Terry Pratchett – Toller Dampf voraus

Faszination Eisenbahn auf der Scheibenwelt!

Terry Pratchett, der seit 2007 offiziell an einer Alzheimer-Erkrankung leidet, hat sich literarisch ein kolossales Denkmal gesetzt. Seine Erzählungen von der Scheibenwelt sind jedem geneigten Leser ein Begriff, wurden vielfach preisgekrönt und in alle möglichen Sprachen übersetzt. Pratchett gilt als Meister kurioser Fantasyparodien, doch sind seine Romane viel mehr als das. Die Scheibenwelt, selbst ein einzigartiges Kuriosum, entspricht in ihren Gesetzen und Dogmen nun mal nicht unserer Welt, und obwohl das Genie Pratchetts die Lachmuskeln des Lesers ständig reizt, sind es bei weitem keine flachen, konstruierten Witze, sondern der Humor entwickelt sich aus dem Stil und der Sprache, in dem zum Beispiel Wortspielereien wörtlich zu nehmen sind oder Details so wirken, als schreibe Pratchett über seine Grübeleien das erstbeste Wort, das ihm dazu einfällt – und das arbeitet er dann erst recht glaubhaft aus.

Als nun ein junger Erfinder Simnel im Hinterland der Hauptstadt Ankh-Morpork erst die Dampfmaschine und dann die Eisenbahn entwickelt, ereignen sich allerlei denkbare und undenkbare Katastrophen im näheren und weiteren Umfeld des Projekts. Pratchett zieht konsequent die stellenweise ausgeprägte Hirnlosigkeit seiner Geschöpfe durch die unbekannte Gefahrenquelle Heißer Dampf, was einerseits zu rot gefärbten Nebelschleiern, andererseits zu hübschen Explosionen und einer eigentlich noch harmlosen Reduktion eben dieser Geschöpfe führt. Denn im Grunde, und das erkennen alsbald auch die verquersten Bewohner der Scheibenwelt, bringt die Eisenbahn weitaus mehr Vorteile, als sie mit ihren beschränkten Gedanken an Nachteilen sich ausmalen können. Und wie Pratchett seinen Patrizier Lord Vetinari, den Herrscher über Ankh-Morpork feststellen lässt: Die Industrialisierung der Scheibenwelt hat begonnen, und niemand kennt die Folgen, die ein so angestoßener rasanter Fortschritt mit sich bringt. Möge die Zukunft nachsichtig mit den Geschöpfen dieser Welt sein.

Erzählt wird die Geschichte vor allem aus der Sicht des umtriebigen Gauners Feucht von Lipwig, dessen eigentliche Fähigkeit die Sprache ist. Er, eigentlich beim Patrizier angestellt, erhält die Aufgabe, der Eisenbahn den Weg zu ebnen, was in diesem Fall heißt, überall auf der Scheibenwelt für Akzeptanz, wenigstens Ignoranz und wenn nötig Habgier in Hinsicht auf die Eisenbahn zu erzeugen. Grundbesitzer, Bürgermeister, Händler und Diplomaten – wer die Möglichkeiten der Bahn nicht erkennt, muss anderweitig überzeugt werden. So unternimmt der Leser Streifzüge quer über das Land, lernt Goblins von einer anderen Seite kennen und findet heraus, dass der Charakter des Gauners Feucht von Lipwig eigentlich von Gutherzigkeit und Wohlwollen geprägt ist.

Über lange Strecken scheint auch alles glatt zu gehen, beinahe verkommt die Geschichte zu einer Aneinanderreihung von Orten und erfolgreichen Verhandlungen inklusive der Entwicklungsgeschichte der Eisenbahn, wie sie sich auch in unserer Welt abgespielt haben könnte. Bis es endlich – endlich! – zu Störungen kommt. Radikale Zwerge greifen die Klackertürme, das Nachrichtensystem der Scheibenwelt, an und eine anti-Fortschritt-Stimmung macht sich unter dem Berge breit, die sich irgendwann auch für die Eisenbahn interessiert. Und hier zeigt Pratchett, dass die Scheibenwelt noch immer die Scheibenwelt ist, denn der merkwürdige rote Nebel, den man morgens im Schuppen des Prototyps Eisenpfeil findet, rührt, wie diverses verteiltes Saboteurwerkzeug belegt, von einem verdampften Eindringling her. Von dem nichts weiter blieb.

Was Pratchett hier also bietet, sind unmögliche Gefahren, unmögliche Kreaturen, unmögliche Ereignisse und eine Handvoll erstaunlich bodenständiger Leute aller Herkunft, die in all diesem Gewusel einen gangbaren Weg finden, die sich gegenseitig aufreibenden Mächte auf eine gemeinsame Spur zu lenken. Und so ist die prächtige Maschine Eisenpfeil als Sinnbild für die Moderne gleichfalls das übergeordnete Symbol für die Geschehnisse auf der Scheibenwelt, die seit einigen Romanen dominieren: Alte Strukturen werden aufgebrochen, neue Denkweisen halten Einzug sogar in die entlegensten Winkel und engsten Köpfe, alles ist im Fluss, die Welt hat sich weitergedreht …

Für Freunde der Scheibenwelt eine nicht gerade sanfte Neuerung, ist dieser Roman für Neulinge nur bedingt zu empfehlen, da viele Begriffe, Wesen, Orte und Erfahrungen in den ungezählten vorangegangenen Werken für die Charakterisierung dieser Welt in diesem Roman eine neue Richtung einschlagen. Trotzdem ist er natürlich für jedermann verständlich, entfaltet seine ganze Wirkung aber vor allem vor dem Hintergrund der langjährigen Entwicklung dieser Welt.

Vorgetragen und belebt wurde die vorliegende ungekürzte Lesung von Jens Wawrczeck, der hier einen guten Job macht und die vielen unterschiedlichen Figuren individualisiert.

Die Fragen, die sich andernorts über diesen Roman gestellt werden, sind spekulativ und nicht beantwortbar. Etwa die nach dem Autor: Hat wirklich Terry selbst dieses Buch geschrieben? Oder warum steht im Copyright auch Lyn Pratchett? Manch einer, der nicht zufrieden mit dem Wortwitz und der erzählerischen Kraft ist, die sonst Pratchetts Geschichten auszeichnen und die hier nicht mit gleicher Macht eingesetzt werden, vermutet in der Krankheit des Schriftstellers den Grund – und das sollte auch die einzige zulässige Vermutung sein, denn egal, in welcher Art und Weise Pratchett vielleicht nicht »wie immer« arbeitete, die Wahrheit kennen wir nicht. Uns bleibt die Hoffnung auf viele weitere Geschichten, möge Terry Pratchett noch ein gutes Leben leben.

2 MP3 CDs
Ungekürzte Lesung: 986 Minuten
Deutsch von Gerald Jung
Gelesen von Jens Wawrczeck
ISBN-13: 9783844515305

www.randomhouse.de/hoerverlag

Der Autor vergibt: (3/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)