|“Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm.“|
So begann im Jahre 1982 der Revolvermann Roland von Gilead seine surreale Jagd auf den Mann in Schwarz und seine Suche nach dem „Dunklen Turm“ in der westernähnlichen Mitt-Welt. Stephen King lag der „Turm-Zyklus“ nach eigenen Angaben seit seiner Jugend am Herzen, er ist sozusagen sein Lebenswerk. Inspiriert von einem alten Gedicht Robert Brownings aus dem Jahr 1855, „Childe Roland to the Dark Tower came“, war „The Gunslinger“/“Schwarz“ zwar nichts King’s Durchbruch, aber die Geschichte hatte ihr eigenes Flair, obwohl sie stilistisch noch ein unausgereiftes Frühwerk war. In der Tat hat King den ersten Band nach Jahren in einer neuen Fassung herausgebracht, die zahlreiche Details enthält, die in der ursprünglichen fehlen, was für diese Rezension noch von Bedeutung sein wird. Der gesamte Turm-Zyklus ist geprägt von Referenzen auf andere Figuren und Werke Kings, der in „Susannah“ sogar sich selbst in persona in die Handlung einbaut!
„Susannah“ ist der sechste und damit vorletzte Band des Zyklus. Stephen King möchte sich als Autor langsam zurückziehen, er hat sich aber noch einmal aufgerafft und in Rekordzeit die letzten drei Bände des Zyklus geschrieben.
_Ein kurzer Überblick der Turm-Saga:_
Schwarz (The Gunslinger) 1982
Drei (The Drawing of the Three) 1987
Tot (The Waste Lands) 1991
Glas (Wizard and Glass) 1997
[Wolfsmond 153 (Wolves of the Calla) 2003
Susannah (Song of Susannah) 2004
[Der Turm 822 (The Dark Tower) Ende 2004
Man beachte die großen Zeitabstände zwischen den einzelnen Bänden. Die letzten drei Bände erschienen in einem neuen, sehr hübschen und zeitgemäßen Gewand bei Heyne. Die ganze Saga wird in Kürze als Sammelbox in einheitlichem Design und mit der zweiten Version von „Schwarz“ erhältlich sein.
Wer einen Einstieg in die Turm-Saga plant, muss von vorne beginnen. Der Zyklus ist bereits für Kenner aufgrund der zwei Fassungen von „Schwarz“ und des langen Zeitrahmens schwer überschaubar.
_Was geschieht in „Susannah“?_
Mia hat im Körper der hochschwangeren Susannah die Flucht in das New York des Jahres 1977 angetreten. Detta und Susannah kämpfen um die Kontrolle ihres Körpers, während Mia sich auf ihr Kind freut, obwohl sie es nur wenige Jahre behalten darf, da sie es an zwielichtige Vampire in Diensten des Turmes verschachert hat.
Ein weiterer Balken des Turms stürzt ein und verursacht Beben in Mitt-Welt, wo es Roland, Eddie, Jake und Callahan gelingt, Susannah in ihre Gegenwart zu folgen. Dort werden sie jedoch bereits von Balazar’s Mafiosi erwartet, nur dank Rolands Schießkünsten können sie dem Hinterhalt entkommen. Sie machen sich auf den Weg zu Calvin Tower, von dem sie in der Vergangenheit das Grundstück des Dunklen Turms gekauft haben. Sie treffen sogar auf Stephen King selbst, der davon geschockt ist und ihnen bestürzende Dinge offenbart.
Derweil erfährt Susannah, wer der Vater ihres Kindes ist, und was für eine bedeutende Rolle es für das Schicksal des Turms spielt…
_Der schiefe Turmbau_
Konnte man „Wolfsmond“ noch für den deutlich erfahreneren und versierteren Schreibstil Kings loben, war eine Schwäche die langsame Weiterentwicklung der Geschichte um den Turm selbst. Das westernartige Ambiente von Mitt-Welt und die Charakterisierungen der Figuren dagegen stimmten.
„Susannah“ fängt nahtlos dort an, wo „Wolfsmond“ aufhörte – kommt aber handlungstechnisch genauso wenig vom Fleck. Große Ereignisse werden wohl für den Abschlussband aufgespart. Susannah steht im Mittelpunkt, Roland und Co. treten extrem in den Hintergrund. Dafür tritt der Autor selbst in seinem Roman auf, nicht mehr nur Figuren aus seinen anderen Werken. Für mich das eigentliche Highlight des Romans, denn Susannah’s psychologisches Duell mit Mia ist ziemlich seicht. Der Vater ihres nun auf einmal unglaublich bedeutenden Kindes ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen, was nur noch von ihrer lächerlichen psychologischen Visualisierungstechnik getoppt wird: Mia stellt sich ein Armaturenbrett vor und dreht den Schalter „Wehen“ ein paar Grade zurück.
Ihr plötzliches Auftauchen in New York beschert einer Passantin Albträume, die sich so etwas einfach nicht vorstellen kann. Sie fühlt sich daraufhin „tervös-naub“… dies als Beispiel für die zahllosen Wortschöpfungen Kings, wie auch die penetrante Sprache der Calla „sagen Danke sehr“ dem Ka-Tet in unsere nahe Vergangenheit gefolgt ist. Diese kann man dem Übersetzer Wulf Bergner nicht anlasten, sie sind im Original genauso überflüssig. Er hat sich dafür Patzer bei feststehenden Redewendungen geleistet: „Die Welt hat sich weiterbewegt“ – Bergner hat die Übersetzung seines Vorgängers Körber dafür offensichtlich nicht gelesen…
Man erhält dadurch den Eindruck, King würde alt, kindisch und sentimental. Dieser verstärkt sich, wenn man zum interessanten Teil des ansonsten mit Susannah handlungsarm dahindümpelnden Buchs kommt: King plaudert aus dem Nähkästchen – ob real oder fiktiv, sei dahingestellt. Er gibt Roland und Eddie Informationen, die wohl eher für den Leser der Turm-Romane als diese selbst einfach bestürzend sind. So gibt King freimütig zu, sich nie groß Gedanken über den Zyklus gemacht zu haben, es existierte einmal ein Exposé, aber er hat es verloren und weitgehend vergessen.
Er selbst wusste nicht, wie sein Zyklus enden soll, während er ihn geschrieben hat. Das mag auch die langen Pausen zwischen den einzelnen Romanen und das langsame Voranschreiten der Kernhandlung während der letzten Bände erklären. Man darf gespannt sein, wie King das alles auflösen will. Wahrscheinlich entzaubert er nur sein eigenes Werk, bei dem die Spekulationen um den Turm interessanter sind als die tatsächliche Geschichte. Diese bietet keine Ereignisse, über die man spekulieren könnte, sie ist voller |deus ex machina|-Elemente, die Handlung ohne besondere Konsistenz und Richtung, dazu wird zu viel einfach an den Haaren herbeigezogen. Musterbeispiele dafür das plötzliche Auftauchen Callahans im letzten Band und in diesem der Vater von Mias Baby. Wenn die eigenen Ideen ausgehen, greift man halt auf alles zurück, was einem gerade so durch den Kopf geht: Seien es Harry Potter, die Jedi-Ritter, Marvel-Comics oder eben als Krönung der Bezug des einstürzenden WTC zum ebenfalls wankenden Dunklen Turm. Es ist zu viel; die gute Idee, das reale Weltgeschehen in die Geschichte einzubeziehen, wirkt so langsam zwanghaft.
Reale Anmerkung oder Fiktion?
Die „Seiten aus dem Tagebuch eines Schriftstellers“ beschreiben im Anhang quasi, wie der Turm entstand und was sich King dabei dachte. Beeindruckend und entlarvend dabei seine eigene Niedergeschlagenheit über einen Fanbrief der todkranken Coretta Vele im Jahr 1992, die vor ihrem Ende gerne von King wissen würde, wie die Turmsaga endet… sie würde es niemandem verraten. King selbst schreibt, wie niedergeschlagen er war, er wusste es selbst nicht.
Es folgt eine fast philosophische Abhandlung über das Dasein als Schriftsteller und seinen schweren Autounfall im Jahr 1999, hier kann man sich fragen, ob King nicht der psychologischen Betreuung bedarf, wurde dieser doch bereits in anderen Werken von ihm ausführlich aufgearbeitet und integriert. Die Zahlen 19, 99 und Prim, auf die auch zu Beginn des Romans Bezug genommen wird (eine fette 99 in der Seitenmitte, links unten eine kleine 19 – steht vermutlich für das Jahr 1999, daneben das Wort „Reproduktion“) fehlen zudem in den ersten Bänden der Saga, erst in der von King neu aufgelegten zweiten Fassung sind diese Elemente enthalten, was für zusätzliche Verwirrung und einen gewissen Groll sorgt: Muss man als King-Fan jetzt wirklich noch einmal die vier alten Romane oder die ganze (zugegeben: Das Metallic-Design ist sehr gelungen!) Sammelbox kaufen, um in den Genuss einer abgeschlossenen und in sich schlüssigen Reihe zu kommen?
_Mehr Schein als Sein_
„Susannah“ ist als Buch handlungsarm, von schwachen Charakterisierungen, inkonsistenten und völlig willkürlichen, unvorhersehbaren Ereignissen geprägt. Der interessante Teil ist ironischerweise Kings eigenwilliges Philosophieren über seine Beziehung zu seinem Turm-Zyklus. Leider auch eine einzige Entzauberung und Selbstoffenbarung: King hat mehr die Fantasie der Fans angeregt, als er sich selbst jemals im Traum vorstellen konnte. Er hatte kein Konzept, nicht einmal eine Idee, wie der Zyklus enden soll. Jetzt biegt er schnell alle losen Enden zusammen und geht danach in Rente. Ende.
Die Atmosphäre und der surreale Reiz von Mitt-Welt geht „Susannah“ vollkommen ab, der Roman hat keinerlei Charme, erzeugt keine Immersion. Dafür zahllose Seiten der Langeweile und Horror der besonderen Art: Was – das soll es jetzt gewesen sein?
Der Roman endet mit der Geburt von Mias Kind und einem der nervig werdenden Gesänge, die jedes Kapitel einleiten oder beenden:
VORSÄNGER: |Commala-come-kass!|
|The child has come at last!|
|Sing your song, O sing it well,|
|The child has come to pass.|
CHOR: |Commala-come-kass,|
|The worst has come to pass.|
|The Tower trembles on its ground;|
|The child has come at last.|
Wäre King bei seinem Autounfall tatsächlich ums Leben gekommen, man hätte den Turm-Zyklus als ein Musterbeispiel innovativer Phantastik angesehen, trotz seiner Schwächen. Jetzt entzaubert er ihn selbst als Machwerk überbordender Symbolik. Vielleicht gelingt es King, mit dem Abschlussband „Der Turm“ seine Fans wieder zu versöhnen, für sich gesehen ist „Susannah“ viel Lärm um nichts, ein grauenhaft langweiliger, uninteressanter Roman, der selbst hartgesottene King- und Turm-Fans enttäuschen wird. Es würde mich sehr wundern, wenn das Finale den Anfängen gerecht werden und der Turm-Zyklus sich nicht als Konglomerat einiger faszinierender Ideen ohne klares Ziel und jegliche Konzeption erweisen sollte.
Für das Lesen sagen Danke sehr.
P.S.: Es empfiehlt sich definitiv nicht, eine Zusammenfassung zu lesen bevor man sich an den Turm-Zyklus wagt. Aber für Fans, die gerne ein paar Karten, ein Personenregister sowie Hinweise auf welche Werke Kings im Turm-Zyklus eingegangen wird haben möchten, ist Robin Furth’s „Das Tor zu Stephen Kings Dunklem Turm I-IV“ (ISBN 3453875559) eine Empfehlung wert. Ein Folgeband für die Bände V-VII ist in Vorbereitung. Das definitive Nachschlagewerk für Turm-Fans – als zusätzliches Schmankerl ist die exklusive Kurzgeschichte „Die Kleinen Schwestern von Eluria“ enthalten.