Josephine Tey – Alibi für einen König

Das geschieht:

Durch einem Beinbruch lahmgelegt, langweilt sich Scotland-Yard-Inspektor Alan Grant in seinem Krankenhausbett. Eine Freundin rät ihm, sich im Gedankenspiel an einem der vielen ungelösten Rätsel der (Kriminal-) Geschichte zu versuchen. Grämlich lehnt Grant zunächst ab, kann jedoch bald der Versuchung nicht mehr widerstehen, als ihm ein Porträt des Königs Richard III. (1452-1485) in die Hände fällt: Das Gesicht des Mannes, der als Usurpator, Tyrann und Mörder der eigenen Neffen unrühmlich in die englische Geschichte einging, wirkt auf den erfahrenen Polizisten nicht wie eine Verbrechervisage.

Seine notgedrungen eingeschränkten Recherchen beginnt Grant mit dem Studium von Geschichtsbüchern. Dabei stellt er rasch fest, dass ihn die Beweislage nicht überzeugt. Wichtige Darstellungen über Richards Übeltaten entstanden nicht durch Zeitzeugen sowie erst nach seinem Tod; außerdem zeichneten politische Gegner des mit Richard untergegangenen Königshauses Plantagenet dafür verantwortlich.

War Richard überhaupt der böse, zudem verwachsene und deshalb erst recht dämonisch wirkende Strolch, als der er in die Geschichte einging? Grant wird immer skeptischer. Er lernt den unterbeschäftigten Historiker Carradine kennen, der sich für seinen Verdacht interessiert und bereit ist, in den Archiven nach echten Augenzeugenberichten zu fahnden. Diese bestätigen, was Grant vermutet hat: Richard war kein Thronräuber. Als König leistete er gute Regierungsarbeit. Als ihn seine Gegner postum als Verräter anklagten, wurde der Mord an den beiden Neffen Eduard und Richard, die Söhne und Erben des verstorbenen Königs Eduards IV., mit keinem Wort erwähnt.

Hat die Bluttat überhaupt stattgefunden? Grant und Carradine beginnen nach Alternativen zu forschen – und sie werden fündig. Nach und nach enthüllt sich ihnen ein Komplott, das sich gegen die jungen Prinzen ebenso wie gegen ihren Onkel richtete …

Geschichte wird von Siegern geschrieben

Die Kapitelüberschrift definiert eine grundsätzliche Tatsache, die sich der Historiker möglichst früh zu Eigen machen sollte: Geschichtsschreibung ist im besten Fall eine nachträgliche Interpretation, die sich an den Fakten orientiert. Eine entsprechende Verpflichtung bestand allerdings nie. Deshalb wurde die Möglichkeit der Manipulation immer wieder gern genutzt. Selbst Mord ließ sich auf diese Weise nicht nur vertuschen, sondern das Opfer durch geschickte Argumentation zum Täter erklären. Vor allem (aber keineswegs nur) in der Vergangenheit wurden Fakten – die ohne Presse oder Internet kontrollierbar waren – neu arrangiert, um das gewünschte Bild zu erzielen.

Manchmal wurde einfach gelogen. War das Opfer – in diesem Fall Richard III. – tot und seine Anhängerschaft zerschlagen, konnte dies durchaus funktionieren. Zudem war Richard der letzte Plantagenet. Ihm folgten die Tudors auf den englischen Königsthron. Sie hatten die Macht und die Komplizen, die nicht unbedingt legitime Übernahme der Krone dadurch zu begründen, dass sie den Vorgänger verleumdeten. Den Tudors standen zudem wortgewaltige Sprachrohre zur Seite. Lordkanzler Thomas Morus (1478-1532) und William Shakespeare (1564-1616) prägten Richards Bild für Jahrhunderte. Den einen bewegten propagandistische Motive, der andere formte die Geschichte zu dem Drama, das ihm als Autor vorschwebte.

Für den Rest sorgte der Volksmund. Immer wieder lässt Josephine Tey Alan Grant die Probe aufs Exempel machen: Er fragt u. a. zwei biedere Krankenschwestern und seine schwachgebildete Haushälterin nach ihrem Wissen über Richard III. und erhält die erwartete Antwort. Da das verzerrte Bild des bösen Königs sogar Eingang in die Schulbücher gefunden hat, ist Richard chancenlos: Nicht der Kärrnerarbeit seiner königlichen Regierung in schwierigen Zeiten, sondern nur seiner angeblichen Gräueltaten erinnert man sich.

Detektiv im Krankenbett

Der „armchair detective“ ist eine feststehende Figur der Kriminalliteratur. Sherlock Holmes, Augustus van Dusen oder Nero Wolfe verlassen ungern ihre bequemen Sessel, um aktiv Gaunern hinterher zu sprinten. Haben sie sich die Mühe gemacht, einen Tatort nach Indizien abzusuchen, lassen sie sich auf genanntem Möbelstück nieder und die Fakten im Geiste Revue passieren. Da dieses Organ zu intellektuellen Höchstleistungen fähig ist, gelingt es ihnen, den Täter auf diese Weise zu entlarven, was im Finale bei der zu dieser Gelegenheit eingeladenen Runde und beim Leser die erwartete Bewunderung hervorruft.

Heute ist der Detektiv generell deutlich flinker, der „armchair detective“ jedoch keineswegs ausgestorben: Jeffery Deaver hat den vom Hals abwärts gelähmten Lincoln Rhyme zum Helden einer lange und erfolgreich laufenden Serie machen können. Die moderne Technik ermöglicht ihm trotz seiner Behinderung die Präsenz an allen handlungsrelevanten Orten.

Was wäre jedoch, wenn dem Ermittler diese Hilfsmittel genommen würden? Alan Grant verzichtet nicht freiwillig auf die üblichen Fahndungsmethoden. Er liegt im Krankenhaus und soll sich erholen. Am liebsten würden ihn die (ironisch überspitzt gezeichneten) Ärzte und Schwestern, die ihn wie ein halsstarriges Kleinkind behandeln, auf seinem Bett festschnallen. Doch Grant ist normalerweise ein aktiver Mensch, der es hasst, nicht nur körperlich, sondern auch geistig gehandicapt zu sein. Genretypisch ist er außerdem ein Detektiv aus Leidenschaft, dem seichte Romane und Zeitschriften nicht die gewünschte Ablenkung verschaffen können.

Die Kunst der Improvisation

Autorin Josephine Tey sucht die Herausforderung und macht aus Grants Not eine Tugend: Er stößt nicht nur auf einen interessanten Kriminalfall, sondern muss darüber hinaus quasi mit einer auf den Rücken gebundenen Hand ermitteln. Der Polizeiapparat steht ihm nicht zur Verfügung, ins Archiv oder in die Bibliothek kann er nicht gehen. Grants Faktenlage bleibt lückenhaft und zufällig, er muss improvisieren. Wie ihm dies gelingt, ist Teil einer rundum spannenden Handlung, obwohl diese auf Grants Krankenzimmer beschränkt bleibt.

Tey reizt diesen Plot in jeder Hinsicht aus. Selbst Leser, die sich für Geschichte wenig interessieren, dürften sich einfangen lassen. Die Autorin wählte ehrgeizig und klug ein vor allem in England seit Jahrhunderten heiß diskutiertes historisches Rätsel als Thema. Tey ‚löst‘ es nicht nur, sondern verknüpft auf dem Weg dorthin Kriminalistik und Geschichtsforschung auf eine Weise, die grundsätzliche Gemeinsamkeiten erkennen lässt: Es geht stets um Fakten, die festgestellt, geordnet und interpretiert werden müssen.

Auf dieser Ebene lässt sich das Verschwinden der jungen Plantagenet-Prinzen tatsächlich als Kriminalfall deuten. Tey beschränkt sich nicht auf die Geschehnisse der zentralen Jahre 1483 bis 1485, sondern schildert auch die Vorgeschichte, geht auf die politischen Verhältnisse zur Zeit der englischen Rosenkriege (1455-1485) ein und stellt damit für den historischen Laien den historischen Hintergrund klar, der für ein Verständnis des Falls erforderlich ist. Die Autorin erzählt nicht nach, sondern integriert diese Darstellung in eine Handlung, die munter durch geistreiche Dialoge und witzige Abschweifungen angereichert wird. Langeweile kommt nicht auf, gar zu geschickt nimmt Tey ihr Publikum an die Hand.

Eine neue Theorie

Natürlich gab es schon vor Josephine Tey argwöhnische Personen, die nicht nur ahnten, dass an dem ‚historischen‘ Richard-Bild etwas faul sein musste. Tey nennt Namen und gibt nebenbei Einblicke in die Mechanismen der Geschichtsforschung. Stellvertretend für die ‚Pro-Richard-Fraktion‘ lässt sie Grant die ‚Wahrheit‘ erkennen. (Tatsächlich ist die Frage, ob und wie der König in den Tod seiner Neffen verwickelt war, keineswegs endgültig geklärt.) Doch Tey geht es auch darum, Grant als Kriminalisten darzustellen, der seine Fachkenntnisse anwendet und dabei keine Konzessionen macht. Aus Polizistensicht reichen die Beweise gegen Richard nicht aus oder lassen sich widerlegen. Deshalb muss er als unschuldig betrachtet werden.

Der Weg dorthin ist spannend aber schlüssig, was beileibe keine Selbstverständlichkeit ist, wenn sich die Handlung eines Kriminalromans zwischen ausgetrockneten Pergamentquellen und uralten Papierseiten abspielt. Tey verzichtet darauf, die Vergangenheit buchstäblich aufleben zu lassen. Richard und die anderen „Dramatis personae“ treten nicht wie im Historienroman ‚persönlich‘ auf, um in ausgedachten Szenen und Dialogen zu intrigieren oder verraten zu werden. Stattdessen zitiert Tey aus ‚richtigen‘ Fachbüchern, obskuren Sachbüchern, kitschigen Unterhaltungsromanen oder Lehrbüchern für Grundschüler, die einander vor allem zu widersprechen scheinen und wiederum Sir Francis Bacon (1561-1626) zustimmen, der es so formulierte: „Truth is the daughter of time, not of authority“. Damit hatte Tey ihren Originaltitel gefunden.

Die Auflösung fällt mit Grants Genesung und Entlassung aus dem Krankenhaus zusammen. Er kann und wird sich wieder auf lebenden Schurken konzentrieren. Die fachliterarische Auswertung überlässt Grant dem Historiker Carradine. Ihn interessierte Richard III. primär als ‚Fall‘, der polizeilich schlampig bearbeitet wurde. Dies hat er korrigiert, damit ist er zufrieden – ein Gefühl, dass der Leser unabhängig davon, ob Tey Richard wirklich entlasten konnte, teilt.

Anmerkung 1:

Am 22. August 1485 fiel Richard III. im Kampf um die Krone auf dem Schlachtfeld; er war der letzte englische König, der einen solchen Tod starb. Zwar wurde der Leichnam geschändet und verscharrt, doch 1495 ließ Heinrich VII. Tudor, der Sieger und neue König Englands, den Körper exhumieren und in der Kirche des Franziskanerklosters zu Leicester bestatten.

Die Lage des Grabes geriet später in Vergessenheit, das Gotteshaus verfiel und wurde abgerissen. 2012 sollte an dieser Stelle ein Parkplatz entstehen. Dabei fand man das Skelett eines Mannes mit verformter Wirbelsäule und zweifach eingeschlagenem Schädel. Da die Familie York noch besteht, konnten DNA-Tests die Identität belegen: Richard III. war wieder aufgetaucht! Im März 2015 erfolgte seine feierliche Neubestattung in der Kathedrale von Leicester.

Anmerkung 2:

1990 schuf Colin Dexter mit dem achten Roman um seinen exzentrischen Inspektor Morse eine Hommage an Teys „Alibi“: Der ebenfalls krank darniederliegende Morse löst in „The Wench Is Dead“ (dt. „Mord am Oxford-Kanal“) einen 150 Jahre früher begangenen Mord. Das Thema ist identisch, doch in der Umsetzung beweist Dexter schöpferischen Eigensinn, was seinen Roman selbst zu einem Klassiker des Genres erhebt.

Autorin

Josephine Tey wurde 1897 als Elizabeth Mackintosh im schottischen Inverness geboren. Sie besuchte dort die Royal Academy sowie das Anstey Physical Training College in Birmingham, eine typische Frauenschule dieser Epoche, die ‚damengemäße‘ Grundkenntnisse in Medizin und Physik vermittelte sowie viel Wert auf Gymnastik und Tanz legte.

Mackintosh, die echtes Talent als Leichtathletin an den Tag legte, lehrte nach ihrem Abschluss 1918 Sport an diversen Colleges in England. Als 1926 ihre Mutter starb, kehrte sie nach Inverness zurück, um den invaliden Vater zu pflegen. In dieser Zeit begann Mackintosh, die schon immer gern geschrieben hatte, Kurzgeschichten und Gedichte in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Als der Verlag Methuen in London 1929 einen Wettbewerb ausschrieb, verfasste Mackintosh angeblich binnen zweier Wochen ihren Romanerstling „The Man in the Queue“, der unter dem Pseudonyme „Gordon Daviot“ erschien.

Es dauerte knapp acht Jahre, bis die Autorin einen weiteren Roman vorlegte: „A Shilling for Candles“, wieder ein Krimi mit Inspektor Grant, trug auf dem Titel den Verfassernamen „Josephine Tey“. Mackintosh, die stets die Öffentlichkeit mied, verwendete den Vornamen der Mutter und den Nachnamen der englischen Großmutter. Bei diesem Pseudonym blieb sie. „Gordon Daviot“ lebte aber weiter und verfasste seit den 1930er Jahren Theaterstücke. Mit „Richard of Bordeaux“ verhalf Mackintosh 1932 dem Schauspieler und Regisseur (Sir) John Gielgud (1904-2000) zum Durchbruch. Ihre späteren Werke konnten diesen Erfolg nicht wiederholen. Die intime Kenntnis des englischen Theaterlebens floss indessen positiv in die Kriminalromane der Josephine Tey ein.

Diese schrieb sie erst nach dem II. Weltkrieg regelmäßig. Kolportiert wird, dass sie dies als Brotarbeit betrachtete, mit der sie freilich außerordentlich gut verdiente: Die Romane der Autorin – die nicht nur Thriller verfasste – waren bei Kritikern und Lesern gleichermaßen beliebt. Tey komponierte nicht nur ausgeklügelte Plots, sondern verfügte über die Gabe einer vielschichtigen Figurenzeichnung. Alan Grant ist weit entfernt von der Eindimensionalität zahlreicher zeitgenössischer Krimi-Detektive.

Teys Werk blieb schmal. Anfang der 1950er Jahre erkrankte sie an Krebs. Sie, die niemals geheiratet hatte, verschwieg ihren Freunden die Krankheit und starb daher überraschend am 13. Februar 1952 in Streatham, London. An ihrem Grab trauerten viele Theaterfreunde, darunter auch Sir John Gielgud.

Paperback: 220 Seiten
Originalausgabe: The Daughter of Time (London : Peter Davies 1951)
Übersetzung: Maria Wolff
www.dtv.de

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