_Psychodrama: Kampf der Unschuld gegen Dämonen_
England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Eine neue Gouvernante übernimmt die Betreuung und Erziehung der Waisen Miles und Flora auf dem einsam gelegenen, herrschaftlichen Landsitz Bly. Doch die Idylle trügt. Schreckliches hat sich hier ereignet.
Der böse Einfluss der vorherigen Gouvernante und des Hausverwalters scheint fortzuwirken, obwohl beide mittlerweile verstorben sind. Die neue Gouvernante beginnt, von Tag zu Tag mehr an den Unschuldsmienen ihrer Schützlinge zu zweifeln … (Verlagsinfo)
Empfohlen ab 14 Jahren.
_Der Autor_
Henry James (1843 bis 1916) wurde in den USA geboren, lebte aber ab 1876 in Großbritannien und entfaltete dort einen enormen Einfluss auf die Schriftsteller seiner Zeit, namentlich auf H. G. Wells und Joseph Conrad. Er ist eine zentrale Figur in der Entwicklung des modernen Romans und für die so genannte |Supernatural Fiction|, die heute unter Horrorliteratur subsumiert wird, von ebenso großer Bedeutung: Er führte das Konzept des „unzuverlässigen Berichterstatters“ als Erzählmodus ein und schrieb mit „The Turn of the Screw“ auch gleich das beste Beispiel dafür.
Wer sich den Film „The Others“ ins Gedächtnis ruft, dem wird auffallen, dass auch dort die Hauptfigur, durch deren Augen wir das Geschehen hauptsächlich – aber nicht durchgehend – verfolgen, ebenfalls höchst unzuverlässig ist. Das liegt an der einzigartigen Grundbedingung ihrer Wahrnehmung: Sie ist ein Geist.
_Die Sprecher_
Vor diesem Hintergrund ist es eine positive Überraschung zu lesen, dass die deutschen Stimmen der zwei Kinder der Hauptfigur in „The Others“ auch in „Die Unschuldsengel“ zu hören sind. Die deutschen Sprecher sind die selben: Lucas Mertens (Miles) und Charlotte Mertens (Flora).
Die weiteren Rollen:
Gouvernante (die durchweg namenlos ist): Rita Engelmann (dt. Stimme von Deneuve & Kim Novak)
Mrs. Grose: Regina Lemnitz (dt. Stimme v. Kathy Bates, Diane Keaton)
Violet Jessel, die vorherige Gouvernante: Arianne Borbach (zu hören als Catherine Zeta-Jones)
Peter Quint, der vorherige Hausverwalter, Violets Lover: David Nathan (Leonardo diCaprio, Christian Bale, Johnny Depp)
Vormund von Miles & Flora: Patrick Winczewski
_Handlung_
(Die sechs Seiten der Rahmenhandlung wurden auf eine einzige Szene verdichtet. Die Ich-Erzählung ist als eine Art Tagebuch anzusehen, das die tragischen Vorgänge auf Gut Bly erklären – und die Schreiberin rechtfertigen – soll.) „Niemals hätte ich diese Stellung annehmen dürfen.“
Eine junge Pfarrerstochter meldet sich auf eine Anzeige, in der eine Gouvernante gesucht wird, und stellt sich bei ihrem potenziellen Arbeitgeber vor. Sie begibt sich in das prächtige Stadthaus in der Harley Street, doch noch viel mehr fühlt sie sich durch den charmanten Hausherrn bezaubert. Er ist der Vormund der zwei Kinder seines in Indien verstorbenen Bruders und seiner Schwägerin. Da er als Junggeselle nichts von Kindererziehung verstehe, wolle er die Erziehung von Miles und Flora in kompetente Hände legen. Allerdings leben sie nicht in London, sondern auf dem Gut Bly, dem Stammsitz der Familie. Sie wäre quasi die Herrin auf Bly, falls sie zusage. Ihre Vorgängerinnen hätten, ähem, aufgegeben. Es gebe nur eine Bedingung, die er stelle: Sie dürfe ihn niemals, unter keinen Umständen, mit den Angelegenheiten auf Bly behelligen! Sie sagt zu.
Das Willkommen auf Bly könnte herzlicher nicht sein, und Mrs. Grose, die Haushälterin, ist eine hilfsbereite, wenn auch sehr einfache und ungebildete Frau. Die süße Flora teilt mit der neuen Gouvernante das Zimmer. Der zehnjährige Miles wird in drei Wochen aus dem Internat zurückerwartet, doch ein Brief seines Schuldirektors kündigt seine vorzeitige Rückkehr an. Die Gouvernante und Mrs. Grose können sich nicht erklären, warum Miles von der Schule verwiesen wurd: „schädliches Verhalten“ – was soll darunter zu verstehen sein?
Miles erweist sich als kleiner Gentleman und hat die arglose Gouvernante in Nullkommanix um den Finger gewickelt. Es ist Sommer und sie wähnt sich mit „ihren“ beiden Kindern wie im Paradies. Da sieht sie eines Tages einen fremden Mann auf dem Turm. Er wirkt auf sie wie eine dämonische Bedrohung, doch Mrs. Grose hat ihn nicht gesehen. Außerdem ist der Turm völlig unzugänglich. Doch die Gouvernante sieht den Fremden erneut draußen vor dem Fenster. Ihr ist klar: „Er sucht die Kinder!“
Nun muss Mrs. Grose mit der Wahrheit herausrücken: Es handle sich wohl der Beschreibung nach – feuerrotes Haar, stechender Blick, schlecht sitzende Kleidung – um Peter Quint, den früheren Hausverwalter. Doch er sei bereits Jahre tot. Nach einem seiner zahlreichen Kneipenbesuche habe er sich bei einem Sturz auf dem Heimweg eine tödliche Kopfwunde zugezogen. Miles sei ihm hörig gewesen, denn Quint führte unangefochten das Regiment auf Bly.
Der Schutzreflex der Gouvernante wird noch verstärkt durch die Geistererscheinung, die ihr am See widerfährt: Es ist Violet Jessel, die vorherige Gouvernante. Sie ruft nach Flora, so wie Quint stets nach Miles ruft. Doch Flora gibt vor, sie nicht zu kennen. Kein Wunder, denn auch Miss Jessel ist schon länger tot. Floras Verhalten weckt das Misstrauen der Gouvernante. Stecken sie und Miles etwa mit den beiden Geistern unter einer Decke? Haben sie sich gegen sie verschworen?
Da entdeckt die Gouvernante, welches Geheimnis sich hinter den beiden Geistern verbirgt. Ihre ernste Besorgnis steigert sich zu verzweifelter Panik, um ihre beiden Schutzbefohlenen vor dem Verderben zu retten.
_Mein Eindruck_
So wie Schönheit laut Volksmund im Auge des Betrachters liegt, so verhält es sich mitunter auch mit dem Bösen. Ist die Bedrohung durch Quint und Jessel für die Kinder wirklich oder eingebildet? Die Deutungen reichen von der Akzeptanz der beiden Geister bis hin zu einer völlig realistischen Erklärung. Die Gouvernante habe sich in ihren charmanten Dienstherrn, den Vormund, verliebt, doch als weit unter ihm stehende Pfarrerstochter unterdrückt sie ihre Libido, sublimiert sie vielmehr, indem sie sich zärtlich seinen beiden Mündeln widmet.
In Peter Quint erblickt sie den bedrohlichen Doppelgänger des Vormunds, und da sie weder auf Autorität noch auf Erfahrung zurückgreifen kann, ist sie völlig auf sich angewiesen. Ihren Befürchtungen ausgeliefert, bilde sie sich die Bedrohungen durch die beiden Vorgänger ein. Ihre eigenen Aggressionen gegen die Welt übertrage sie auf die beiden Vorgänger, verdammt sie zudem in moralischer Hinsicht, weil die beiden eine „schamlose“ Beziehung zueinander hatten. Ihre Aggression überträgt sie aber außerdem, und das ist letzten Endes ausschlaggebend, als Misstrauen auf die Kinder: Sie sollen Gehilfen der beiden Dämonen sein.
Dass das Auftauchen der Gouvernante die Dämonen erst zum Leben erweckten habe, ist eine weitere Deutung (E. F. Bleiler). Sie weigert sich zudem, den Dämonen irgendwelche Macht zuzugestehen, obwohl sie die Einzige ist, die sie wahrnehmen kann. Durch ihre Weigerung, eine weltliche Transzendenz der Realität zuzulassen, wird sie nicht der Epiphanie (vulgo: Erleuchtung) teilhaftig, wie sie für E. M. Fosters Figuren – etwa in „Ein Zimmer mit Aussicht“ – so charakteristisch ist. Sie erlangt nie das volle Verständnis der Lage der Dinge. Nicht nur sie, sondern vor allem ihre Schützlinge zahlen dafür einen hohen Preis.
Die größte Ironie besteht jedoch darin, dass sie selbst es ist, die zu einer Besessenen wird. In ihrem Kampf, sich als des Postens und der Aufgabe würdig zu beweisen, kann sie nicht auf Autorität oder altersbedingte Erfahrungen zurückgreifen. Mrs. Grose ist in ihrer Sturheit ebenfalls keine Hilfe. Die unschuldige Pfarrerstochter glaubt, endlich dem „schamlosen“ Geheimnis auf die Spur zu kommen, das Miles verbirgt: Worin bestand sein „schädliches Betragen“? Sie muss beweisen, dass die beiden Dämonen Quint und Jessel, das unmoralische Liebespaar, Besitz von den Kindern ergriffen haben. Nur so kann sie sich auch selbst für unschuldig halten und denken, sie befinde sich im Recht. Schlägt dieses Bemühen fehl, ist ihr Irrtum offenbar, ihr Versagen vollständig.
Und daher kennt ihre Besessenheit kaum Grenzen, als sie erkennt, dass die Kinder sie hänseln, ja, dass sogar der Hilferuf an ihren Vormund abgefangen wurde. Immer weiter wird die titelgebende Daumenschraube weitergedreht. Der innere Druck nimmt zu, ihre eigenen Repressalien – stets wohlmeinend zum Schutz der Kinder eingesetzt – erweisen sich schließlich als verhängnisvoll.
_Die Sprecher_
Die Hauptfigur ist natürlich die Gouvernante (die insgeheim als Ich-Erzählerin auftritt), und ihre Sprecherin Rita Engelmann präsentiert eine ausgezeichnete Darbietung ihres Könnens. Ihre Haltung wechselt von würdevoller Erzieherin häufig hin zur besorgten Mutterfigur, dann wieder – im Dialog mit Mrs. Grose – zur empörten Dame, die sich über das unmoralische Verhalten ihrer Vorgängerin Miss Jessel entrüstet. Mrs. Grose ist schnell als einfache Frau vom Lande zu erkennen; sie kann nicht einmal lesen. Die beiden Kinderrollen von Flora und Miles werden von Lucas und Charlotte Mertens ausgezeichnet ausgefüllt – sie sind ja auch seit ihrer Mitwirkung an „The Others“ richtige Profis.
Etwas kniffliger wird die Sache dann mit den beiden Geistern. Sie dürfen lediglich flüstern, doch es gibt auch etwas zu lachen. Besonders David Nathan als Lebemann Peter Quint tut sich mit einer hämischen Lache hervor, die ein bisschen dick aufgetragen wirkt. Schließlich darf er tatsächlich auch sexistische Schimpfwörter für die Gouvernante benutzen. Und in einer Szene verführt er sein Mitgespenst Violet Jessel wie ein wahrer Casanova. Dies ist der letzte Hinweis darauf, dass es in diesem Psychodrama nicht zuletzt auch um sexuelle Dominanz geht. Die Novelle lässt sich, wie gezeigt, in viele Richtungen deuten. Sie ist aufgrund dieser Thematik erst ab 14 Jahren empfohlen.
_Musik und Geräusche_
Da die Handlung im 19. Jahrhundert angesiedelt ist, bietet es sich an, Musikformen jener Epoche einzusetzen. Dazu gehört die Klaviersonate. Am Anfang und Schluss erklingt das Piano, erst idyllisch-harmonisch, am Ende traurig in Moll. Zwischendurch hören wir aber auch ein volles Orchester, das mit einer dramatischen Passage die zunehmende Spannung im Hause Bly zum Ausdruck bringt.
Mehr als einmal tobt ein Gewitter über dem Anwesen und symbolisiert entsprechend aufgeregte Gefühle. Dabei überwiegt allerdings das Empfinden einer Bedrohung, eines nahenden Unheils: Raben krächzen. Dabei begann alles so idyllisch: zwitschernde Vögel, rauschende Bäume und plätscherndes Wasser. Doch wie so oft ist es Glockenklang – vor der Kirche, dem Symbol der Transzendenz -, der eine Wendung anzeigt. Die Gouvernante hat eine Entdeckung gemacht, die in ihren Augen Floras Komplizenschaft mit den Geistern belegt. Die Katastrophe lässt nicht auf sich warten.
_Unterm Strich_
Das Hörspiel von Marc Gruppe vollzieht die langsam steigende Spannung, die stetige Entwicklung der Gouvernante leicht verständlich nach, so dass es keine Verständnisprobleme gibt. Anders als die ziemlich lange Novelle (die ich vor Jahren mal im Studium gelesen habe) kommt das Hörspiel ziemlich schnell auf den Punkt: Der Hörer weiß also stets, woran er ist.
Das bedeutet nicht, dass es hier eine Menge Action gibt, sondern vielmehr steht das Psychodrama im Vordergrund: Wie konnte es zu dem tragischen Verhängnis kommen, das uns am Ende schockt? Was an der Geschichte auffällt, ist indes die völlige Abwesenheit von Fantasy- und Horror-Accessoires wie etwa Werwölfe, Vampire, Giftmischer, Verwandlungen und dergleichen. Durchgehend sind wir in der Lage, das Befremden der Kinder nachzuvollziehen, die ihre Gouvernante immer wieder für verrückt halten – was diese natürlich keinesfalls akzeptieren will.
Obwohl also kein typischer Horror, wirkt doch die Story so, als könnten die Geister entweder echt sein oder auch nicht. In letzterem Fall wäre es eine Studie in entstehendem Wahnsinn, in ersterem eine der besten Gespenstergeschichten, die je geschrieben wurden. Kein Wunder also, dass sie mehrmals verfilmt wurde und es davon sogar eine Oper gibt, wenn ich mich recht entsinne.
|Originaltitel: The Turn of the Screw, 1898
ca. 72 Minuten auf 1 CD|
_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_
[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
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[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
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[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
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