Gil Ribeiro – Spur der Schatten (Lost in Fuseta 02)

„Nach dem fulminanten Start seiner Krimireihe um Leander Lost, den so ungewöhnlichen wie liebenswerten Hamburger Kommissar in Diensten der portugiesischen Polícia Judiciária, führt uns Gil Ribeiro mit »Lost in Fuseta – Spur der Schatten« in einen äußerst spannenden Fall, dessen Hintergründe um die koloniale Vergangenheit Portugals kreisen.

»Ich habe das Gefühl, ich bin jetzt angekommen«, hatte Leander Lost schwer verletzt, aber glücklich zu seinen neuen portugiesischen Kollegen gesagt, nachdem sie in ihrem ersten gemeinsamen Fall den schmutzigen Geschäften eines Wasserversorgers an der Algarve auf die Schliche gekommen waren – und nachdem Lost endlich verstanden hatte, wie man einen gelungenen Witz macht.

So stürzt sich der schlaksige Deutsche und Asperger-Autist gemeinsam mit den Sub-Inspektoren Graciana Rosado und Carlos Esteves in die Ermittlungen um eine verschwundene Kollegin – zumal er fasziniert ist von der Tochter der Verschwundenen, die ähnlich eigenwillig auf die Welt zu blicken scheint wie er…“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Gil Ribeiro ist Holger Karsten Schmidt, geboren 1965 in Hamburg, ein Autor einiger Kriminalromane und zahlreicher Drehbücher. 2017 veröffentlichte Schmidt den Kriminalroman „Lost in Fuseta – Ein Portugal-Krimi“ unter dem (offenen) Pseudonym „Gil Ribeiro“. Es ist der Auftakt einer Romanreihe um den Hamburger Kriminalkommissar Leander Lost, der im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms nach Fuseta bei Faro an der Algarve versetzt wird.

Seitdem wird von dem Schauspieler Andreas Pietschmann ein Hörbuch zum jeweiligen Roman eingelesen. Im September 2022 wurde mit „Lost in Fuseta – Ein Krimi aus Portugal“ ein Zweiteiler mit Jan Krauter in der Titelrolle des Hamburger Kommissars Leander Lost auf Das Erste gesendet.

Romanübersicht

1 Lost in Fuseta – Ein Portugal-Krimi 2017 Kiepenheuer & Witsch
2 Spur der Schatten 2018 Kiepenheuer & Witsch
3 Weiße Fracht 2019 Kiepenheuer & Witsch
4 Schwarzer August 2020 Kiepenheuer & Witsch
5 Einsame Entscheidung 2022 Kiepenheuer & Witsch
6 Dunkle Verbindungen 2023 Kiepenheuer & Witsch

Handlung

Der Hamburger Kriminalkommissar Leander Lost, der im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms nach Fuseta bei Faro an der Algarve versetzt wird, ist ein Asperger-Autist, der ein eidetisches Gedächtnis besitzt, das nichts vergisst. Sein logischer Verstand funktioniert wie ein Computer. Er geht unkonventionelle Wege, um einen Fall zu lösen, und fordert seinen portugiesischen Kollegen ein hohes Maß an Verständnis und Toleranz ab. Er kann beispielsweise nicht lügen, und seine Ehrlichkeit stößt manchen vor den Kopf. Auch kann er Emotionen nur auf logischem Weg „erspüren“ und am Gesicht ablesen, was nicht immer treffsicher ist. Aber um seine Konversationsfähigkeiten zu verbessern, hat er Dan B. Tuckers unfehlbaren Ratgeber über alle sinnlosen Sätze auswendig gelernt. Es funktioniert!

Verschwunden

Teresa, eine beliebte Kollegin der Polizeiwache in Fuseta, ist verschwunden. Sub-Inspektorin Graciana Rosado hat vorübergehend das Kommando über die Ermittler, denn ihr Vorgänger, ein korrupter Polizeichef, segnete leider zwangsweise das Zeitliche und ein Nachfolger ist noch nicht gefunden. Zusammen mit den Sub-Inspektoren Carlos Esteves und Miguel Duarte machen sie sich auf die Suche.

Teresa war zuletzt – ohne ihr Handy – in Lagos, um in einer Buchhandlung ein Buch abzuholen, das ein Unbekannter dort für sie hatte hinterlegen lassen. Aber seltsam: Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ hatte Teresa doch schon gelesen. Sonst ging sie immer hin, um den neuesten Bestseller zu kaufen, erzählt ihre Verwandtschaft.

Sie muss in die Tiefgarage gefahren sein, die sich in der Nähe der Buchhandlung befindet. Dort finden sich Blutspuren. Wurde sie erschossen, dann sieht man das jedenfalls nicht auf den Überwachungsvideos der Tiefgarage. Lost vermutet, dass der oder die Täter genau wussten, dass sie in einem toten Winkel zuschlagen mussten, den die Kameras nicht erfassten. Das bedeutet, dass sie genau geplant hatten, Teresa zu töten. Der unbekannte Buchbesteller brauchte Teresa dann nur noch zum Tatort zu locken. So viel Kaltblütigkeit lässt den Ermittlern kalte Schauer über den Rücken laufen. Graciana startet eine Ringfahndung mit Teresas Konterfei.

Entführt?

Wenig später wird gemeldet, dass aus Fuseta zwei Personen verschwunden seien, eine Mutter mit ihrer jungen Tochter. Sie könnten überall sein, oder? Nein, widerspricht Lost. Fuseta sind mehrere Inseln vorgelagert, die sich ideal als Versteck anbieten. Aber nur die für Touristen und Urlaubsgäste geeigneten Häuser kommen in Betracht, schränkt Lost ein. Und tatsächlich: Im letzten Haus, das sie untersuchen wollen, haben sich zwei gefährliche Exsoldaten verschanzt. Aber für wen arbeiten sie und was soll die Entführung bezwecken, fragt sich Graciana.

Im Visier

Aus Lissabon kommt die „Bitte“, das heißt die Anweisung, eine angolanische Besucherin zu „betreuen“, das heißt zu beschützen. Flores Yola ist eine politische Aktivistin, die in Lissabon eine Rede halten will, die inhaltlich sehr brisant ist: Sie fordert die Ablösung des korrupten angolanischen Elite-Systems, das sich nur selbst bereichert: des Santos-Clans. Dieser Krake strecke bereits seine Arme nach Portugal aus, um TV-Sender, Banken und vieles mehr zu übernehmen. Es geht um Milliarden – und deshalb schreckt der Santos-Clan auch nicht vor einem perfiden Mordanschlag auf die Aktivistin zurück. Zu dessen Ausführung ist die Entführung der beiden Frauen das nötige Druckmittel. Doch wer soll den Anschlag ausführen?

Ablenkung

Während sich Graciana, Lost und ihre Kollegen mühen, den Anschlag zu vereiteln, beobachtet Graciana den Bauch ihrer hübschen Schwester Soraia. Die hat sich unübersehbar in den deutschen Intelligenzbolzen verliebt. Aber ist diese Liebe bereits zu einem erotischen Stelldichein vorangeschritten, fragt sich Graciana. Immerhin kam Teresas letzter Anruf auf ihrem zurückgelassenen Handy von Lost. Da er nicht lügen kann, gibt er ihr gegenüber freimütig zu, dass er von Teresa Tipps für die Fortpflanzung haben wollte. Gracianas Blicke auf Soraias Bauch werden kritischer…

Mein Eindruck

Die Krimis des Autors leben vor allem von ihren Figuren, und diese sind in aller Regel etwas ungewöhnlich. Das kann man auf jeden Fall von Leander Lost behaupten, dem Asperger-Autisten, der seinen portugiesischen Kollegen eine Menge Computerzeit und Sucharbeit erspart. Nicht nur seine logische Denkarbeit, sondern auch sein eidetisches Gedächtnis erweisen sich als große Bereicherung der kniffligen Ermittlungsarbeit. (Ich könnte mir August Diehl als ideale Verkörperung dieser Rolle vorstellen, aber in der vorliegenden Verfilmung von 2022 spielt Jan Krauter die Titelrolle.)

Die eher physische Arbeit, etwa bei einem Zugriff, überlässt er gerne dem kräftig gebauten, dauernd Junkfood essenden Carlos Esteves und seinem spanischen Kollegen Miguel Duarte. Dass solche Charaktere auch mal klischeehaft werden können, zeigt sich an Duartes Eigenschaften: Er ist der typische „stolze Spanier“ aus dem Bilderbuch, aber in Wahrheit steckt in ihm ein Feigling: Er geht nie ohne kugelsichere Schutzweste aus. Und im dramatischen Action-Showdown erweist sich, dass auch Carlos Esteves so ein Utensil zu tragen weiß.

Dass Leander Lost so ein kluges Köpfchen ist, muss nicht bedeuten, dass er ein angenehmer Zeitgenosse ist, findet Graciana. Mit Ehrlichkeit und Logik verletzt man viele Emotionen. Wenigstens hat sie und ihr Team inzwischen gelernt, ihn zu nehmen, wie er ist. Als sich Teresas Tochter ebenfalls als Asperger-Talent erweist, scheint das Schicksal des Paares besiegelt zu sein: Sie müssen bestimmt heiraten und sich fortpflanzen. Falsch gedacht! Leander Lost entscheidet sich anders, sobald ihm die resolute Graciana ihm von Soraias Liebe zu ihm erzählt hat. Von alleine hätte er die unverkennbaren Anzeichen nicht registriert. Wie Losts Wahl ausfällt, darf hier nicht verraten werden.

Humor

Der Clou ist die Erfindung von „Dan B. Tuckers Wörterbuch der sinnlosen Sätze“ und dessen Einsatz. Beispiele gefällig?
„Sieh mal einer an!“ und
„Wer hätte das gedacht?“ und
„Was sagt man dazu?“

Solche Worthülsen verwendet unsereins vielleicht intuitiv, um Erstaunen auszudrücken. Aber Leander Lost verwendet dieses hohle Wortgeklingel ganz bewusst und absichtsvoll. Und erst dadurch wirkt es auf einmal so komisch.

Zwar ist der oben erwähnte Dan B. Tucker ein Pseudonym, aber ob der „wahre Name“ nicht doch ebenfalls erfunden ist, lässt der Autor ebenfalls anzweifeln. Wie auch immer: Die sinnlosen Sätze sind im gezielten Einsatz – der jeweils genau bibliografisch „belegt“ wird – ein voller Erfolg. Das lässt tief in die Basis zwischenmenschlichen Miteinanders blicken.

Das zweite Thema dreht sich um Fortpflanzung. Seit in der westlichen Welt die Baby-Mania ausgebrochen ist, dürfte dies vor allem weibliche Leser – und das ist die große Mehrheit der Leserschaft – von großem Interesse sein: Ist der Intelligenzbolzen Leander auch unterhalb der Gürtellinie aktiv, ist er nun ein Daddy oder nicht, und wenn ja, bei welcher? Zweifellos ein pikanter Casus, dessen wahren Sachverhalt es schleunigst zu ermitteln gilt!

Das Generalthema

„Die Schatten“, das ist keine wohlfeile literarische Metapher, sondern eine nebulöse Organisation aus Exsoldaten, die in den ehemaligen Kolonien Portugals, etwa Angola, tätig waren. Sie verwenden alle den Decknamen „Joao Silva“, was etwa dem deutschen „Hans Meier“ entspricht. Diese Tätigkeit ist hingegen ebenso nebulös wie flexibel: Sie sind die Handlanger des jeweiligen Regimes, in Angola sind das die Mitglieder des Santos-Clans. Dabei machen sich die Santos nicht die Finger schmutzig, sondern das erledigen die „Berater“. Dass sich der Autor diesen Hintergrund nicht aus den Fingern gesaugt hat, belegen die im Nachspann zu findenden Angaben zu historischen Ereignissen. Dazu gehörte 2017 (als dieser Roman erschien) der Rücktritt der Regierung Santos.

Nun tritt also eine Aktivistin auf, die in Lissabon auf einem Treffen auf höchster Ebene die Bombe platzen lassen will: Die illegale Bereicherung des Santos-Clans müsse aufhören, ebenso die Arbeit der „Schatten“. Dass sie eine Wiedergutmachung der ehemaligen Kolonialmacht fordern wird, liegt nicht außerhalb des Möglichen. Klar, dass Lost sie um jeden Preis vor dem geplanten Anschlag schützen will. Aber würde das nicht die Entführer der zwei Frauen alarmieren? Es ist eine Zwickmühle, bei der die Zeit gnadenlos abläuft. Ein Herzschlag-Finale, wie es im Buch steht, folgt. Der Ausgang darf nicht verraten werden.

Unterm Strich

Mit der Lektüre kam erfreulicherweise der Appetit auf mehr. Denn nicht nur die Figuren wissen neugierig zu machen und zu unterhalten, sondern auch die Landschaft selbst. So entpuppt sich der Roman nicht nur als Reiseführer zur östlichen Algarve, sondern auch als Sprachführer und Kochbuch. Es gibt so viele Kochrezepte zu lokalen Köstlichkeiten, dass ich sie nicht mehr zählen konnte . Da kann Rita Falk mit ihren kulinarischen Lokalkrimis einpacken. Die fremden Wörter werden zwar nicht alle übersetzt, aber dass wenigstens „obrigado“ (danke) geläufig sind, darf der Autor beim zweiten Fuseta-Krimi voraussetzen. Und bei Fans von Portugal sowieso.

Die Verbrechen sind ebenso rätselhaft wie die Wendungen, die die Ermittlung nimmt. Ein Rätsel deshalb, weil die Identitäten der Täter durch Decknamen geschützt werden und den Leser in die Irre führen sollen. Hier herrscht die Ich-Perspektive vor, die natürlich nichts preisgibt. Bei der Ermittlung folgt eine Erkenntnis auf die nächste und mitunter leistet sich der Autor auch einen Cliffhanger. Das ist „oldschool“, aber immerhin stets effektiv.

Dass auch Portugal als ehemalige Kolonialmacht über rund 500 Jahre einiges an Altlasten angesammelt hat, leuchtet ein. Aber nun schlägt die Kolonie – diesmal Angola – zurück und beginnt, das Mutterland zu übernehmen. Und dies ausgerechnet durch einen korrupten Regierungsclan, der schon einiges auf dem Kerbholz hätte – wenn da nicht vielen „Schatten“ wären, die die blutige Drecksarbeit erledigen. Der Besuch einer Aktivistin droht alles auffliegen zu lassen. Der Anhang informiert den Leser, dass die meisten dieser Ereignisse in Angola tatsächlich stattgefunden haben. Auf dieser Ebene erweist sich der Roman letzten Endes als relevantes Stück Gegenwartsliteratur.

Taschenbuch: 390 Seiten.
ISBN-13: 9783462051247

www.kiwi-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)