J.R.R. Tolkien – Die Abenteuer des Tom Bombadil und andere Gedichte aus dem Roten Buch

Die Kuh sprang über den Mond

Dies sind Gedichte für Hobbitfreunde. Aber auch jeder andere Freund von Poesie kann damit etwas anfangen.

Viele Geschichten, die Tolkiens Gedichte hier erzählen, sind lustig. Der Autor macht sich offensichtlich einen Spaß daraus, Tiere auf amüsante und doch hintergründige Weise vorzustellen. Auch die Texte über die Abenteuer Tom Bombadils sind recht lustig. Vorgeblich entstanden diese „Gedichte aus dem Roten Buch“ im Westland, der Region um das Auenland herum. Andere Texte mit ernsterem Charakter könnten in Gondor entstanden sein, denn hier kommt mehrmals das Meer vor, ebenso die Elben, als sie Mittelerde verlassen.

Diese Sammlung trägt keine neuen Informationen zu den großen Werken „The Hobbit“, „Silmarillion“ und „Herr der Ringe“ bei, doch sie zeigt Tolkien von seiner poetischeren Seite und vertieft die wichtige Figur des Tom Bombadil.

Gedichte

Die Reihe der Gedichte eröffnen zwei erzählende Texte um die Figur Tom Bombadil. Er ist ja allen Lesern des „Herrn der Ringe“ aus dem ersten Band bekannt, wo Frodo und seine Gefährten das Auenland verlassen. In der Tat scheint das erste und ältere Gedicht „Die Abenteuer des Tom Bombadil“ schon vor dem „Herrn der Ringe“ entstanden zu sein, doch taucht hier bereits Toms Gefährtin, die Fluss- oder Quellnymphe Goldbeere, auf, die er zum Schluss zur Frau nimmt. Auch der Alte Weidenmann hat einen Auftritt, bei dem er Tom – wie später Frodos Gefährten – erst in den Schlaf wiegt und dann zu erwürgen versucht. Na, Tom hustet ihm was! Ebenso wie dem „Gräbergauch“ (barrow wight), der ihn ins kühle Grab holen will.

Im zweiten Gedicht, „Tom geht rudern“, macht sich der Held mit seinem wackligen Ruderboot auf den Weg, auf dem Fluss Weidenwinde zu den Hobbits zu reisen. Unterwegs necken ihn zahlreiche Bekannte. Von den Hobbits lässt er sich über den Fluss Brandywein übersetzen, um im Wirtshaus ordentlich zu zechen. Am nächsten Morgen bringen seine tierischen Freunde den Besinnungslosen im Ruderboot nach Hause.

Im folgenden Gedicht „Irrfahrt“ (The Knight Errant) – einem „mock heroic“ – tritt eine Art Don Quichotte auf, der es nach Art der Ritter und Helden machen möchte, aber leider nur von sinnlosem Abenteuer zu Abenteuer taumelt, ohne Frieden und Ruhe zu finden.

„Prinzessin Ich-mi“ ist eine recht romantische Skizze, die aber einen ernsten Hintergrund hat. Die titelgebende Prinzessin ist nämlich völlig allein und sehr einsam. Nichtsdestotrotz ist sie in feinste Stoffe und Juwelen gekleidet. Am Teich trifft sie auf eine Fremde, die sich Sie-si nennt, aber genau wie sie aussieht. Seltsam! Allmählich wird dem Leser klar, dass es sich um Ich-mis Spiegelbild handelt.

In den nächsten beiden lustigen Balladen geht es um den Mann im Mond. Diese Wirtshauslieder könnte Sam Gamdschie gut im Wirtshaus „Zum tänzelnden Pony“ in Bree vortragen: „Die Kuh sprang über den Mond …“ und so weiter. Dementsprechend sind Vers und Reim sehr einfach gehalten.

Troll-Gedichte

Die Balladen „Der Steintroll“ und „Luftikus“ gehören ebenfalls thematisch zusammen. Bei beiden steht ein Troll im Mittelpunkt. Trolle sind ja, wie jeder „Hobbit“-Leser weiß, recht ungemütliche Zeitgenossen: Sie sind aus Stein und fressen Menschen. In „Steintroll“ gibt Tom dem Troll einen kräftigen Tritt ins Hinterteil, weil der ihm den Bruder Tim gefressen hat – nur ein Knochen ist noch übrig, und den will Tom zurückhaben, um ihn zu bestatten. Doch so ein Trollhintern ist eben verdammt hart, Toms Fuß wird auf Lebenszeit gelähmt, und der Troll behält Tims Knochen.

In „Luftikus“ ist dieser Narr der einzige Mensch, der einem armen, sich sehr einsam fühlenden Einsiedel-Troll Gesellschaft beim Essen leisten will. Alle anderen Menschen nehmen Reißaus. Doch wie staunen sie, als Luftikus vom Troll mit einem vollgefressenen Wanst zurückkehrt! Nun wollen sie auch, doch sie werden abgewiesen. Luftikus hingegen wird ein berühmter Bäcker und bleibt sein Leben lang der Freund des Einsiedler-Trolls, den er jeden Donnerstag besucht. – Diese Geschichte erinnert mich an „Bauer Giles von Ham“, in der Giles Freundschaft (eigentlich einen Pakt) mit einem Drachen schließt, dadurch Reichtum erlangt und sein eigenes Königreich gründet.

Tier-Gedichte

Im ersten der folgenden vier Tier-Gedichte treten die unheimlichen Muhlipps (im Original „mewlips“) auf, die so eine Art gräberbewohnende Vampire sind. Obwohl das Original noch viel unheimlicher und schauriger klingt, vermittelt auch die Übersetzung einen Eindruck vom Horror dieser menschenfressenden Wesen der Schattenwelt. – Dies ist ein allegorisches Gedicht, das an manche Passagen aus „Die Unendliche Geschichte“ erinnert. Die Sümpfe etc. sind dunkle, negative Gefühle, können aber auch für eine falsche moralische Einstellung stehen. Wer sich in diesen Zustand hineinziehen lässt, braucht sich also nicht zu wundern, wenn er von den dortigen Dämonen verschlungen wird.

In „Olifant“ stellt sich das elefantenartige Wesen selbst vor, das Leser des „Herrn der Ringe“ aus der „Schlacht auf den Pelennorfeldern“ kennen. „Fastitokalon“ beschreibt das Fabelwesen eines „Schildkrötenwalfischs“, das ahnungslose Seefahrer ob seiner Größe für eine Insel halten können. Das erinnert stark an „Tausendundeine Nacht“ und Sindbad den Seefahrer. Die letzte Fantasie berichtet uns von den Gedanken der scheinbar träge träumenden Katze auf der Fußmatte. Sie erinnert sich an ihre wilderen Artgenossen. Merkwürdig ist dabei jedoch, dass der Gepard als Baumbewohner geschildert wird. Dies trifft eher auf den Leopard zu, denn Geparden bewohnen die Steppen, wo sie als Sprinter das Wild erjagen.

Romantische Balladen

„Schattenbraut“ ist eine recht bemerkenswerte Geistergeschichte. Da gibt es also einen jungen Mann, der keinen Schatten besitzt (warum wohl?) und darum offenbar in einen Stein verwandelt wurde. Nun kommt aber eine hübsche junge Frau des Wegs, die lange genug verweilt, dass der Mann lebendig werden und sie überfallen kann. Er klaut ihr ihren Schatten und macht sich davon. Sie wandelt fortan als Geist umher. So hat wohl auch der Mann seinen Schatten verloren. Nur in den Stunden des Zwielichts des Geistertags (vermutlich Halloween) kommen die beiden zusammen, um „einschattig bis frühmorgens“ zu tanzen. Warum aber brach der Bann, der auf dem Mann gelegen hatte? Ganz klar: „Sie flocht sich Blumen ins Haar, um sich damit zu bekränzen.“ Da sich jedoch nur Mädchen auf Freiersuche solche Kränze flechten, umwarb sie praktisch den Steinmann als zukünftigen Bräutigam, ohne dies natürlich zu wissen. (Aber ihre Oma hatte sie bestimmt davor gewarnt!) Nun sind die beiden Mann und Frau, können sich aber nur einmal im Jahr sehen – wenn sie ihren Schatten teilen.

„Der Hort“ spielt die Hauptrolle in einer höchst moralischen Erzählung, die vom deutschen Nibelungenlied inspiriert zu sein scheint. Der Hort spielt hier die Rolle des Rheingolds. Ein Zwerg (Alberich?) schuftete all sein Leben, um Gold etc. aus dem Stein zu holen und anzuhäufen. Ein Drache (= Fafner) raubte es ihm. Dem raubte es ein Recke (= Siegfried), der ihn erschlug. Doch auch der Recke wird (anders als Siegfried) wie alle Vorbesitzer des Horts einmal alt und kraftlos. Sein Reich fällt, der Schatz verschwindet hinter einer ewig verschlossenen Tür, Gras wächst über das Gemäuer – und die Welt wird wieder grün und lebendig wie am Anfang, bevor es dem Zwerg einfiel, die Welt auszubeuten, um materiellen Reichtum anzuhäufen. – Es fällt sicher niemand schwer, eine Parallele zur Lage des modernen Menschen zu ziehen, der nach materiellen Werten giert und dabei die Erde immer weiter zerstört.

Das Thema von „Muschelklang“ deckt sich mit jenem in „Irrfahrt“. Betört vom Rauschen des Meeres in einer am Strand gefundenen Muschel, macht sich ein Mann in seiner Abenteuerlust auf, über die Meere zu segeln und durch die Welt zu wandern. An einer Stelle hält er sich sogar für den König einer Gruppe von Pflanzen, so groß ist die von der Muschel verursachte Verblendung. Doch er scheint nie das zu finden, was ihn erfüllen könnte. Er endet als Bettelmann, grau und gebrochen. – Bemerkenswert ist an dieser Moritat, dass sie als einziges Gedicht von einem Ich-Erzähler vorgetragen wird.

In „Das letzte Schiff“ tritt endlich wieder mal eine Figur mit einem Namen auf: Fíriel – der Elbenname für „sterbliche Frau“ – lebt allein in einer ärmlichen Hütte an einem Fluss in Gondor. Ihr ganzes späteres Leben soll sie an jenen Tag zurückdenken, als sie eines Morgens am Fluss stand und das letzte Schiff der Elben vorbeifuhr. Die Elben luden sie, „die Elbengleiche“, sogar ein, mit ihnen in die Lande jenseits der Welt der Sterblichen (sprich: nach Valinor) zu fahren. Doch der Augenblick vergeht, als sie zögert, weil ihr Fuß im Schlick steckenbleibt. Sie verzagt. „Ich kann nicht – bin erdgeboren!“ – Schade, dieser Frau hätte ich durchaus ein besseres Schicksal als Einsamkeit und Arbeit gegönnt, wie Tolkien es ihr zuweist. Von Mann und Kindern jedenfalls erzählt er uns nichts, aber darauf kommt es wohl in diesem Zusammenhang weniger an, vielmehr auf den Unterschied zwischen Elb und Mensch. Dieser Gegensatz jedenfalls ist sauber herausgearbeitet.

Unterm Strich

Diese Gedichte sind wohl kaum von nationaler oder internationaler Bedeutung wie etwa die von Wordsworth oder Tennyson. Ihr Inhalt erschließt sich am ehesten dem Leser, der mit den literarischen Traditionen, aus denen sie geboren sind, vertraut ist. Wir wissen ja, dass Prof. Tolkiens Forschungsgebiet die alt- und mittelenglischen sowie die altnordischen Traditionen war. Die literarischen Qualitäten seiner Gedichte müssen sich also eher an diesen Traditionen und deren Themenvielfalt messen lassen. Als Anglist würde ich mal sagen, dass besonders die Balladen in bester englischer Tradition stehen. Für die Tiergedichte gibt es sicherlich Vorbilder in der reichhaltigen Nonsenslyrik der britischen Inseln, etwa bei Edward Lear.

Bei den ernsteren Gedichten und auch bei den Burlesken (Tom Bombadil, Der Mann im Mond) lässt sich durchaus von einer sauberen Ausführung sprechen. Dies zeigt sich unter anderem an der einwandfreien Handhabung von Reim, Vers und Metrum. Tatsächlich legt Tolkiens Lyrik in dieser Hinsicht eine erstaunliche Vielfalt an den Tag. Ein aufmerksamer Leser und noch viel mehr ein Sprecher wird entdecken, dass sich viele dieser Gedichte vertonen und singen lassen! Leider hat sich Donovan nie zu Tolkiens Gedichten herbeigelassen, sondern Lewis Carroll und W. B. Yeats bevorzugt.

Taschenbuch: 87 Seiten
Originaltitel: The adventures of Tom Bombadil and other verses from the Red Book, 1961
Aus dem Englischen übertragen von Ebba-Margareta von Freymann
ISBN-13: 978-3608950090

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