Palliser, Charles – schwarze Kathedrale, Die

In letzter Zeit habe ich es offensichtlich mit Romanen, die im kirchlichen Umfeld stattfinden, schon wieder fand ein solcher den Weg in meine Hände. Dank des anstachelnden Klappentexts machte „Die schwarze Kathedrale“ einen überaus interessanten Eindruck. Im Original heißt der Roman übrigens wesentlich treffender |“The Unburied“| nämlich: „Der (oder Die) Unbegrabene(n)“, was der Handlung auch eher gerecht wird. Über misslungene deutsche Titelverballhornungen rege ich mich aber schon lange nicht mehr auf. Solange der Inhalt mich zu fesseln vermag, ist das eher zweitrangig, doch frage ich mich schon gelegentlich, welch Geistes Kinder sich die teils beknackten Eindeutschungen einfallen lassen.

_Zur Story_
Dr. Edward „Ned“ Courtine, seines Zeichens Referent und Lehrer für anglikanische Historie in Cambridge schlägt in der Vorweihnachtszeit 1881 gleich drei Fliegen mit einer Klappe. Er hat schon lange seinem Ex-Studienkollegen und altem Freund Austin Fickling versprochen, ihn in dessen Wahlheimat Thurchester zu besuchen. In der englischen Kleinstadt befindet sich zudem eine berühmte Kathedrale, in deren Bibliothek er ein bestimmtes Manuskript zu finden hofft, das seine Theorie über den mittelalterlichen König Alfred stützt. Wenn er das Manuskript tatsächlich findet, kann er das von einigen seiner Kollegen gehegte Bild der anglikanischen Geschichte ändern und ihm sogar einen Lehrstuhl einbringen.

Außerdem will Courtine sowieso über Weihnachten zu seiner Nichte und Thurchester liegt genau auf dem Weg, was liegt also näher, als all das miteinander zu verquicken und einen einwöchigen Zwischenstopp dort einzulegen? Er und Fickling haben sich nach einem Streit vor 20 Jahren nicht mehr gesehen und das Wiedersehen verläuft sehr seltsam, Courtine wirft seinem ehemaligen Kumpel (wenngleich er das nicht zeigt) insgeheim immer noch vor, ihn und seine Frau damals auseinander gebracht zu haben.

Das Warum und Wieso bleibt zunächst im Dunkeln, Courtines Wunden reißen schon allein wegen Ficklings sehr komischem und widersprüchlichem Verhalten alsbald wieder auf. Jeder in dieser provinziellen und kleinbürgerlichen Stadt scheint irgendwas zu verbergen zu haben, des Weiteren sind sich die Bewohner untereinander alle nicht wirklich grün. Gerüchte, Getuschel und teils offene Anfeindungen sind quasi an der Tagesordnung – da gönnt der eine dem anderen nicht die Wurst auf dem Brot.

Courtine hat als Außenstehender einen erhabenen Blick auf diese Leute, doch muss er sich mit allen gut stehen, schließlich möchte er ja freien Zugang zur Bibliothek haben. Gleichzeitig will er herausfinden, welches Geheimnis seinen alten Freund Austin umgibt, der sich mal aufgekratzt, mal wortkarg schroff gibt und öfters des Nächtens wer-weiß-wohin verschwindet. Bald geht es rund um die geschichtsträchtige Kathedrale aber nicht mehr um persönliche Animositäten, nicht um alte historische Folianten, nicht um rätselhafte Schauergeschichten aus der Geschichte des Bauwerks, sondern um handfesten Mord an einem Banker und das Auftauchen des Leichnams eines verschwunden geglaubten Mörders direkt aus der Vergangenheit in der Kathedrale selbst …

_Meinung_
Was sich schön düster und mysteriös-spannend anhört, ist in Wahrheit sehr dröge präsentiert, dabei fängt der eigentliche Roman mit einem guten Flair an. Ein verwunschenes Kleinstädtchen auf dem Land mit schrulligen Bewohnern und einer gespenstischen Kirche, die von Nebel umwabert ein schreckliches Geheimnis trägt, sogar eine ominöse Kapuzengestalt (angeblich ein ruheloser Geist) lustwandelt über den Kathedralenvorplatz. Das klingt ganz verlockend nach Altmeister Edgar Wallace.

Leider verliert sich Palliser alsbald in seitenlangem Geschwafel von Courtines Theorie über König Alfred, sein Verhältnis zu Austin Fickling und den Begebenheiten, die sich rund um das alte Gemäuer ranken – immer wenn ich dachte, jetzt käme der Clou oder es würde endlich der entscheidene Hinweis geliefert, wurde ich enttäuscht. Denn kaum etwas von dem überflüssigen Geschreibsel ist später von Bedeutung. Der Lesespass wird dadurch ganz erheblich gebremst und ich konnte mir ein zähneknirschendes: „Komm endlich zur Sache, Kerl!“ kaum verkneifen.

Schlicht gesagt, es passiert nichts Weltbewegendes, bis fast gegen Ende und dann muss sich der Autor Mühe geben, die unnötig verworrenen Stränge zu einem Abschluss zu bringen. Selbst der Mord an dem sonderlichen Bankier und das Auffinden einer eingemauerten Leiche in der Kathedrale finden erst im letzten Drittel statt und können diese Provinz-Posse auch nicht mehr retten. Das Bild der Stadt und seiner Bewohner porträtiert Palliser sehr genau – |zu| genau, um ehrlich zu sein, denn im Endeffekt ist es für den Mordfall ziemlich irrelevant, der (ich bin mal so frei und spoiler hier ein wenig) nach dem Hauptteil der Geschichte ungesühnt und (fast) ungeklärt bleibt. Stattdessen werden Courtines persönliche Probleme mit Austin breit getreten und die viktorianische Gesellschaft um diese Zeit aufs Korn genommen (das allerdings sehr trefflich) … Gesellschaftliche Zwänge, wer mit wem und wer nicht und immer wieder Verweise auf die ollen Kamellen der Vergangenheit.

Zum besseren Verständnis muss ich aber die Gliederung heranziehen: Der Anfang des Buches findet um 1920 herum statt (nach dem virtuellen Tod von Dr. Courtine), es ist ein kurzer Vorgriff auf die eigentliche Handlung, die erst nach dieser Einlage kommen wird. Der „Bericht“ über die Vorfälle ist in der Ich-Form geschrieben und stellt die Geschehnisse aus der Sicht von Courtine dar, wie er sie fiktiv „erlebt“ hat. Nach dem Augenzeugenbericht folgt dann der Epilog, in welchem dann die letzten Puzzle-Teile an ihren Platz kommen, gefolgt von einem ausführlich geschilderten (visionären) Traum, den die Hauptfigur hatte (wie überaus ergreifend) und einem bitter nötigen Namensregister aller beteiligten Figuren.

Ich mag solche Geschichten ohnehin nicht sonderlich, bei denen schon von vornherein feststeht, dass mittendrin alles nur Geplänkel ist und der Kracher erst im Epilog aus dem Hut gezogen wird. Leider gibt es – oops! – aber gar keinen wirklichen Kracher und die endgültige Auflösung des lieblos inszenierten Rätsels (Welches Rätsel, die Auflösung war so was von offensichtlich!?) ist reine Makulatur. Was habe ich aus dem Roman gelernt? Briten sind spießbürgerlich von einer geradezu perfiden Höflichkeit beseelt, leben bevorzugt im Nebel (auch und gerade dem der Vergangenheit), lieben Gespenster und ungenießbares Essen. Na toll, auch |das| wusste man schon vorher.

_Fazit_
Mal Butter bei die Fische: Streckenweise ist des Buch ganz interessant und hat einige gute Ansätze, die Palliser – als regelrechte Spaßbremse – aber gleich wieder ruiniert, da hätte man wesentlich mehr draus machen können, um den anfänglichen Spannungsbogen auch konstant aufrecht zu erhalten. Die wirklich guten und akribischen Charakterisierungen der viktorianischen Kleinstadt-Gesellschaft und ihres (Un-)Rechtssystems können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Plot massig an |pace| fehlt.

Zudem ist die Sache ziemlich leicht zu durchschauen, ich hatte mir nach nicht mal der Hälfte schon meine Theorie zurechtgelegt, die bedauerlicherweise erwartungsgemäß in beinahe allen Punkten zutraf – kein Ruhmesblatt für einen ausgewiesenen Thriller. Erschwerend kommt die akademisch-schwülstige „Von-Oben-Herab“-Schreibweise hinzu, die wohl Absicht ist, doch einem mit der Zeit ordentlich auf den Senkel geht, da sie die ohnehin schon langatmige Geschichte weiter unnötig verkompliziert und in die Länge zieht. Das dürfte vor allem Gelegenheitsleser sicher abschrecken. Eine (bedingte) Empfehlung spreche ich trotzdem aus, der Unterhaltungswert war mir trotz einiger guter Ansätze im Gesamtbild aber doch zu lau.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Original-Titel: „The Unburied“
Genre: Viktorianischer Krimi
Ersterscheinungsjahr: 1999 (Phoenix House / London)
Deutsche Übersetzung: Sigrid Langhaeuser
Erschienen: 2000 (Droemer / München)
Format: Hardcover / 480 Seiten
oder Taschenbuch (Neuauflage 2002)
ISBN: 3-426-19496-1 (HC)
ISBN: 3-426-61995-4 (TB)