Arimasa Osawa – Der Hai von Shinjuku: Rache auf chinesisch

Das geschieht:

Die City Shinjuku gilt als das Herz Tokios. Shinjuku ist auch das kommerzielle Zentrum der Stadt. Das größte Vergnügungsviertel und ein gewaltiger Rotlichtbezirk finden sich hier. Das lockt neben Geschäftsleuten und Touristen aus aller Welt das organisierte Verbrechen magisch an. Viele große und noch mehr kleinere Yakuza-Banden haben Shinjuku unter sich aufgeteilt, schöpfen Schutzgelder ab, waschen Schwarzgeld und führen eigene Restaurants, Bordelle und Spielhöllen.

Dies ist das Revier, in dem Oberkommissar Samejima von der Eingreiftruppe der Direktion Shinjuku sich heimisch fühlt. Der unbestechliche Polizist wurde karrieremäßig aufs Abstellgleis geschoben, nachdem er mehrfach gegen den internen Ehrenkodex verstoßen und gegen korrupte Kameraden ermittelt hat. Statt sich in sein Schicksal zu fügen, setzt Samejima seinen Kampf gegen das Verbrechen entschlossen fort. Man nennt ihn, der sich nicht um die angemaßten Privilegien der Yakuza schert, den „Hai von Shinjuku“.

Aktuell erregt der angebliche Tourist Guo Rongmin seinen Verdacht. Der entpuppt sich als hochrangiger Zivilfahnder aus Taipeh, der eigenmächtig nach einem Kriminellen fahndet. Zwischen der chinesischen Republik Taiwan und Japan herrscht nicht nur offiziell ein reger wirtschaftlicher Austausch. Auf beiden Inseln gibt es außerdem Yakuza-Clans, die oft zusammenarbeiten. Guo sucht den gefürchteten Profikiller Duyuan (= Giftaffe), in dem er seinen einst besten Freund Liu Zhensheng erkannt zu haben glaubt. Der war vom mächtigen Yakuza-Boss Je Wei angeheuert und später betrogen worden – ein Affront, für den der Attentäter sich rächen will. Um die ganze Welt hat er den Verräter gejagt, der sich zurzeit in Shinjuku verbirgt. Guo und Samejima wollen Liu stoppen: der eine, um ihn zu retten, der andere, um jenen Krieg in der Unterwelt zu verhindern, den Je Weis Tod auslösen würde …

Fremde Umgebung, bekannte Übeltaten

Nicht nur wer eine Reise tut, möchte etwas erleben. Auch der Leser von Kriminalromanen, die deutlich außerhalb bekannter Umgebungen spielen, ist bereit, sich auf Neues einzulassen, wobei das Ausmaß dieser Bereitschaft natürlich sehr unterschiedlich definiert wird.

Wer gern in Schubladen denkt, kann „Rache auf chinesisch“ problemlos in ein Fach mit angloamerikanischen Romanen legen. Arimasa Osawa wandelt mit traumwandlerischer Sicherheit auf einem goldenen Mittelweg, der das Vertraute vom Fremden trennt. Die Geschichte spielt in einem Stadtbezirk der Megalopolis Tokio. Das Umfeld ist nicht vertraut, die politischen Strukturen und das Verwaltungssystem sind unbekannt. „Rache auf chinesisch“ ist ein Polizeiroman, aber wie arbeitet die Polizei in Japan?

Anders als in Europa oder Nordamerika, das wird rasch klar. Geschickt lässt Osawa diesbezügliche Informationen in den Text einfließen. Sie sind Teil der Handlung, die dadurch nie verlangsamt wird. Schnell hat man das notwendige Grundwissen erworben. Dass dies gelingt, geht auch auf die hervorragende deutsche Übersetzung zurück, die nicht von einem Fließbandarbeiter verbrochen, sondern von jemandem geleistet wurde, der (oder in diesem Fall: die) mit den japanischen Verhältnissen vertraut ist.

Eine Handlung, zwei Geschichten

Die für europäische Hirnzellen schwierig zu differenzierenden Namen können bald an die Figuren gekoppelt werden. Dann wird es spannend: „Rache auf chinesisch“ ist ein wunderbar schnörkelloser Krimi, der eine simple aber spannende Geschichte vor schillernder Kulisse erzählt. Zwei Handlungsebenen sind zu unterscheiden. Nummer 1 setzt die Chronik des Polizisten Samejima fort. Er ist in interne Grabenkämpfe verwickelt und macht gleichzeitig der örtlichen Yakuza das Leben schwer. Dieses Mal steht ein großer Coup der kooperierenden japanischen und taiwanesischen Mafia an, den es zu ermitteln und zu verhindern gilt.

Die Aktivitäten der Polizei werden straff und spannend dargestellt und bilden den Hintergrund für Handlungsstrang 2, der den Einmann-Feldzug eines Profikillers und den Versuch seiner Rettung schildert. Die Vollendung einer Rache könnte einen Krieg zwischen den Yakuza-Clans entfesseln, was die Geschichte mit weiterer Spannung auflädt. Samejima wird zum Bindeglied zwischen beiden Ereignissträngen und gerät dabei abermals in eine juristische und moralische Zwickmühle.

Der Zwang zur Pflicht

Persönliche Beziehungen und die daraus resultierenden Verpflichtungen werden in Japan sehr wichtig genommen. Das prägt die Handlung entscheidend, zumal Osawa seine Figuren mit echten Persönlichkeiten ausstattet. Im Mittelpunkt stehen Samejima, der Polizist aus Japan, Guo Rongmin, der Beamte aus Taiwan, Je Wei, der Gangster, und Liu Zhensheng, der Killer. Hinzu kommt Nami, die einsame Frau aus dem Rotlichtmilieu, die sich ausgerechnet in den Killer verliebt.

Osawa verwickelt diese Figuren in ein Netz komplexer Verflechtungen. Samejima ist Polizist und dem Gesetz verpflichtet, was er außerordentlich ernst nimmt. Gleichzeitig hat dem neuen Freund Guo seine Unterstützung zugesagt, was regelwidrig aber ethisch bindend ist. Guo verstößt gegen taiwanesisches Recht, mag jedoch den alten Kameraden und Freund Liu nicht ins Verderben laufen lassen. Samejimas Hilfe verpflichtet Guo wiederum dem Kollegen aus Shinjuzu.

Liu wurde betrogen und ‚muss‘ sich rächen, um seinen Ruf und sein Gesicht zu wahren; jetzt entwickelt er Gefühle für Nami und bringt sich in zusätzliche Gefahr, weil er sie nicht verlassen mag. Nami liebt Liu und wird deshalb Zeugin seiner Gewalttaten und sogar dessen loyale Komplizin. Je Wei hat bereut längst seinen Fehler und würde die Fehde gern beenden, doch er muss sein Gesicht in der Unterwelt wahren und Liu ausschalten.

Organisiertes Verbrechen ist organisiertes Unrecht

Je Wei steht zwischen den Welten. Während Samejima, Guo und Liu den moralischen Vorstellungen der Vergangenheit anhängen, ist der Gangsterboss globalisiert. Die Yakuza geben sich zwar ebenfalls sehr traditionsbewusst, doch insgeheim ärgert sich Je Wei über die Dankbarkeit, die er seinen japanischen Kollegen für ihren Schutz zu zeigen hat, während diese keinen Hehl aus ihrem Unmut machen, ihm diesen Schutz gewähren zu müssen.

Im Vordergrund stehen stattdessen Profit und Eigennutz – und mehr als ein wenig Rassendünkel: „Rache auf chinesisch“ thematisiert eindringlich die Diskriminierung, die auch im modernen Japan akut ist und sich keinesfalls auf nicht asiatische Menschen beschränkt. Die irrationalen Handlungen Namis, die in China geboren wurde und nie wirklich in Japan integriert wurde, lassen sich als Reaktion auf lebenslange Fremdenfeindlichkeit deuten.

Das Verhältnis zwischen Polizei und Yakuza ist eine besondere Erwähnung wert, fließt doch auch hier ein beachtliches Maß an Gesellschafts- und Kulturkritik in den Roman ein. Es herrscht ein gewisser Waffenstillstand, der einerseits auf dem Gewaltpotenzial der Yakuza beruht. Sie ist gut organisiert und noch besser bewaffnet. Frontal lässt sie sich nicht angehen. Politische Verbindungen verschaffen der Yakuzu r zusätzlichen Halt. Andererseits sind auch die Clans nicht an direkter Konfrontation interessiert, denn der Kampf bindet Kräfte, die im ‚Geschäft‘ fehlen, und erregt Aufmerksamkeit, die unliebsam ist, weil sie womöglich sogar Verbündete zum Handeln zwingt.

Gleichgewicht des Schreckens

Also zollt man sich widerwillig Achtung und erlegt sich Zurückhaltung auf. Die Yakuza attackiert keine Polizisten, während sich die Polizei darauf beschränkt, allzu offensichtliche Yakuza-Verbrechen zu ahnden. Wie Osawa in einem einleitenden Kapitel darlegt, sind es fast ausschließlich kleine Fische, die dabei ins Netz gehen. Sie halten den Mund, weil sie sich darauf verlassen können, dass die Yakuza für ihre Familien sorgt, und sitzen ihre Strafen ab (zumal die Strafe für eventuelles ‚Singen‘ ebenso einfach wie drastisch ist).

Samejima hasst dieses laissez-faire. Er lehnt ein diplomatisches Verhältnis zur Mafia ab. Das macht ihn nicht nur dort unbeliebt. Auch Samejimas Vorgesetzte schätzen seinen unduldsamen Enthusiasmus nicht. Die Existenz der Yakuza ist in Japan ein offenes aber offiziell gern totgeschwiegenes Geheimnis; der Krieg gegen die Mafia würde das Interesse der Medien und schließlich der Öffentlichkeit erregen, die Erfolge fordern könnte, während das geruhsame Aussitzen des Problems Raum für wichtigere Dinge wie Karrierekämpfe, Korruption oder schlichtes Daumendrehen lässt. Auch von Samejima, der als höherer Beamter zur Elite gehörte, hatte man die entsprechende Stromlinienförmigkeit erwartet, doch er hatte sich der Rangordnung entzogen und den Apparat bloßgestellt.

Ganz allein steht Samejima nicht gegen seine Feinde. Innerhalb der Polizei gibt es viele, die seine Integrität und seine Leistungen rühmen. Leider sitzen diese Verbündeten dort, wo sie ihm nur begrenzten Flankenschutz bieten können. Samejima weiß genau, dass man hinter seinem Rücken ständig an seinem Stuhl sägt. Das stachelt ihn noch mehr an. Die daraus resultierende Unsicherheit trägt zur Spannung bei, in die sich vorsichtige Vorfreude auf weitere Romane der Serie mischt; vorsichtig deshalb, weil nicht nur actionreiche und stimmungsvolle Krimis aus Japan in Deutschland regelmäßig dem Rotstift zum Opfer fallen bzw. durch harthölzerne Historienkrimis, chick-lit-cozies und Metzel-Murksereien ersetzt werden.

Autor

Arimasa Osawa (geb. 1956) ist heute einer der erfolgreichsten Autoren von Kriminalromanen in Japan. Er musste einen langen Weg zurücklegen, bis es soweit war: 28 Bücher schrieb und veröffentlichte Osawa ab 1979, von denen keines eine zweite Auflage erfuhr. Dabei wurde bereits sein Erstling, der Krimi „Kansho no machikado“, mit einem „Mystery Magazine Prize for New Writers“ ausgezeichnet.

Osawa schreibt schnell und professionell. Er wird als Kriminalschriftsteller stark von den US-Klassikern der 1930er und 40er Jahre beeinflusst: Raymond Chandler oder Dashiell Hammett stehen stilistisch Pate, während Osawa andererseits diese im Grunde für Japan sehr fremde Literatur perfekt für das asiatische Umfeld adaptiert.

Sein Durchbruch gelang Osawa 1990 mit „Shinjuku-zame“ (dt. „Sodom und Gomorrha“), der Geschichte eines Polizisten zwischen Pflichterfüllung und Ehre. Dieser Roman wurde mit einem Preis des Verbandes für japanische Kriminalschriftsteller und mit dem Yoshikawa-Eiji-Preis für Erstlingswerke ausgezeichnet sowie vom Verfasser zu einer Serie ausgebaut, die sowohl für das Kino als auch fürs Fernsehen verfilmt wurde sowie als Vorlage für ein Manga diente.

Osawa schreibt neben der „Hai“-Reihe noch weitere Serien, wobei er auch die Genres Horror und Science Fiction bedient. Darüber hinaus verfasst er Einzelromane.

Anmerkung

Eine interessante und informationsreiche Einführung in den aktuellen japanischen Kriminalromans liefert – unter Berücksichtigung des Werkes von Arimasa Osawa – Robert F. Wittkamp in seinem Artikel „Mord und Totschlag auf japanisch – Neue Krimis in deutscher Übersetzung“ (in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 177/178, 2005, S. 279-285), der hier unter auch im Internet fassbar ist.

Gebunden: 321 Seiten
Originaltitel: Shinjuku zame 2 – Dokuzaru (Tokyo : Kobunsha Publishers 1991)
Übersetzung: Katja Busson
http://www.cass-verlag.de

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