Michael Shaara – The Killer Angels. Historischer Roman

Schrecken und Mitleiden: die Schlacht von Gettysburg

Der Roman schildert die Schlacht von Gettysburg Anfang Juli 1863, die einen Wendepunkt im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) darstellte. 50.000 Mann verloren dabei ihr Leben. Im Mittelpunkt stehen die kommandierenden Offiziere der Süd- und der Nordstaatler. Der Roman basiert teilweise auf den Memoiren von General James Longstreet und ist daher sehr authentisch. Shaara war 1966 in Gettysburg und wurde von seinem Besuch zu seinem Buch inspiriert, das 1975 den begehrten Pulitzer-Preis erhielt.

„The Killer Angels“ erhielt 1975 den Pulitzer Prize for Fiction.

Der Autor

Michael Shaara (* 23. Juni 1928 in Jersey City, New Jersey; † 5. Mai 1988 in Tallahassee, Florida) war ein US-amerikanischer Romanautor, der vor allem durch seinen historischen Roman „The Killer Angels“ zum Sezessionskrieg bekannt wurde.

Der Italo-Amerikaner (seine Familie hieß ursprünglich Sciarra) besuchte die Rutgers University in New Jersey und diente nach seinem Abschluss 1951 als Fallschirmjäger-Offizier im Koreakrieg. Shaara verarbeitete diese Erfahrungen (und die Wiedereingliederungs-Zeit nach seiner Heimkehr) in seinem Roman „The Broken Place“ (New American Library, 1968, McGraw Hill 1981).

Danach arbeitete er als Amateur-Boxer und Polizeioffizier, bevor er in den 1950er Jahren begann für Science-Fiction Magazine zu schreiben (gesammelt 1982 in seinem Kurzgeschichten-Band „Soldier Boy“ – der Titel stammt von einer Kurzgeschichte von 1953 aus der Zeitschrift Galaxy, die auch einige Preise erhielten. Tagsüber unterrichtete er Englisch, Kreatives Schreiben und Literatur an der Florida State University in Tallahassee – nachts schrieb er an Romanen und Kurzgeschichten, die z. B. im Playboy, der Saturday Evening Post und im Cosmopolitan veröffentlicht wurden.

Bekannt wurde er für seinen 1974 erschienenen sehr erfolgreichen Roman „The Killer Angels“, der die Ereignisse der viertägigen Schlacht von Gettysburg behandelt, und für den er überraschend 1975 den Pulitzer-Preis für Fiction erhielt. Das Buch schildert das Geschehen aus der Perspektive der kommandierenden Offiziere und basiert teilweise auf den Memoiren von General James Longstreet, der sich vergeblich gegen den von Robert E. Lee befohlenen verlustreichen Frontalangriff („Pickett´s Charge“) eingesetzt hatte, der die Schlacht entschied.

Das Buch prägte wesentlich die heutige Sicht auf die Schlacht in der amerikanischen Öffentlichkeit, insbesondere da es als Vorlage für den Film „Gettysburg“ (1993) von Ronald F. Maxwell diente. Zu Lebzeiten von Shaara war der Roman kein Erfolg – erst nachdem der Spielfilm 1993 angelaufen war, landete er in den Bestsellerlisten der New York Times auf Platz 1. 2001 hatte er eine Auflage von über 3 Millionen.

Der Roman wurde von seinem Sohn Jeffrey Shaara (* 1952) zu einer Bürgerkriegs-Romantrilogie erweitert mit „Gods and Generals“ (1996), der die Zeit vor Gettysburg behandelt, und „The Last Full Measure“ (1998), der sich um die Zeit nach Gettysburg dreht. (Quelle: Wikipedia) Jeff Shaara hat noch eine Reihe weiterer historischer Romane veröffentlicht.

Einleitung und Vorwort

Die Einleitung von Hugh Andrew macht den Leser vertraut mit den Gründen, Entwicklungen und Ereignissen, die zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 führten. Die Vor- und Nachteile der Süd- und Nordstaaten werden abgewägt, die für Sieg oder Niederlage in dieser gewaltigen, epochalen Auseinandersetzung führten.

Michael Shaara selbst führt in einem kleinen Überblick in die kommende Schlacht um Gettysburg ein, einem kleinen Straßenknotenpunkt an der Grenze von Virginia, West Virginia und Pennsylvania, nur wenige Reitstunden von Washington, D.C., entfernt. Die Südstaaten-Armee unter Führung von General Robert E. Lee, rund 70.000 Mann stark, befindet sich auf einer Invasion in Feindesland. Sie rückt von Richmond durch die Berge Richtung Harrisburg vor, um die Unionsnarmee auf Gelände zu locken, wo man sie vorteilhaft schlagen kann. In einer langen Liste charakterisiert der Autor die wichtigsten Köpfe beider Armeen mit allen Stärken, Vorlieben und Schwächen.

Die Unionsarmee hat gerade einen Führungswechsel hinter sich. Major Gen. John Reynolds hat sich geweigert, den Posten zu übernehmen und von der Hauptstadt aus zu operieren. Er will an der Front sein Bestes geben. Deshalb übernimmt Major Gen. Meade das Oberkommando, das schon viele Versager vor ihm gesehen hat. Von 20 großen Schlachten des Bürgerkriegs haben die Nordstaaten die meisten verloren, unter ungeheuren Verlusten an Menschen und Material.

Meade schickt mehrere Armeekorps und Major Gen. Bufords Kavallerie aus, um Lee auf Abstand zu halten und die Hauptstadt zu schützen. Er ist ein vorsichtiger Typ. Doch dann geht auf einmal alles ganz schnell…

Handlung

Montag, 29. Juni 1863. Ein Scout berichtet erst Lees rechter Hand, Lt. Gen. Longstreet, und dann Lee selbst, dass die Uniosnarmee in einem irren Tempo Richtung Harrisburg zieht, um die Rebellen abzufangen. Lee ist erstaunt, dass ihn seine eigene Kavallerie unter J.E.B. Stuart nicht darüber in Kenntnis gesetzt hat. Wo ist Stuart überhaupt? Der Oberkommandierende erkennt, dass er sich von den Blauröcken nicht überholen lassen darf und schwenkt nach Osten über die Berge zum nächsten Straßenknotenpunkt: Das Kaff nennt sich Gettysburg.

Doch dort stoßen die Infanteristen unvermutet auf Bufords Kavallerie, die nicht nur die Stadt besetzt, sondern auch die strategisch wichtigen Höhenzüge und Hügel besetzt: Seminary Ridge, Cemetery Ridge, Little Round Top – dies werden schon bald Namen, die sich ins Gedächtnis jedes Amerikaners eingraben werden. Die Rebellen ziehen sich auf eine Wartestellung zurück, um alle 70.000 Mann zusammenzuziehen. Buford betet, dass Gen. Reynolds bald zur Stelle ist, denn wie soll er die Hügel mit 2500 Mann gegen eine ganze Armee halten? Er hat in dieser Beziehung schlechte Erfahrungen gemacht und erwartet – nichts.

Mittwoch, der 1. Juli 1863, der erste Tag der Schlacht. Immer noch herrscht brütende Hitze über Pennsylvanias Felder, und ein Gewitterregen jagt den nächsten. Im ersten Morgenlicht ertönen die ersten Schüsse von den eintreffenden Rebellen. Das hat Buford erwartet, aber er braucht die Infanterie. Endlich, um 8:00 Uhr, vier Stunden später, heißt es, Reynolds sei gekommen, und Buford ist erleichtert. Seine Männer hätten nur noch 30 Minuten ausgehalten. Sofort gehen die Schwarzhüte vom 1. Corps in Stellung und lösen Bufords Kavalleristen ab. Auf einmal sehen sich die Rebellen einem massierten Widerstand gegenüber, der bis in die Stadt Gettysburg hinein und zur unfertigen Bahnlinie reicht. Reynolds ist überall – doch dann wird er vom Pferd geschossen…

Robert E. Lee ist unter Schmerzen aufgestanden, mit einem miesen Gefühl, dass heute etwas Großes geschehen wird. Er spürt Müdigkeit in den alten Knochen. James Longstreet kommt endlich zu ihm, ein Fels in der Brandung. Und weil Longstreet nach Stonewall Jacksons Tod sein einziger Veteran ist, bittet er ihn, als letzter über den Hügel in die Schlacht zu ziehen. Das erweist nach einigen Stunden Kampfes als strategischer Fehler.

Lees Generäle sehen sich unerwartet starkem Widerstand am Seminary Ridge gegenüber und erleiden hohe Verluste. Heth befiehlt ein Corps von 25.000 Mann, Powell Hill eine Division von 10.000 Mann. Im Norden stoßen Ewell und Early gegen Gettysburg vor, stoßen ebenfalls auf Widerstand von Reynolds‘ Truppe: Doubleday im Westen, Howard im Norden. Erst gegen Mittag kann Lee beobachten, wie die Unionisten Seminary Ridge räumen – nur um gleich dahinter auf dem Cemetery Ridge eine starke Stellung mit Kanonen aufzubauen.

Aber warum stößt Ewell nicht wie befohlen nach? Und wo ist die verdammte Kavallerie von JEB Stuart? Longstreet trifft endlich Lee: Als Verteidigungsspezialist rät er dazu, die Stellung des Seminarhügels zu halten, aber im Süden die Unionisten von Nachschub aus Washington abzuschneiden. Lee entscheidet noch nichts – ein weiterer Fehler.

Der 2. Tag, Nachmittag

Longstreet kann einen halben Erfolg verzeichnen: Er darf General Meade, der inzwischen bei den Blauröcken das Kommando übernommen hat, an der Südflanke angreifen. Dstellung der Unionisten ist geformt wie ein Fischhaken: mit dem Haken am Cemetery und Culp’s Hill direkt vor der Stadt, und mit einem langen Haken, der sich kilometerweit über die gesamte Cemetery Ridge nach Süden bis zu drei Hügeln zieht: Big Round Top, Little Round Top und Devil’s Den. Gelänge es Longstreet, die Flanke des Feindes dort zu durchbrechen, könnte er dessen Stellungen in den Rücken fallen, während im Norden Ewells Truppen angreifen.

Doch wie viele Pläne hat auch dieser einen Geburtsfehler: Statt die drei strategischen Hügel – potentielle Kanonestellungen – im Süden zu umgehen, soll Longstreet nach Lees Willen nördlich davon durchbrechen. Dadurch geraten Longstreets Angreifer zwischen zwei Feuer – und sehen sich im von haushohen Felsen bestückten Korridor dazwischen unter Feuer genommen. Doch alles Protestieren hilft Longstreet nichts. Wenn er doch wenigstens einen oder zwei der Hügel nehmen könnte.

Am Nachmittag dieses extrem heißen Julitages trifft Colonel Joshua Lawrence Chamberlain mit seinem 20. Maine-Regiment von Freiwilligen an der Südflanke der Unionisten ein. Hinter sich hat er das komplette 5. Armeekorps der Union: 25.000 Mann. Chamberlains Regiment besetzt zusammen mit anderen drei Regimentern den bewaldeten Hügel: Little Round Top. Sein Vorgesetzter macht es ihm sonnenklar: „Colonel, Sie bilden die äußerste westliche Flanke unserer Linien. Nichts, absolut nichts befindet sich westlich von Ihnen und kein Feind darf folglich durchbrechen. Um jeden Preis.“

Wie hoch dieser Preis in Wahrheit ist, wird Chamberlain in stundenlanger Verteidigung gegen Longstreets und Hoods Truppen verstehen lernen. Am Ende ist sämtliche Munition verschossen, doch der Feind kommt immer noch. Was jetzt? Chamberlain greift zu einer in diesem Krieg bis dato für undenkbaren Maßnahme: „Pflanzt die Bajonette auf! Angriff!“

Der 3. Tag

Longstreet hat bereits vorausgesehen, was Lee nach dem gestrigen Nicht-Erfolg für heute befehlen wird: Frontalangriff. Gestern feierte das Rebellenheer mitsamt seinen ausländischen Besuchern und den Reportern aus Richmond – sehr zu Longstreets Verwunderung, der sich fragte, was es denn zu feiern gäbe. Doch ein persönliches Gespräch mit Lee war angesichts der Menschenmasse, in der der Kommandeur steckte, unmöglich. Wwenigstens ist JEB Stuart wieder zurück. Wo mag er nur gesteckt haben?

Lees Alternativen lassen nur den Frontalangriff zu. Rückzug würde die Moral der Truppe brechen und ihn selbst bloßstellen. Die Umgehung im Süden ist gescheitert, die Stellung dort dürfte massiv verstärkt worden sein. Ewell hat im Norden der Stadt auf ganzer Linie versagt. Cemetery Hill erhebt sich mittlerweile wie eine Trutzburg über die Stadt, bestückt mit nicht weniger als drei Armeekorps. Das sind rund 60.000 Mann – drei Viertel von Meades Armee.

Lee sieht jedoch den Schwachpunkt in Meades Stellung: der lange Hang vor dem Cemetery Hill. Gelingt Picketts Division – 5000 Mann – und den anderen 10000 Mann hier der Durchbruch, wird Meades Verteidigungslinie gespalten und lässt sich theoretisch aufrollen. Selbstverständlich muss diesem Frontalangriff ein Dauerbeschuss der Artillerie vroausgehen. Die „Festung“ muss sozusagen sturmreif geschossen werden. Lees Plan ist also alles andere als Wahnsinn, sondern lediglich ein gewagtes Vabanque-Spiel.

Longstreet sieht diese Lage allerdings völlig anders. Er fürchtet nicht nur vernichtenden Kanonenbeschuss, sondern auch Flankenangriffe. Als die Generäle, die mit Pickett vorrücken sollen, ihn ansehen, sind sie schockiert, ihn weinen zu sehen.

Mein Eindruck

Es gibt zwei tragische, dramatische Höhepunkte in diesem Roman, und Picketts Frontalangriff ist der zweite, nach Chamberlains Verteidigung des Little Round Top. In beiden langen Szenen, die sorgfältigst vorbereitet werden. führt uns der Autor, vertreten durch einen Beteiligten, mitten hinein in die Hölle des Bürgerkrieges. Es ist der erste Krieg nach modernem Muster: Der Einzelne zählt nichts mehr, nur noch die Masse und die Maschinen geben den Ausschlag. Für die Militärexperten unter den Leser werden die Schlachten von Solferino und auf der Krim am Rande zitiert, doch was wirklich zählt, ist die Gegenüberstellung der grundlegend verschiedenen Armeen – und der jeweils dahinter stehenden Kultur.

Der Süden

Fremantle, der britische Militärbeobachter bei den Südstaatlern, wundert sich über die Ähnlichkeit der Umgangsformen unter den Rebellenoffizieren mit denen der Offiziere Ihrer Majestät Königin Viktorias: zuvorkommend, förmlich, höflich, verbindlich. Ehrenrühriger Tadel, wie ihn der Kavalleriegeneral JEB Stuart verdient hat, wird vom Oberkommandierenden nur hinter verschlossenen Türen und unter vier Augen erteilt. Und Tadel am Oberkommandierenden Lee, der bereits als Gottvater angesehen wird, kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Jedenfalls nicht öffentlich.

Für die Soldaten selbst ist Lee unantastbar, und so betrachten sie das Soldatenhandwerk mehr als Berufung statt als Beruf. Entsprechend locker ist ihre Unterordnung unter die Hierarchieregeln. JEB Stuart geht kurz mal in Feindesland spazierenreiten, wie es ihm gefällt, ohne einen Gedanken an Aufklärung und Dienst zu verschwenden. Andere Generäle sind verwundet und demoralisiert, geben aber nicht auf, um Jüngeren Platz zu machen – es ginbt einfach keine Jüngeren mehr als Ersatz. Dies ist eine Armee, die personell und materiell völlig am Ende ist.

Der Norden

Diese 70.000 Mann stehen einem Herr von 80.000 bestens ausgerüsteten Soldaten aus dem Norden gegenüber. Nicht nur, dass sie in Gettysburg auf eigenem Boden kämpfen, befeuert sie, sondern auch die Überzeugung, für eine GUTE SACHE zu kämpfen, nämlich die Befreiung der Sklaven. Die Sezession des Südens hat viele Ursachen, wie die Einleitung erklärt, aber wofür die Unionisten wirklich kämpfen, ist nicht etwa die Eroberung eines wirtschaftlich weit unterlegenenen Landesteils, sondern die Abschaffung der Sklaverei (die in England schon seit fast 100 Jahren abgeschafft ist).

Joshua Chamberlain und sein Bruder Tom wundern sich immer wieder über die in ihren Augen schizophrene Haltung der Südstaatler gegenüber der Institution der Sklaverei und ihre Verfechter. Chamberlain hat Südstaatler kennengelernt, die außer in diesem einen Punkt völlig vernünftige und „gute“ Menschen sind, doch wenn es um Schwarze geht, eine Sturheit an den Tag legen, die nicht nachvollziehbar ist. Der Schwarze, behaupten sie, sei weniger als ein Mensch. Doch wenn Chamberlain einen entflohenen Schwarzen bluten sieht, dann tut der Schwarze dies ganz genauso wie ein Weißer. Dementsprechend macht Chamberlain keinen Unterschied in der medizinischen Behandlung des Schwarzen.

Die Szessionisten, so scheint, leben in einem vergangenen Zeitalter, einem von Ritterlichkeit, von gewaltigen Klassen- und Standesunterschieden und einem völlig anderen Selbstverständnis davon, was einen Mann ausmacht (Frauen zählen kaum). Kurzum: Es ist das 17. und 18. Jahrhundert, in dem sie sich noch geistig bewegen, während die Nordstaaten sich bereits rasend schnell dem 20. Jahrhundert nähern.

Vor diesem Hintergrund erscheint Picketts Frontalangriff, den Lee via Longstreet befohlen hat, wie das letzte, vergebliche Aufbäumen eines hoffnungslos unterlegenen Rittertums, ähnlich wie die französische Ritterschaft, die bei Crécy (1346) und Azincourt (1415) im englischen Pfeilregen unterging. Moderne Waffen und Befestigungsmethoden obsiegen gegen heroische, fahnenschwingende Infanterie fortan immer, sei es in Solferino (wo die Österreicher am 24.9.1859 gegen Franzosen und Italiener untergingen), sei es auf der Krim (Attacke der Leichten Brigade in der Schlacht vom Balaklawa am 25.10.1854).

Die Porträts

Soweit der militärhistorische Hintergrund. Aber dafür muss man ja keinen Roman schreiben, oder? Nein, der Roman verleiht eine ganz andere Art von Freiheit: die der persönlichen Interpretationen von Beteiligten. Von Longstreet und Chamberlain sind Erinnerungen überliefert, und dementsprechend intensiv und detailreich sind auch ihre Szenen ausgestaltet. Aber um durch ihre Augen sehen und erleben zu können, musste der Autor viel tiefer gehen als zu den Fakten und Eindrücken, die ihre Bücher überliefern.

Er setzt das Stilmittel des Bewusstseinsstroms ein. Damit erleben wir die Sinneseindrücke und Gedanken eines an der Schlacht Beteiligten unmittelbar und ziemlich ungefiltert mit – bis zum bitteren Ende. General Armisteads letzter Angriff auf die Stellung des Cemetery Hill ist ein klassisches Beispiel dafür. Eindrücke von einer Hölle auf Erden, die er durchschreitet, bis zu letzten schmerzvollen Gedanken und Gefühlen durchziehen sein Kapitel.

Das Besondere an Armistead: Er liebt General Hancock, der die Seite des Feindes befehligt, wie einen Bruder. Immer wieder schweifen seine Erinnerungen zu einem gemeinsamen Liederabend bei einer schönen Frau zurück. Sie sangen ein sentimentales, wehmütiges, im Rückblick nahezu prophetisches Lied über die Trennung und das erhoffte Wiedersehen. (Es war ein sentimentales Zeitalter.) Doch so wie Armistead erging es vielen Amerikanern: Gibbon etwa hat drei Brüder, die für den Süden kämpfen, er für den Norden. Robert Lee schloss sich dem Süden an, weil er nicht gegen seine Lieben und Landsleute kämpfen wollte.

Nicht nur, dass der Bürgerkrieg per Definition auch ein bruderkrieg war – er bedeutete für die Offiziere, die an der Militärakademie West Point ausgebildet worden waren, auch den bruch ihres Eides, den sie auf die Union abgelegt hatten. Longstreet und Lee sprechen darüber, in sehr leisen Tönen, denn niemand soll davon erfahren, was sie denken: Dass sie ihr Land im Grunde verraten haben.

Der Titel

Longstreet und Lee erörtern auch die widersprüchliche Natur des Offizierseins. „Um das Militär zu lieben, muss man die Soldaten lieben. Aber um seine Pflicht erfüllen zu können, muss man genau diese Soldaten in den Tod schicken können.“ So werden sie zu „killer angels“. Chamberlain, der Rhetorikprofessor, bringt dies auf den Punkt, als er an seinen Vater denkt: Der hat immer gesagt, dass der Mensch den Killer und den Engel in sich vereinigt. Die Schlacht von Gettysburg ist das schlagendste Beispiel dafür, insbesondere Picketts Frontalangriff.

Die Verfilmung

Die bekannte TV-Verfilmung mit Jeff Daniels in der Rolle des schnauzbärtigen Chamberlain, Tom Berenger als Longstreet sowie mit Sam Elliott und Martin Sheen ist wunderbar gelungen: mitreißend, objektiv statt verurteilend, anrührend und in der Ausstattung aufwändig. (Mit 4 Stunden ist sie natürlich auch ganz schön lang.)

Dennoch bleibt sie gerade in der Ausstattung weit hinter der Realität zurück: Es wäre einfach zu teuer gewesen, die ganzen 150.000 Soldaten aufs Feld zu stellen. Es wäre ein irrsinniger Aufwand und kaum zu fotografieren gewesen, eine 1600 Meter lange Angriffslinie in Marsch zu setzen, die eine Meile weit auf einen befestigten Hügel zumarschier, ständig bombardiert von Kanonenfeuer. Nicht mal ein Zehntel davon ist wohl umgesetzt worden. Aber auch dies reicht völlig, um diese Hölle auf Erden, die am 3. Tag entfesselt wurde, anzudeuten.

Dafür sind die Porträts, mit denen der Autor das halbe Dutzend Hauptfiguren gezeichnet hat, exzellent umgesetzt worden. Dies zählt mehr als alles andere, um darzustellen, worum es in dieser Schlacht überhaupt ging. Nicht das WIE zählt am Ende, sondern die Antwort auf das WARUM und WOFÜR hier gekämpft und gestorben wurde.

Unterm Strich

Dass es diesen wichtigen Roman über die entscheidende Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs noch nicht auf Deutsch gibt, macht mich einfach fassungslos. Aber es gibt ja viele literarische Schätze der Angelsachsen, die noch auf ihre Hebung ins Deutsche warten. Vielleicht sagen sich die Verlage, dieser Roman sei eh bloß für Militärhistoriker interessant. Das stimmt in keinster Weise. Jeder, der sich auch nur im Entferntesten mit militärischen Einsätzen befasst, wird Nutzen aus den Porträts der Offiziere und Soldaten ziehen.

Deutschland ist eine kriegführende Nation, mit Soldaten in zahlreichen Krisengebieten, von Afghanistan bis zum Horn von Afrika und dem Kosovo. Ständig sterben deutschen Soldaten irgendwo, werden verwundet, werden auf jeden Fall von ihren Lieben vermisst, verlieren ihre Lieben daheim – und ihre Einsätze müssen von den Vertretern des Volkes regelmäßig genehmigt werden. Wie könnte es also diesem Volk gleichgültig sein, was die mit Steuergeldern bezahlten Soldaten und Offiziere tun und wie es ihnen im „Auslandseinsatz“ ergeht?

Dass der Roman in den USA von 15 Verlegern abgelehnt wurde, liegt wahrscheinlich an seiner größten Stärke: seiner Unvoreingenommenheit. Der Autor stellt sich weder auf die eine noch die andere Seite, er rechtfertigt niemanden und zeigt jeden maßgeblichen Offizier nach seiner Statur und in seiner Zeit. Lee etwa ist nicht der Übervater, als den ihn seine Soldaten und die Reporter sehen, sondern ein herzkranker alter Mann, der zerbrechlich wie aus Glas wirkt. Longstreet hat drei Kinder und seine Frau verloren, einsam und gebrochen zweifelt er am Sinn dieser Schlacht ebenso wie an dem dieses Krieges, dennoch erfüllt er seine Pflicht.

Erst durch diese unvoreingenommenen Porträts gewinnt der Roman nicht nur Größe, sondern erreicht den Leser mit allgemein menschlichen Themen. Erst hier, im menschlichen Zentrum, das alle Beteiligten verbindet, kann die Tragödie des Einzelnen und der Nation fühlbar und verständlich werden. „Mitleiden und Schrecken“, so heißt es bei Aristoteles, „sind die beiden Wirkungen der Tragödie.“ Keiner weiß dies besser als Prof. Chamberlain. Und genau diese beiden Wirkungen kann der Autor mit seinem Buch erzielen. Was kann man mehr verlangen.

Englischniveau

Selbst nach rund 50 Jahren ist dieser wichtige Roman immer noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Der Leser sollte mittelgute Kenntnisse in amerikanischem Englisch mitbringen. Akademische Fachbegriffe verwendet der Autor nicht, doch die Generäle der Südstaaten befleißigen sich französischer Begriffe der Kriegsführung. Deren Bedeutung erschließt sich aus dem Kontext.

Taschenbuch: 384 Seiten.
O-Titel: The Killer Angels
ISBN-13: 978-0345348104

https://www.penguinrandomhouse.com/authors/57084/ballantine/

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)