen. Luftikus hingegen wird ein berühmter Bäcker und bleibt sein Leben lang der Freund des Einsiedler-Troll, den er jeden Donnerstag besucht. – Diese Geschichte erinnert mich an „Bauer Giles von Ham“, in der Giles Freundschaft (eigentlich einen pakt) mit einem Drachen schließt, dadurch Reichtum erlangt und sein eigenes Königreich gründet.

Tier-Gedichte

Das erste der folgenden vier Tier-Gedichte treten die unheimlichen Muhlipps (im Original „mewlips“) auf, die so eine Art gräberbewohnende Vampire sind. Obwohl das Original noch viel unheimlicher und schauriger klingt, vermittelt auch die Übersetzung einen Eindruck vom Horror dieser menschenfressenden Wesen der Schattenwelt. Dies ist ein allegorisches Gedicht, das an manche Passagen aus „Die Unendliche Geschichte“ erinnert. Die Sümpfe etc. sind dunkle, negative Gefühle, können aber auch für eine falsche moralische Einstellung stehen. Wer sich in diesen Zustand hineinziehen lässt, braucht sich also nicht zu wundern, wenn er von den dortigen Dämonen verschlungen wird.

In „Olifant“ stellt sich das elefantenartige Wesen selbst vor, das Leser des „Herrn der Ringe“ aus der „Schlacht auf den Pelennorfeldern“ kennen. „Fastitokalon“ beschreibt das Fabelwesen eines „Schildkrötenwalfischs“, das ahnungslose Seefahrer ob seiner Größe für eine Insel halten können. Das erinnert stark an „Tausendundeine Nacht“ und Sindbad den Seefahrer. Die letzte Fantasie berichtet uns von den Gedanken der scheinbar träge träumenden Katze auf der Fußmatte. Sie erinnert sich an ihre wilderen Artgenossen. Merkwürdig ist dabei jedoch, dass der Gepard als Baumbewohner geschildert wird. Dies trifft eher auf den Leopard zu, denn Geparden bewohnen die Steppen, wo sie als Sprinter das Wild erjagen.

Romantische Balladen

„Schattenbraut“ ist eine recht bemerkenswerte Geistergeschichte. Das gibt es also einen jungen Mann, der keinen Schatten besitzt (warum wohl?) und darum offenbar in einen Stein verwandelt wurde. Nun kommt aber eine hübsche junge Frau des Wegs, die lange genug verweilt, dass der Mann lebendig werden und sie überfallen kann. Er klaut ihr ihren Schatten und macht sich davon. Sie wandelt fortan als Geist. So hat wohl auch der Mann seinen Schatten verloren. Nur in den Stunden des Zwielichts des Geistertags (vermutlich Halloween) kommen die beiden zusammen, um „einschattig bis frühmorgens“ zu tanzen. Warum aber brach der Bann, der auf dem Mann gelegen hatte? Ganz klar: „Sie flocht sich Blumen ins Haar, um sich damit zu bekränzen.“ Da sich jedoch nur Mädchen auf Freiersuche solche Kränze flechten, umwarb sie praktisch den Steinmann als zukünftigen Bräutigam, ohne dies natürlich zu wissen. (Aber ihre Oma hatte sie bestimmt davor gewarnt!) Nun sind die beiden Mann und Frau, können sich aber nur einmal im Jahr sehen – wenn sie ihren Schatten teilen.

„Der Hort“ spielt die Hauptrolle in einer höchst moralischen Erzählung, die vom deutschen Nibelungenlied inspiriert zu sein scheint. Der Hort spielt hier die Rolle des Rheingolds. Ein Zwerg (Alberich?) schuftete all sein Leben, um Gold etc. aus dem Stein zu holen und anzuhäufen. Ein Drache (= Fafner) raubte es ihm. Dem raubte es ein Recke (= Siegfried), der ihn erschlug. Doch auch der Recke wird (anders als Siegfried) wie alle Vorbesitzer des Horts einmal alt und kraftlos. Sein Reich fällt, der Schatz verschwindet hinter einer ewig verschlossenen Tür, Gras wächst über das Gemäuer – und die Welt wird wieder grün und lebendig wie am Anfang, bevor es dem Zwerg einfiel, die Welt auszubeuten, um materiellen Reichtum anzuhäufen. Es fällt sicher niemand schwer, eine Parallele zur Lage des modernen Menschen zu ziehen, der nach materiellen Werten giert und dabei die Erde immer weiter zerstört.

Das Thema von „Muschelklang“ deckt sich mit jenem in „Irrfahrt“. Betört vom Rauschen des Meeres in einer am Strand gefundenen Muschel, macht sich ein Mann in seiner Abenteuerlust auf, über die Meere zu segeln und durch die Welt zu wandern. An einer Stelle hält er sich sogar für den König einer Gruppe von Pflanzen, so groß ist die von der Muschel verursachte Verblendung. Doch er scheint nie das zu finden, was ihn erfüllen könnte. Er endet als Bettelmann, grau und gebrochen. Bemerkenswert ist an dieser Moritat, dass sie als einziges Gedicht von einem Ich-Erzähler vorgetragen wird.

In „Das letzte Schiff“ tritt endlich wieder mal eine Figur mit einem Namen auf: Fíriel – der Elbenname für „sterbliche Frau“ – lebt allein in einer ärmlichen Hütte an einem Fluss in Gondor. Ihr ganzes späteres Leben soll sie an jenen Tag zurückdenken, als sie eines Morgens am Fluss stand und das letzte Schiff der Elben vorbeifuhr. Die Elben luden sie, „die Elbengleiche“, sogar ein, mit ihnen in die Lande jenseits der Welt der Sterblichen (sprich: nach Valinor) zu fahren. Doch der Augenblick vergeht, als sie zögert, weil ihr Fuß im Schlick steckenbleibt. Sie verzagt. „Ich kann nicht – bin erdgeboren!“ Schade, dieser Frau hätte ich durchaus ein besseres Schicksal als Einsamkeit und Arbeit gegönnt, wie Tolkien es ihr zuweist. Von Mann und Kindern jedenfalls erzählt er uns nichts, aber darauf kommt es wohl in diesem Zusammenhang weniger an, vielmehr auf den Unterschied zwischen Elb und Mensch. Dieser Gegensatz jedenfalls ist sauber herausgearbeitet.

Mein Eindruck

Diese Gedichte sind wohl kaum von nationaler oder internationaler Bedeutung wie etwa die von Wordsworth oder Tennyson. Ihr Inhalt erschließt sich am ehesten dem Leser, der mit den literarischen Traditionen, aus denen sie geboren sind, vertraut ist. Wir wissen ja, dass Prof. Tolkiens Forschungsgebiet die alt- und mittelenglischen sowie die altnordischen Traditionen war. Die literarischen Qualitäten seiner Gedichte müssen sich also eman diesen Traditionen und deren Themenvielfalt messen lassen. Als Anglist würde ich mal sagen, dass besonders die Balladen in bester englischer Tradition stehen. Für die die Tiergedichte gibt es sicherlich Vorbilder in der reichhaltigen Nonsenslyrik der britischen Inseln.

Bei den ernsteren Gedichten und auch bei den Burlesken („Tom Bombadil“, „Der Mann im Mond“) lässt sich durchaus von einer sauberen Ausführung sprechen. Dies zeigt sich unter anderem an der einwandfreien Handhabung von Reim, Vers und Metrum. Tatsächlich legt Tolkiens Lyrik in dieser Hinsicht eine erstaunliche Vielfalt an den Tag. Ein aufmerksamer Leser und noch vielmehr ein Sprecher wird entdecken, dass sich viele dieser Gedichte vertonen und singen lassen.

4) Der Schmied von Großholzingen

Alle 24 Jahre findet in dem Dörfchen Großholzingen das „Fest der Guten Kinder“ statt. Dann bäckt der Meisterkoch dieses Jahres den großen Kuchen, von dem jedes Kind ein Stück bekommt. Und in die Stücke steckt er 24 kleine Geschenke: Münzen, Sterne und dergleichen. Es ist klar, dass sich der Meisterkoch den großen Kuchen zur Ehre gereichen lässt, indem er ihn zu etwas ganz Besonderem macht.

Leider hat sich der letzte Meisterkoch in den Urlaub verabschiedet und so wurde ein unfähiger Bäcker sein Nachfolger, Nokes. Nokes fällt nichts ein, um den fälligen großen Kuchen zu kreieren. Zum Glück hat er einen hervorragenden, wenn auch gebührend unauffälligen Lehrling: Stift. Und so trägt der große Kuchen dieses Jahr auf der Spitze die Elbenkönigin – und versteckt noch etwas anderes in sich: einen Elbenstern. Die 24 Geschenke finden sich durchaus, wenn auch nicht gleichmäßig verteilt. Und das 25. Geschenk, den Elbenstern, scheint niemand bekommen zu haben.

Doch wenig später beginnt eines der Kinder, ein ungewöhnlich musikalisches Talent zu entwickeln. Und das zweite Talent besteht darin, dass er als Schmied Eisen in ungewöhnlich schöne, lebhafte Formen hämmern kann, während er singt. Folglich hat der Schmied bald sein Auskommen und gründet eine Familie mit seiner Freundin Nell. Seine Tochter heißt Nan, sein Sohn Ned Schmiedsohn. Seine Nachbarn wundern sich, dass der Schmied allein einen Stern auf der Stirn trägt, nicht jedoch seine Kinder …

Regelmäßig besucht er die Feenlande, Elbland, obwohl der Weg dorthin gefahrvoll ist, doch er ist ein Lernender und Forschender, kein Krieger. Und Elbland birgt selbst Gefahren: Die geringeren und die größeren Übel (= bösen Mächte). Und auch Versuchungen. Denn eines Tages trifft der Schmied in einem Tal eine Gruppe junger Frauen, von denen besonders eine sein Auge betört. –

Doch wie jeder Kenner der Elfenliteratur – z. B. von „Thomas the Rhymer“ – weiß, ist es sehr gefährlich, sich mit einer Elbin einzulassen, denn die Zeit verrinnt in Elbland anders als in unserer Welt. Wenn in Elbland nur ein Woche vergangen zu sein scheint, vergeht in unserer ein Jahrhundert! Würde Smith seine Familie je wiedersehen, fragt man sich.

Die junge Frau steckt „Sternenbraue“, wie sie ihn nennt, eine weiße Blume ins Haar und schickt ihn nach Hause. Daheim wird er von seiner kompletten Familie begrüßt und die weiße Blume in ein Kästchen gelegt, wo sie nie verwelkte und nur von seinen Erben betrachtet werden konnte.

Als er das nächste Mal Elbland erforscht, gerät er in das Zentrum des Reiches, in den Palast der Königin. Sie empfängt ihn, mit einer weißen Flamme auf dem Kopf, und es ist die junge Tänzerin aus dem Tal – und doch auch die kleine Puppe, die auf dem großen Kuchen die Elbenkönigin darstellte. Sie gibt ihm eine Botschaft mit, an den König ihres Reiches: „Die Zeit zu wählen ist gekommen.“

Der Schmied kehrt nach Haus zurück. Er fragt sich natürlich, warum der Elbenkönig in seiner Welt lebt und wie er überhaupt aussieht. Doch wer genau aufgepasst hat, weiß, um wen es sich handelt …

Mein Eindruck

„Eine kurze Prosa-Meditation über das Geschenk der Fantasie (das ist doppeldeutig), was es ist, woher es kommt und welche Bedeutung es für das Leben und den Charakter des Mannes hat, der es erhält“, beschreibt Tolkien-Fachmann Paul H. Kocher diese scheinbar unscheinbare Geschichte.

„Elbenstern“ ist in sehr einfachen Worten erzählt, und doch ist es eine komplexe Geschichte: über Künstler, die mit dem Reich der Fantasie und dessen Bewohnern Kontakt haben. So begabte Künstler, sind häufig Außenseiter, nicht so jedoch der Schmied. Ähnlich wie Tolkien selbst hat er eine ihn liebende Familie, gesellschaftliches Ansehen und berufliches Auskommen. Auch wird der Schmied nicht vor eine schicksalschwere Wahl zwischen Fantasiereich und unserer Welt gestellt, wie so oft in der Fantasy. Der Schmied dient vielmehr dem Austausch: Er bringt mit seinen zwei Talenten große Kunst, aber auch Freude, Liebe und Weisheit in seine Umgebung.

Dabei ist die Begegnung mit dem Elbenreich keineswegs ohne Gefahren: Furcht, Täuschung, Schrecken und Versuchung bedrohen seine Existenz, ja seine geistige Gesundheit. Und doch zieht es ihn immer wieder dorthin, denn er schaut so wundervolle Dinge wie die Weltenesche, die die Welt erleuchtet mit ihrem Licht. Bis er eines Tages Elbland auch in seiner eigenen Welt suchen muss: Den König der Elben.

Es gibt nur wenige Geschichten, die richtig hypnotisch sind. „Elbenstern“ ist eine davon. Sie hat nur den Fehler, dass sie scheinbar nie zu einem richtigen Ende gelangt, sondern immer weiter und weiter geht. Aber Tolkien hielt sich ja bekanntlich nicht an die Regeln professionellen Schreibens. Was aber seinen Erfolg nicht verhindern konnte.

5) Blatt von Tüftler

Tüftler ist ein Maler, der es liebt, Details wie etwa die Blätter eines Baumes zu malen. Mittlerweile ist sein Baum ganz schön gewachsen auf der großen Leinwand, und zu dem Baum hat sich als Hintergrund eine weite Ebene gesellt, die von Bergen umsäumt wird.

Doch Tüftler hat ein weiches Herz, sodass er Hilfsersuchen ebenso wenig abweisen kann wie Besucher. Zwar ärgert er sich, dass dies ihn von der Arbeit an seinem Gemälde abhalte, doch er tut stets das, was höflich ist und sich geziemt. Deshalb hilft er seinem Nachbarn Paris, weil der ein krankes Bein und eine kranke Frau hat. Als er eines Abends im Regen losradelt, um für Paris einen Arzt und einen Dachdecker – der Wind hat einen Teil des Daches abgetragen – , holt sich Tüftler ein schweres Fieber.

Kaum ist er wieder genesen und will sich ans Malen machen, als zwei städtische Inspektoren hereinspazieren und ihn auf eine Reise schicken – ins nächste Hospital. Der dortige Oberarzt verordnet ihm Arbeit und noch mehr Arbeit: erst Tischlern, dann Graben. Tüftler lernt, seinen Tag einzuteilen und zu planen. Nach einer Weile hört er ein Zwiegespräch zwischen zwei Ärzten. Die zweite Stimme setzt sich für ihn ein, weil er sich um Paris gekümmert habe. Er wird entlassen.

Doch der Zug hält nicht in Tüftlers Heimatstadt, sondern mitten im Gelände. Doch da steht sein Fahrrad, und als er losradelt, entdeckt er eine schöne Landschaft, die ihm sonderbar vertraut vorkommt: Er fällt vom Rad, als er sein Bild erkennt – denn mitten darin steht sein eigener mächtiger Baum. Und da ist auch sein Nachbar Paris. Zusammen bauen sie ein Häuschen, denn Tüftler ist jetzt ein ganz praktisch denkender Bürger. Paris aber hat sich ebenfalls im Hospital verändert: Auf einmal weiß er die Geistesarbeit seines Nachbarn zu würdigen.

Mein Eindruck

Diese kurze Erzählung hebt sich von den anderen Beiträgen in diesem Sammelband stark ab, weil sie nicht für Kinder oder Jugendliche geschrieben wurde. Außerdem bedient sie sich nicht des Inventars von Märchen oder Sagen, sondern entwirft auf der Folie unserer Wirklichkeit – jedenfalls jener, die bis etwa 1960 zu finden war – eine eigene Welt.

Diese hat keine Namen außer Tüftler und Paris. Alle anderen Figuren haben lediglich Funktionsbezeichnungen, und deshalb entsteht der Eindruck, es mit einer Geschichte von Franz Kafka zu tun zu haben. Das Prinzip ist das Gleiche wie in einer der gleichnishaften Erzählungen – man denke nur an Herrn K, dem der Prozess gemacht wird.

Das Inventar ist also derartig abstrahiert, dass die Geschichte eine allgemeingültige Aussage anzunehmen beginnt. Doch worin besteht diese? Ein Maler, der bislang nur aus Lust fabulierenden Malen tätig war, wird plötzlich in ein Umerziehungsprogramm gesteckt, wie man es unter Stalin und Mao nicht schlimmer finden würde. Endlich wird ein „nützliches Glied der Gesellschaft“ aus ihm.

Zwei Ärzte oder Aufseher sitzen über ihn zu Gericht, als wären sie Hochkommissare. Die Stimme des „Guten“ behält die Oberhand und man entlässt den ehemaligen Künstler – in sein eigenes Gemälde, seine eigene Welt, die auf einmal ein Eigenleben angenommen hat. Kein Wunder also, dass Literaturkritiker wie Prof. Tom Shippey in Tüftler ein Alter ego Prof. Tolkiens sahen, der zwischen Künstlertum und Brotberuf hin- und hergerissen war – einerseits ein Autor von Weltruhm, andererseits ein Oxford-Don.

Aber die Geschichte endet nicht selbstzufrieden, sondern spöttisch: Von Tüftlers Magnum opus bleibt anfangs nur ein einziges gemaltes Blatt – das des Titels – dann brennt auch das beherbergende Museum ab, und weg ist auch dieser letzte Rest. Die Nachwelt, allesamt patente Bürger, lästert über den Künstler, bis auch seine Name verpönt ist.

Die Illustrationen

Eines von Alan Lees Markenzeichen findet sich auch in der vorliegenden Buchausgabe wieder: die filigranen Stiftzeichnungen, die an jedem Geschichten- und Kapitelanfang sowie im Text auftauchen. Sie sind scheinbar zart, doch der dreidimensionale Effekt ihrer Darstellung beeindruckt mich immer wieder.

Und alles ohne Farbe. Das heißt: Die einzige Farbe, die zu finden ist, erblickt der Leser auf der Vorderseite des Schutzumschlags. Und dies ist lediglich der kleine Ausschnitt eines größeren Gemäldes, das sich auf den beiden Umschlaginnenseiten des Buches selbst findet. Dieses Bild zeigt eindeutig den schrecklichen Drachen Chrysophylax und den furchtlosen Bauern Giles von Ham, nachmals König des Kleinen Königreichs.

Einen weiteren Ausschnitt bietet die Rückseite des Schutzumschlags. Doch was beide ausblenden, erspäht man nur auf den Innenseiten: die erschlagenen Ritter vor der Drachenhöhle. Dieses Detail wollte der Verlag dem Betrachter denn doch nicht zumuten …

Zu seiner Motivation hat Alan Lee ein kurzes Nachwort geschrieben. Er freut sich, endlich auch mal die weniger bekannten Texte Tolkiens kennen gelernt zu haben – hätte er nur schon gekannt, als er selbst kleine Kinder hatte! Diese Kinder sind offensichtlich das Publikum, für das viele Geschichten erfunden wurden (man denke nur an „Winnie the Pooh“).

Aber auch gelangweilte Schreiber erfanden gute Geschichten – so entstand bekanntlich die Grundidee eines der berühmtesten Kinderbücher der Welt: „In einer Höhle in der Erde lebte ein Hobbit.“ Der Professor himself kritzelte den Satz auf den Rand einer Seminararbeit. Der Rest ist Geschichte.

Unterm Strich

Der wunderschön mit Goldrahmen aufgemachte Sammelband „Geschichten aus dem gefährlichen Königreich“ lässt sich in zwei Hälften aufteilen. „Bauer Giles von Ham“ und „Roverandom“ sind actionbetonte und humorvolle Kindergeschichten, obwohl auch sie ihre zweite Bedeutungsebene haben. Die Zäsur stellt „Tom Bombadil“ dar, dessen Beiträge teils humorvoll-komisch, teils wehmütig sind.

Die zweite Hälfte des Bandes wird von nachdenklich, hintergründigen Erzählungen bestritten, nämlich „Schmied von Großholzingen“ und „Blatt von Tüftler“. Während „Schmied“ noch am ehesten als klassische Such-Legende betrachten werden kann, weist „Blatt“ eine gleichnishafte Allgemeingültigkeit auf, die nicht Kinder anspricht, sondern Erwachsene, die so etwas von Franz Kafka kennen („Das Gesetz“).

So entwickeln sich die Beiträge von übermütiger Drachentöter-Parodie zu nachdenklicher Kunstbetrachtung. Stets eignet den Geschichten aber eine kritische zweite Bedeutungsebene. In „Bauer Giles“ wird das Verhältnis zwischen Adel und Untertanen auf den Kopf gestellt, in „Roverandom“ die Unterstellung, Haustiere seien dumm, unterminiert. Auch Zauberer kommen hier nicht sonderlich gut weg.

In „Schmied“ wird selbst der unscheinbarste Bürger zum König der Elben, und in „Tüftler“ wird die geringe Wertschätzung der Kunst / Phantasie gegenüber den „Brotberufen“ einer Revision unterworfen. „Tüftler“ ist fast schon die Prosaversion von Tolkien berühmtem Aufsatz „Über Märchen“ (wonach, grob gesagt, Phantasie bzw. Fantasy der Ausbruch des Menschen aus dem Gefängnis des Alltags ist).

Die Illustrationen

Die Illustrationen könnte ich mir gar nicht besser wünschen. Sowohl Stiftzeichnungen als auch die farbige Titelillustration sind von einem erstaunlichen Detailreichtum. Sicher, andere Künstler wie John Howe stehen mehr auf Action und düstere Motive, doch Action kommt bei Lee ebenfalls vor.

Nur auf düstere Motive wie etwa Nazgûl steht Lee nicht sonderlich. Als idyllisch auf dem Land lebender Engländer mag er Dinge, die wachsen und sich verändern. Sein Drache Chrysophylax ist ebenso eindrucksvoll wie seine Adler – Lee mag Lebewesen, je ungewöhnlicher, desto besser.

Kurz gesagt: Eine schönere Ausgabe dieser Zusammenfassung vorhandener Bücher (s.o.) könnte man sich gar nicht wünschen. Diese Ausgabe sollte die alten Pappbände aus der Hobbit-Presse – ich meine „Fabelhafte Geschichten“ und „Tom Bombadil“ – endlich ersetzen. Und der Preis ist nicht gerade exorbitant zu nennen.

Fazit: Volle Punktzahl.

Hardcover: 333 Seiten
Originaltitel: Tales form the Perilous Realm (2008)
Illustration: Alan Lee
Aus dem Englischen von Margaret Carroux u. a.
ISBN 978-3-608-93826-5
www.klett-cotta.de

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)