Wenige Tage nachdem Sandrine zu der Insel aufgebrochen ist, auf der ihre verstorbene Großmutter gelebt hat, findet man sie verstört und mit fremdem Blut an ihren Kleidern am Strand. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Was sie erzählt, ist wirr. Kommissar Damien kann sich keinen Reim darauf machen. Von welchem Kinderheim spricht Sandrine? Was hat es mit dem Bootsunglück auf sich, bei dem alle Kinder ums Leben gekommen seien sollen? Und weshalb stammelt sie immer wieder voller Schrecken diesen einen Namen: der Erlkönig? Damien folgt den Puzzleteilen von Sandrines Geschichte – und blickt schon bald in einen Abgrund, der dunkler ist als jede Nacht… (Verlagsinfo)
Mein Eindruck:
Erstens: was für ein fesselnder Thriller, ich habe „Der Erlkönig“ innerhalb von eineinhalb Tagen regelrecht inhaliert, und mein Gehirn wurde – vor allem während des letzten Drittels – enorm durchgerüttelt!
Zweitens: was für ein Irrgarten, die Handlung ist meiner Meinung nach mit den Filmen von Christopher Nolan vergleichbar: undurchsichtig, mysteriös, verschachtelt, herausfordernd sowie anregend.
2018 stellt Professor François Villemin während einer seiner Vorlesungen den Fall namens Sandrines Refugien vor. Handelt es sich dabei um einen Kriminalfall, um einen psychiatrischen Fall, oder beides? Geht es um ein Opfer oder eine Täterin?
Nach dieser Einführung, lernen die Leser*innen die Umstände kennen, die Sandrine 1986 zu einer besonderen Insel führten. Bis zum letzten Drittel springen Ereignisse aus dem Jahr 1949 rund um Sandrines Großmutter, und ihre eigenen Erfahrungen auf dem Eiland, hin und her. Dann geht es hauptsächlich um die Geschehnisse, die sich nach Sandrines Ausflug auf der Insel ereigneten: Der zutiefst depressive Kommissar Damien begann zu ermitteln, denn die junge Frau war blutüberströmte und völlig verstört. Sie berichtete von den Schatten des 2. Weltkrieges, sie erzählte vom Erlkönig sowie dem unerträglichem Leid der Inselbewohner.
Aber wie hängen die Nachwirkungen der Nazi-Gräueltaten, die unglücksseligen Inselbewohner, der Erlkönig, Sandrines Trauma, und die tragische Vergangenheit des Ermittlers zusammen? Der Autor streut zwar wertvolle Hinweise, diese sind allerdings so elaboriert in ein hoch komplexes Rätsel eingeflochten, dass die Auflösung wohl niemand auch nur zu erahnen kann. Zum Ende hin amüsiert sich der Professor über die Studierenden „indem er ihnen ihre Unfähigkeit vorführte, Lösungen zu finden, die direkt vor ihrer Nase lagen“. Ich habe den Eindruck, der Autor macht das Gleiche mit der Leserschaft, wobei er für mein Empfinden bei einem entscheidenden Aspekt ganz schön trickreich vorgeht – das trübt für mich jedoch weder den Lesegenuss im Nachhinein, noch die überraschende Auflösung!
Der Autor
Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d’Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel. (Verlagsinfo)
Fazit:
Der Schreibstil des Autors ist ungemein packend: atmosphärisch, lebendig, geistreich – wenn nicht gar stellenweise philosophisch. Die Handlung ist düster, rätselhaft, facettenreich sowie spannend. Der Jérôme Loubry nutzt die Settings – eine Insel mit nur vier Bewohnern und einen abgeschiedenen Bauernhof – äußerst gekonnt als Rahmen für seine raffinierte, erschütternde Geschichte. Die Figuren sind wie Phantome: sie bewegen sich zwischen der Realität & Refugien, zwischen echten & metaphorischen Monstern, zwischen Resignation & Hoffnung. Sie sind überall & nirgends, gleichzeitig stark & schwach.
Die Moral von der Geschicht‘ hat mich sehr bewegt, denn sie ist schrecklich schön und hallt lange nach! Sie ist intelligent & enthüllend, eben sowie alltäglich & allgegenwärtig.
e-book: 400 Seiten
Originaltitel: Les Refuges
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
ISBN-13: 9783548063751
www.ullstein-buchverlage.de
Der Autor vergibt: