Im Jahre 1940 jagten die nazideutschen Truppen, die in einem beispiellosen „Blitzkrieg“ Westeuropa unter ihr Joch gezwungen hatten, die englischen Truppen schmachvoll über den Kanal zurück auf ihre Insel. An der Westfront herrscht seitdem ein Patt: Die Briten verfügen nicht über die Ressourcen, den Krieg zurück auf den Kontinent zu tragen. Hitlers Soldaten schaffen es andererseits nicht, England zu erobern. Außerdem sind sie an der Ostfront mehr als beschäftigt; seit Stalingrad sind die Sowjets auf ihrem unerbittlichen Vorstoß gen Deutschland.
1944 kehren die Briten – inzwischen Verbündete der US-Amerikaner und Kanadier – ins direkte Kriegsgeschehen zurück. Sie sind festen Willens, die Nazis zur bedingungslosen Kapitulation zu zwingen. Mit amerikanischer Unterstützung haben sie in den vergangenen Jahren eine beispiellose Kampfmaschine aufgebaut. Diese ist endlich bereit zur Errichtung einer „zweiten Front“ im Westen Europas.
Die Deutschen wissen um die Gefahr einer Invasion. Doch wo werden die Alliierten angreifen? Sie kommen von Westen, werden an der englischen Südküste starten und den Kanal überqueren, das ist klar. Aber steuern sie direkt auf die französische Küste zu? Oder suchen sie sich eine andere Stelle, wo die deutsche Verteidigung nicht mit ihnen rechnet?
In der Tat spielen die Alliierten ein gewagtes Spiel. Die Invasion soll in der Normandie erfolgen. Dort gibt es Küstenstriche, die eine Landung von mehr als 150.000 (!) Soldaten zu Wasser und aus der Luft ermöglichen. Allerdings gehört die Normandie zum Kommandogebiet der deutschen Armeegruppe B, dem der gefürchtete Feldherr Erwin Rommel vorsteht.
Sein Gegenüber ist der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte: General Dwight D. Eisenhower, weniger ein genialer Schlachtenlenker als ein besonnener Organisator, dem es zugetraut werden kann, ein so gewaltiges Unternehmen wie den „D-Day“ zu realisieren. Die Herausforderung ist enorm; noch niemals ist eine Invasion dieser Größenordnung geplant worden.
Die größten Gefahrenquellen sind Ort und Datum ihres Stattfindens, da dies den Deutschen die Gelegenheit für Gegenmaßnahmen gäbe. Also muss die Invasion geheim gehalten werden. Unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen werden in England alliierte Soldaten für den großen Tag ausgebildet. Agenten spielen den Deutschen gefälschte Nachrichten zu. Überall im Land werden Flugzeug- und Panzerattrappen aufgebaut. In Frankreich bereitet sich der Widerstand – die |Résistance| – darauf vor, durch Sabotage ihren Teil zur Invasion beizutragen.
Unendlich viele Pannen und Katastrophen später ist es am 6. Juni 1944 soweit: Die Invasionsflotte setzt über den Kanal und geht an fünf Stränden an Land. Der „längste Tag“ hat begonnen – sein Ausgang entscheidet über den Ausgang des II. Weltkriegs!
Nun, wir wissen, wie es ausgegangen ist. Liest man freilich Bücher wie dieses, kann man sich schon ein wenig darüber wundern. Mit bemerkenswerter Offenheit schildert der Autor die Geschichte eines Unternehmens, das sich durchaus als Kette menschlichen Versagens und unglücklicher Zufälle deuten lässt. Andererseits wird genauso deutlich, dass es anders wohl gar nicht kommen konnte. Ein Unternehmen wie die Invasion der Normandie war gewaltig, nie zuvor da gewesen, dazu abhängig von deprimierend vielen Faktoren.
Das wurde von der Geschichtsschreibung lange verschwiegen bzw. nicht gerade betont. Wer beispielsweise das Filmepos „The Longest Day“ (1961, dt. „Der längste Tag“) verfolgt, erlebt eine Invasion, die zwar organisatorisch komplex und leichenreich, aber grundsätzlich generalstabsmäßig abläuft.
So war es nicht, und es war höchste Zeit, diese Tatsache in die Darstellung einzubeziehen. Dies gilt um so mehr, als die Zeitzeugen, die es am besten wissen, allmählich knapp werden, um es salopp auszudrücken: Der 60. Jahrestag des „D-Days“ war wohl der letzte „runde“ Jubiläum, an dem Veteranen in nennenswerter Zahl teilgenommen haben – ihre Lebenszeit beginnt abzulaufen. Mit ihnen sterben die unmittelbaren Erinnerungsträger, die ein historisches Ereignis den Nachgeborenen noch nahe bringen können. Quellen und Fotos in allen Ehren: Ein Mensch, der dabei war, wird auch den Laien in seinen Bann ziehen können.
Besagter Jahrestag war auch der Anlass für die BBC, eine TV-Dokumentation zur Invasion zu drehen. Wie das meist üblich ist für diesen Sender, scheute man weder Kosten noch Mühen, arbeitete mit Historikern, Kriegsveteranen aller beteiligten Armeen und fähigen Filmemachern zusammen. Das Ergebnis ist Geschichte auf angelsächsische Art: umfassend und ausgewogen, aber gleichzeitig unterhaltsam und leicht verständlich. Dieselbe Qualität besitzt der Textbildband von Dan Parry, der an der Fernsehproduktion mitgearbeitet hat und auf dieses Material zugreifen konnte.
192 Seiten nur ist sein Werk stark, wobei der Anteil der Abbildungen beträchtlich ist. Der Spezialist wird diverse Details womöglich vermissen, doch der historische Laie darf sicher sein, die komplexe Geschichte der Invasion in der Normandie nach der Lektüre verstanden zu haben, ohne auf niedrigem Niveau mit Teilwissen abgespeist zu werden.
Wobei Parry den „D-Day“ schon mit seinen Vorbereitungen beginnen lässt. Die Vorgeschichte ist mindestens ebenso interessant wie das eigentliche Geschehen. Niemals zuvor war ein solches Unternehmen geplant und realisiert worden. Wieso eine Invasion dieses Umfang überhaupt nötig wurde, verdeutlicht Parry durch eine knappe, aber ausreichende Status-Quo-Schilderung der Kriegssituation in Europa.
Was in Deutschland, Frankreich und England 1944 vor sich ging, betrachtet Parry bevorzugt durch die Augen der Beteiligten. Soldaten, Seeleute, Widerstandskämpfer, Zivilisten – sie alle haben etwas zu erzählen. Wir lernen sie kennen, zumal Parry sie uns mit Bild und Kurzvita vorstellt. Der Krieg bekommt ein „Gesicht“ – und wir lernen, dass er in der Tat von Menschen geführt wurde – auf allen Seiten: Die bemerkenswert wertfreie Sicht auf die deutschen Aggressoren kündet von dem Bemühen einer objektiven Geschichtsschreibung; die traurigen Fakten sprechen ohnehin für sich.
Trotz des nur begrenzten Raumes ist stets Raum für Episoden und sogar Anekdoten. Viel bisher Geheimes oder in den Archiven Verschüttetes kam ans Tageslicht. Wer hat zuvor von dem dramatischen Zwischenfall einer völlig schief gelaufenen Landungsübung gehört, die schon vor dem „D-Day“ mehr als 700 Soldaten das Leben kostete? Oder wer kennt den Meisterspion „Garbo“, der scheinbar für die Deutschen arbeitete, diese tatsächlich jedoch als Doppelagent mit getürkten Depeschen an der Nase herumführte und zu den unbesungenen Helden des II. Weltkriegs gehört?
Im Mittelteil schildert Parry das eigentliche Kampfgeschehen an den Stränden der Normandie – eine schwierige Aufgabe, da es dort lange Zeit drunter und drüber ging. Auch hier kann der Verfasser einzigartige Bilddokumente präsentieren. Der weltberühmte Kriegsberichterstatter Robert Capa und andere unerschrockene Reporter zogen mit den Soldaten in den Krieg; was sie erlebten und im Bild festhielten, wird sich jede/r vorstellen können, der die erste halbe Stunde von Stephen Spielbergs Kriegsepos „Der Soldat James Ryan“ gesehen hat.
Auch nach dem „D-Day“ ging der Krieg weiter. Parry skizziert diese Fortsetzung auf der Basis der Invasion. Es wird deutlich, dass dies – nach Stalingrad – wirklich jene Schlacht war, die das Finale einläutete. Für viele Teilnehmer ist sie niemals zu Ende gegangen. In einem ungewöhnlichen Kapitel erzählt Parry die Lebensgeschichten jener Männer und Frauen, die den 6. Juni 1944 überlebten. Sie sind nicht selten vor ihrer Zeit gestorben oder blieben an Leib und Seele gezeichnet. Andererseits haben sich genau diese Männer, die einst aufeinander schossen, im Alter oft zusammengefunden und angefreundet; Parry lässt sie selbst erklären, wie so etwas möglich ist.
„D-Day: 6.6.44“ ist als Sachbuch ein gelungener Einstieg in ein zentrales Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte. Gestaltung und Inhalt sind ausgelegt, auch den historischen Laien zu locken. Diese Taktik ist völlig legitim, zumal sie hier den Fakten jederzeit Gerechtigkeit widerfahren lässt. Nur selten schießt Parry über das Ziel hinaus. So wirken die Bilder aus der TV-Rekonstruktion des „D-Days“ jederzeit deplatziert zwischen den authentischen Fotos, von denen man sich mehr gewünscht hätte. Auch die Info-Boxen, die in Layout und Schriftbild zeitgenössischen Telegrammen, Tagesbefehlen und anderen Dokumenten nachempfunden wurden, sind Geschmackssache. Das sind freilich nur marginale Einwände gegen ein ansonsten empfehlenswertes Sachbuch.