Pullman, Philip – Ich war eine Ratte

Der englische Autor Philip Pullman ist hauptsächlich durch seine Trilogie „His Dark Materials“ bekannt geworden, für die er viele Preise gewonnen hat und deren erster Teil Ende 2007 als opulentes Fantasyspektakel in die Kinos kommt. Dass er auch ansprechende Kinderbücher schreiben kann, beweist der Autor mit „Ich war eine Ratte“.

Das alte kinderlose Ehepaar Bob und Joan führt ein ruhiges, bedächtiges Leben, bis eines Abends ein mysteriöser Junge in einer dreckigen Pagenuniform vor ihrer Haustür steht. Als sie ihn fragen, woher er kommt oder wie seine Eltern heißen, antwortet er immer nur das Gleiche: „Ich war eine Ratte.“

Aus Mitleid nehmen die beiden den Jungen auf und nennen in Roger. Roger ist ein nettes, unbedarftes Kerlchen, auch wenn er sich manchmal ein wenig komisch verhält. Er kennt keine Tischmanieren, zerfetzt seine Bettwäsche und hat ein Faible für Bleistifte, an deren Spitzen er gerne herumknabbert.

Trotzdem wächst er dem Ehepaar ans Herz, und als sich herausstellt, dass der Junge nirgends vermisst wird, behalten sie ihn. Doch eines Tages will der königliche Hofphilosoph ihn untersuchen, doch Roger flieht aus dem Schloss und fällt Mr. Tapscrew in die Hände, der ein Kuriositätenkabinett leitet …

„Ich war eine Ratte“ ist ein niedliches kleines Märchen, das vor allem durch seinen heiteren Grundton und die originelle Grundidee besticht.

Die rasante, kurzweilige Handlung beinhaltet viele wunderbare Elemente, ohne sich allzu weit von der realen Welt zu entfernen. Trotzdem gibt es weder eine konkrete Orts- noch Zeitangabe, so dass die Geschichte sehr zeitlos wirkt. Sie ist aufgebaut wie ein Märchen, das bedeutet, sie beginnt mit einer friedlichen Ausgangssituation, die durch ein plötzliches Ereignis, das Verschwinden Rogers, gestört wird. Um die Ausgangssituation wieder zu erreichen, muss sich der Held, also Roger, durch eine Menge Missstände kämpfen.

Dadurch, dass bei Märchen darauf verzichtet wird, die Gedanken und Gefühle der Charaktere breitzutreten, legt „Ich war eine Ratte“ ein sehr flottes Tempo vor. Kurzweilig und witzig sind die Erlebnisse, in die Roger verstrickt ist. Sehr oft entstehen Missverständnisse, weil er auf das Verhaltensrepertoire einer Ratte zurückgreift. Er knabbert zum Beispiel gerne an allen möglichen Dingen herum und bringt eine Beamtin zur Verzweiflung, als er den gesamten Inhalt ihres Stiftbechers annagt. Als sie daraufhin sagt, dass ihre Nerven strapaziert sind, assoziiert der Junge das mit den Stiften und redet im weiteren Verlauf des Buches immer wieder von Nerven, wenn er Stifte meint.

Dieser Running Gag funktioniert vor allem dank der naiven Unbedarftheit Rogers. Der Junge, der keinem etwas tun möchte, aber ständig ins Fettnäpfchen tritt, wächst dem Leser schnell ans Herz und hat einen Großteil der Handlung zu tragen.

Auf ähnliche unschuldige und einfache Art und Weise schreibt Philip Pullman, und von der Schwermut, die bei „His Dark Materials“ vorherrscht, ist nur wenig zu spüren. Das Buch nimmt sich selbst nicht besonders ernst mit dem heiteren, oberflächlichen Humor, der hier zur Anwendung kommt. Da es immer noch ein Kinderbuch bleibt, auch wenn Erwachsene ebenfalls Spaß daran haben werden, benutzt Pullman einen simplen, aber runden Stil, der sich durch kurze Beschreibungen und unkomplizierte Satzbauten auszeichnet. Wirklich prägnant ist und bleibt aber das Augenzwinkern, mit dem der Autor erzählt und das sich in dem wunderbaren, da daueranwesenden und nicht überzogenen Humor manifestiert.

Das Gegengewicht zur Märchenhaftigkeit stellen die Zeitungsartikel des |Morgen-Echo| dar, die immer wieder eingestreut werden. Sie sind illustriert und ungefähr auf dem Niveau der Zeitung mit den vier Großbuchstaben gehalten. Die Themen sind entweder die Flitterwochen des Königspaars oder Volksverhetzung, aber Pullman nimmt sich an dieser Stelle erneut nicht ernst und gestaltet die Artikel so überspitzt und satirisch, dass sie die Geschichte unheimlich auflockern. Einige seiner Übertreibungen beinhalten dabei durchaus eine leichte Kritik an der heutigen Gesellschaft, zum Beispiel beim Thema der „Jugendkriminalität“. Aufhänger ist der Einbruch einer Kinderbande in ein Haus, worauf sich Experten zu Wort melden und wahlweise den Eltern, der Schule, der Kirche und der Regierung die Schuld an der Morallosigkeit der Jugend zuschieben. Nur das |Morgen-Echo| hat den Durchblick:

|»Unsinn! Unsere so genannten Experten haben wie gewöhnlich Unrecht. Das ewige Gejammer über die Lage der Welt, die ewigen Schuldzuweisungen – kein Wunder, dass unser Land im Chaos versinkt, wenn es von solchen Menschen geführt wird.
Und nun ein Wort zur Jugendkriminalität.
Es sind doch die Kinder, die das anstellen.
Also, warum weiter nach Ursachen suchen?
DIE KINDER SIND SCHULD!«| (Seite 111)

„Ich war eine Ratte“ ist ein vergnügliches, märchenhaftes Kinderbuch, das aufgrund seiner Originalität und der Spitzen gegenüber der heutigen Gesellschaft auch Erwachsenen Spaß macht. Pullmans flotter Erzählstil und der naive Humor sorgen dafür, dass keine Langeweile aufkommt und man immer wieder herzhaft lachen darf.

http://www.carlsen.de

|Siehe ergänzend dazu auch unsere Rezension von Philip Pullmans [„Graf Karlstein“. 3374 |

Schreibe einen Kommentar