Hill, Susan – Der Menschen dunkles Sehnen

Susan Hill, geboren 1942 in Scarborough, begann schon als junge Frau zu schreiben. Sie hat zahlreiche Romane, Jugendbücher, Hörspiele und Sachbücher veröffentlicht. Mit ihrer neuen Trilogie hochklassiger Kriminalromane erobert sie derzeit eine riesige Fangemeinde.
Susan Hill lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einem Landhaus in Gloucestershire.

_Inhalt:_

Im englischen Kathedralstädtchen Lafferton scheint die Welt noch in Ordnung. Familien gehen ihren Geschäften nach, der Kirchenchor und ein engagiertes Ärztepaar sorgen fürs Gemeindewohl, und über allem thront ein grüner Hügel, den Sportler und Flaneure zu fast jeder Stunde bevölkern. Als die alleinstehende, 53-jährige Angela Randall beim Joggen im Nebel verschwindet, will die Polizei den Fall schnell wieder zu den Akten legen. Ist sie nicht eine Erwachsene, die gehen kann, wohin sie will? Nur Kommissarin Freya Graffham hat ein ungutes Gefühl; vor allem, als sie im Küchenschrank der Vermissten einen seltsamen Brief findet.

Bald darauf kommt eine weitere Frau, die junge Debbie Parker, nicht mehr von ihrem Morgenspaziergang auf dem Hügel zurück. Die Polizeit fragt sich, ob dies nicht alles mit den seltsamen New-Age-Heilern und Esoterikern zusammenhängt, die seit einiger Zeit ihre Praxen im Nachbarort betreiben. Als schließlich weitere Menschen verschwinden, und die Hinweise auf einen teuflisch-raffinierten Täter, der die Wissenschaft vom Körper zu lieben scheint, sich mehren, wird die Polizeistation trotz gerade anhaltender Drogen-Razzien in Alarmbereitschaft gesetzt.

Ganz langsam kriecht das Böse in die heimeligen Gässchen Laffertons, und nahezu jeder käme als Schuldiger in Frage. Wenn man genauer hinsieht, hat jeder einzelne Charakter schicksalshafte Brüche in seinem Leben gehabt, selbst Polizeichef Simon Serrailler, in den Freya sich direkt beim ersten Treffen verliebt hat. Die junge und engagierte Kommissarin lässt schließlich auch nicht locker, bis sie entdecken muss, was all jene verbindet, die niemals von Laffertons idyllischem Hügel wiederkehren …

_Bewertung:_

„Der Menschen dunkles Sehnen“ ist nicht nur ein standesgemäßer Krimi, sondern zudem auch eine Erzählung von Menschenschicksalen, bei denen nicht selten der Tod eine große Rolle spielt.

Da wäre zum einen die beliebte Ärztin Cat Derborn, die fast tagtäglich mit schwer kranken Menschen zu tun hat, denen sie in ihrer letzten Stunde Beistand leisten muss. So zum Beispiel dem alten Harry, der zusammen mit seiner Frau Iris und der Doktorin die letzten Minuten verbringt, bis er schließlich dahinscheidet. Iris hingegen kommt mit dem Tod ihres Mannes nicht zurecht, entscheidet sich schließlich für die Teilnahme an einer Seance, kann aber niemandem mehr davon erzählen, weil sie anschließend nicht mehr gesehen wird. Dieses Schicksal teilt sie wiederum mit der unscheinbaren Angela Randall, einer Frau, deren Vergangenheit und deren ganzes Leben vollkommen ungewiss ist, weshalb ihr Verschwinden zunächst auch keine großen Nachwirkungen mit sich bringt. Die andere Leidtragende, Debbie Parker, lebt ebenfalls sehr zurückgezogen und hat enorme Probleme mit ihrem Äußeren. Auch sie sucht einen alternativen Therapeuten auf, um sich gegen Akne behandeln zu lassen, und kehrt eines Tages nicht zurück.

Dann wäre da die junge Kommissarin Freya Graffham: Nach ihrem unglücklichen und peinvollen Eheleben in London hat sie in Lafferton eine neue Heimat und neue Freunde gefunden, und der letzte Schritt zu ihrem Glück wäre eine Beziehung mit dem Polizeichef Simon Serrailler. Der hingegen ist eher scheu, was solche Beziehungen betrifft, und hat schon mehrere Frauen zurückgewiesen. Seine Mutter ist da das genaue Gegenteil; sie betätigt sich bei Wohltätigkeitsorganisationen, hilft, wo sie nur kann, und sieht entgegen ihrem Mann in Simon keinen Versager, bloß weil dieser sich wie der im Gegensatz zum Rest der Familie nicht für eine Arztkarriere entschieden hat – eben so wie seine Schwester Cat, mit der die Liste ja begonnen hat. Und dann wären da noch unzählige New-Age-Therapeuten, so genannte Quacksalber, die auch allesamt ihre Gründe haben, warum sie in der heutigen Zeit nicht als ‚echte‘ Äzrte praktizieren – und die sind ebenfalls in einer schicksalhaften Vergangenheit verankert …

Susan Hill leistet wirklich einzigartige Arbeit, indem sie die verschiedenen Charaktere und ihr gesamtes Leid, ihre schmerzvolle Vergangenheit, ihre Probleme, sich so richtig in die ’normale‘ Gesellschaft zu integrieren, und die möglichen Lösungsstrategien mit allen wichtigen Details beschreibt und dabei geschickt den Bogen zum unscheinbaren aber trügerischen Dorf Lafferton spannt, wo diese Menschen nun alle aufeinandertreffen. Jede Person scheint ein Einzelschicksal zu sein, doch irgendwie besteht zwischen alldem eine Verbindung, und genau diese stellt Susan Hill episodenhaft und unheimlich spannend über die Spanne von 550 Seiten dar. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf den düsteren Eigenschaften der menschlichen Seele, die vor allem bei den betroffenen und kranken Menschen sehr gut zur Geltung kommt. Im Detail geht sie hier spezifisch auf das Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung ein, erforscht aber in ihren Schilderungen auch, wie sich diese beiden konträren Punkte letztendlich bedingen. Am besten gelungen ist dies bei der Freundin von Cat Deerborn, die an Krebs erkrankt ist, nach außen hin eine sehr starke Persönlichkeit verkörpert und glaubt, dass alternative Behandlungsmöglichkeiten sie von ihrem Leid befreien, obwohl sie andererseits fest weiß, dass sie ohne eine echte medizinische Therapie keine Chance gegen ihre Krankheit haben wird.

Die düstere Seite der Seele wird aber auch in den ‚bösen‘ Charakteren dieses Buches beschrieben. Nicht, dass man sofort wüsste, wer nun wirklich gut und böse ist (und das ist ein weiterer Geniestreich von Susan Hill), aber wenn ich nun rückblickend betrachte, wie Susan Hill hier langsam aber mit Bestimmtheit das Bild eines eigentlich unauffälligen Psychpathen entstehen lässt, dann kann ich vor diesem Meisterstück nur den Hut ziehen. Die Autorin ist diesbezüglich aber auch sehr einfallsreich und stellt den mutmaßlichen Täter von zwei Seiten vor: einmal aus der Ich-Perspektive, durch verschiedene zwischendurch eingefügte Kapitel in Form eines Tonbands, auf dem derjenige seine Beweggründe und Gedanken äußerst; und zum zweiten aus der Sicht der Bürger Laffertons und hier besonders Freya Graffham, die sich dieses mysteriösen Falles angenommen hat.

Letztendlich ist es aber auch eine Moral, die Susan Hill hier kreiert. Sie zeichnet nämlich das Bild eines völlig unauffälligen Menschen nach, der jedoch von inneren Zwängen so sehr vereinnahmt wird, dass er abseits seines Alltags zu Greueltaten fähig ist, die man ihm niemals zutrauen würde. Und weil diese Geschichte in einem ansonsten sehr ruhigen und geselligen Dörfchen spielt, zeigt Hill zudem auf, dass die düsteren Geheimnisse des menschlichen Antriebs überall versteckt sind, selbst in einem kleinen Ort wie Lafferton!

Schlussendlich bin ich von der Geschichte schwer beeindruckt, auch wenn die Autorin für meinen Geschmack mit manchen Hinweisen ein Stück zu früh herausrückt. Das Rätsel um das Verschwinden der verschiedenen Frauen bzw. darum, was oder wer genau dahintersteckt, wird nämlich ansatzweise schon nach der Hälfte des Buches aufgelöst. Trotzdem bleibt die Spannung bis zur letzten Seite aufrecht erhalten, denn Hill hat sich bis dorthin schon so viele Türen geöffnet und so viele Einzelheiten zu den verschiedenen Charakteren preisgegeben, dass man keine Ruhe hat, bevor man nicht wirklich jedes noch so winzige Detail erfahren hat. Hinzu kommt ein schier unvergleichlicher Schreibstil: kurz und prägnant, simpel und teilweise umgangssprachlich, aber nicht weniger fesselnd als so manch hochtrabender Roman – und somit auch sehr sympathisch. „Der Menschen dunkles Sehnen“ lebt von seinen meisterlich gezeichneten Charakteren und der intelligenten Herangehensweise von Susan Hill – und ist damit in Sachen Krimi/Thriller eines der besten Bücher, die derzeit auf dem Markt zu finden sind!