Philip Roth – Der menschliche Makel (Hörspiel)

Große Literatur, klug und bewegend umgesetzt

Die inzwischen erfolgte Verfilmung des Romans von Philip Roth wird von der Kritik hoch gelobt. Auch die Hörspielfassung des Romans vermittelt die Tragik und Komik des Falles Coleman Silk: Ein Literaturprofessor wird des Rassismus angeklagt und verliert Job, Gattin und Kinder. Parallelen zum Fall des US-Präsidenten Bill Clinton werden sichtbar, als Silk eine Affäre mit einer Putzfrau anfängt und dafür ebenfalls an den Pranger gestellt wird.

„Der menschliche Makel“ ist Band 3 der „Amerikanischen Trilogie“. Band 1 ist „Amerikanisches Idyll“, Band 2 „Mein Mann, der Kommunist“.

Der Autor

Philip Milton Roth (geboren am 19. März 1933 in Newark, New Jersey; gestorben am 22. Mai 2018 in New York City) war ein amerikanischer Schriftsteller. Seine Romane, Erzählungen und Essays wurden vielfach ausgezeichnet und brachten ihm den Ruf eines bedeutenden Romanciers der Gegenwart ein, der in der Öffentlichkeit viele Jahre als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur gehandelt wurde.

Roths Werke sind häufig autobiografisch geprägt. Seine Romanfiguren teilen seine Herkunft aus einer jüdischen Familie der unteren Mittelschicht, seine Geburtsstadt Newark, die späteren Wohnsitze New York und eine Farm in Connecticut sowie die Erfahrungen seiner beiden Ehen. Nachdem bereits Roths Erstling Goodbye, Columbus im Jahr 1959 positive Resonanz bei der Kritik gefunden hatte, wurde sein Roman Portnoy’s Complaint zehn Jahre später zu einem Skandalerfolg. Ab den 1970er Jahren begleitete die Figur Nathan Zuckerman sein Werk durch zwei Trilogien und mehrere Einzelromane. Im Oktober 2012 zog er sich vom Schreiben zurück. (Quelle: Wikipedia)

Mehr Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Philip_Roth.

Die wichtigsten Rollen und ihre Sprecher

Nathan Zuckerman/der Erzähler (im Film: Gary Sinise) wird gesprochen von Jürgen Hentsch. Er spielte u.a. Heinrich, den Bruder von Thomas Mann, in der glanzvollen TV-Serie „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ (2001).

Coleman Silk, 71 (im Film: Anthony Hopkins), wird gesprochen von Michael Mendl. Mendl ist ohne Zweifel einer der profiliertesten Charakterdarsteller des deutschen Films. Er war u.a. in „Vaya con dios“ neben Jungstar Daniel Brühl zu sehen.

Dessen Geliebte Faunia Farley, 34 (im Film: Nicole Kidman), wird gesprochen von Sophie Rois. In der TV-Serie „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ (2001) spielte die „echte Berlinerin“ aus dem österreichsichen Linz die Erika Mann.

Deren geschiedener Mann Les (im Film: Ed Harris) wird gesprochen von Peter Dischauer. Dirschauer arbeitete am Theater (Staatstheater Hannover u.a.), beim Radio und beim Fernsehen.

Von Bedeutung ist zudem die Sprecherin Rosel Zech, laut Booklet in der Rolle der „Mutter“. Ich meine aber, sie in der Rolle der „Ärztin“ Les Farleys gehört zu haben. Rosel Zech war Stammgast in den frühen Filmen von Rainer Werner Werner Fassbinder bis Anfang/Mitter der 70er Jahre.

Handlung

Coleman Silk, 71, ist schon ein Jahrzehnt Professor für klassische Literatur (Latein, griechisch) am Athena College, irgendwo in der amerikanischen Provinz an der Ostküste. Man hält ihn allgemein für einen Weißen und Juden. Man wird umdenken müssen. Denn nach seinem Tod kommen doch einige verblüffende Einzelheiten ans Tageslicht. Sein Freund, der bislang erfolglose Schriftsteller Nathan Zuckerman, ist daran nicht ganz unbeteiligt.

Wie Präsident Bill Clinton wurde auch Silk – noch dazu im gleichen Sommer 1996 – Opfer von Political Correctness und dem sogennanten „Anstand“, der sich offensichtlich allzu leicht zweckentfremden lässt. Silk hatte, wie immer ironisch aufgelegt, die permanente Abwesenheit zweier Studentinnen von seinem Seminar moniert und diese als „dunkle Gestalten“ tituliert. Dummerweise handelte es sich bei den fraglichen lernfaulen Studentinnen tatsächlich um Farbige. Eine rassistische Bemerkung?!

Eine Kollegin, die sich für die Frauenrechte stark machte, ergriff ihre Chance, Silk zu diffamieren. Da sich niemand seiner sogenannten Kollegen für ihn einsetzte, wurde er prompt beurlaubt. Mit Rassismus – selbst unterstelltem – möchte offenbar niemand in Verbindung gebracht werden. Es könnte der Karriere schaden.

Vor Schock über die Entlassung erleidet seine Frau Iris, 64, einen Herzinfarkt. Sie war früher eine politische Aktivistin und in letzter Zeit als Malerin tätig. In Silks Augen ist er an ihrem Tod schuldig, in denen seiner vier Kinder sowieso.

Die Affäre

Eine mögliche spätere Rehabilitierung verbaut sich Silk, indem er eine Sexaffäre mit einer gewöhnlichen Putzfrau anfäng, die er auf dem Postamt getroffen hatte. Faunia Farley ist gerade mal halb so alt wie er, aber mit Hilfe von Viagra sind seiner Potenz offenbar keine Grenzen gesetzt. Er nennt sie seine Voluptas: Wollust. Für seine feministische Kollegin sieht die Affäre aber so aus, als beute er eine Minderbemittelte aus. Sie kann ja nicht mal lesen! Inzwischen ist die Feministin seine Vorgesetzte und sieht keinen Grund, ihn zu rehabilitieren.

Doch schon bald hat Coleman ganz andere Sorgen. Faunia hat zwei Kinder verloren und ist von ihrem Mann Lester geschieden. Sie stammt aus einer reichen Familie, doch als ihr Stiefvater sie vergewaltigen wollte, lief sie davon. In die Arme von Lester, womit sie vom Regen in die Traufe geriet. Denn der psychopathische Vietnamveteran, der im Krieg seinen wichtigsten Freund, Kenny, verlor, ist Alkoholiker und prügelt seine Frau im Suff.

Als er spitzkriegt, dass die geschiedene Faunia nun mit einem uralten Knacker von Professor, und noch dazu einem Juden (!), zusammen ist, fühlt er sich doppelt verraten und nimmt Silk ins Visier…

Auch Faunia verändert sich durch die Beziehung zu Coleman Silk. Sie kennt sein Geheimnis, das er zeitlebens gehütet hat, selbst vor Iris und den Kindern. Sie hat sich immer gewünscht, wie eine Krähe zu sein: unabhängig, frei, aber schlau. Nun hat sie Schmuck von Silk erhalten, einen Opalring. Sie wird etwas anderes, und sie fragt sich, was das sein mag. Sie gehört nicht mehr ganz zur Arbeiterklasse, zur grauen Masse, aber noch lange nicht zur Mittel- oder gar Oberschicht. Und sie fragt sich, wie sie auf diese Weise noch eine Frau sein kann. Schon zweimal seit dem Tod ihrer Kinder hat sie versucht, sich umzubringen. Sie könnte es wieder tun…

Doch es kommt anders, als es alle planen.

Mein Eindruck

In Nathan Zuckermans Darstellung, die wir von Coleman Silk bekommen, erscheint Silk als die Hauptfigur der Ereignisse. Das ist im Hörspiel nicht mehr so. Hier sind die inneren und äußeren Stimmen von Faunia und Lester Farley ebenso stark vertreten und werfen ein ganz anderes Licht auf Zuckermans Präsentation.

Zuckerman hat Colemans Biografie ausgegraben, was sicher nicht einfach war, denn der Professor hütete ja sein Geheimnis. Erst nach seinem Begräbnis – bei dem sich die Honoratioren wieder mal selbstgerecht an die Brust schlugen – wird er von Silks Familie kontaktiert. Und siehe da: Silks Schwester Ernestine hat eine wesentlich dunklere Hautfarbe als Coleman. Und ihre Familie stammt aus einem Schwarzenvorort, East Orange. Nach einer Boxerkarriere und dem Militärdienst im krieg studierte Coleman, verliebte sich in die Skandinavierin Stina. Aber er sie zu seiner Familie mitnahm, verlor er sie. Sie wollte keinen „Nigger“ heiraten. Also erfand er sich selbst neu – und verriet dadurch seine gesamte Familie, belog seine eigenen Kinder und die Gattin Iris. Bis er ein spätes Glück in der Abkehr von der Karriere und in Faunia fand. Was ihm zum Verhängnis wurde.

Allerdings wird er selbst auch belogen: von Faunia. Um sich gegenüber ihm zu behaupten, erzählt sie ihm, sie könne weder lesen noch schreiben. Später findet Zuckerman heraus, dass sie ein Tagebuch führte. Dieses ist jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits im Müll gelandet. So erfahren wir ihren Standpunkt nur bruchstückhaft und in Impressionen, vereinzelten Szenen mit Silk. War es also nur sexuelle Anziehungskraft, das die beiden aneinanderkettete?

Der Fall Silk hat natürlich eine politische Parallele: die Clinton-Affäre. Faunia entspricht Monica Lewinsky (die klugerweise nie einen Pieps sagte). Clinton Aussagen vor dem Kongress-oder Senatsausschuss – „I never had sex with that woman“ – werden im Hintergrund eingespielt. Ebenso wie die Anklagen und zudringlichen Fragen der anderen Seite.

Ein explosiveres Gebräu an Vorurteilen kann man sich kaum vorstellen: Silk ist ein Opfer des permanenten Rassismus der Amerikaner und erfindet sich neu, wodurch er zum Außenseiter in seiner Familie wird. Perverserweise klagt man ihn nun, 1996, selbst des Rassismus an. Die Feministin verdächtigt ihn zudem des Sexismus, weil er Faunia vögelt. Diese wiederum ist Opfer des Sexismus, den ihr geschiedener Gatte Les ausübt. (Die Gleichberechtigung der Frauen ist bis heute nicht von der US-Verfassung garantiert.) Und ihr Lover Coleman Silk wird Opfer von Les‘ latentem Antisemitismus.

Kann der Gerechtigkeit Genüge getan werden? Keineswegs. Auf einem Spaziergang in die Gegend von Lester Farley stößt er auf den Psychopathen, wie dieser ganz friedlich mitten auf einem zugefrorenen See bei Eisfischen. Lester weiß über Zuckerman Bescheid, den Möchtegernschreiberling, der an einem Buch über Silk schreibt. Farley hätte zu gern ein Belegexemplar. Zuckerman erkennt, dass er wohl besser bald wegzieht, sobald das Buch erscheinen soll. Es ist eine symbolische Szene, die einen frösteln lässt. Genau wie Coleman Silks Schicksal.

Die Sprecher/Inszenierung

Die Inszenierung beginnt in semidokumentarischem Stil: mit realen Zitaten aus der Clinton-Untersuchung, überlagert von der Selbsterzählung Coleman Silks. Zuckerman schaltet sich ein, beleuchtet die Biografie, schließlich wird auch Lester Farleys Geisteszustand untersucht. Am lebhafttesten blieb mir im Gedächtnis, wie Faunia so traurig sinniert, wie sie so gerne eine Krähe wäre. Und wie sie verfolgt, dass ihre Lieblingskrähe, Prince, von seinen Artgenossen nicht mehr akzeptiert wird: Er ist „handzahm“ geworden – genau wie sie, Faunia.

Ein „Faun“ ist übrigens ein „lüsterner Mensch“, wie der DUDEN erklärt. Was natürlich zu Silks Kosenamen „Voluptas“, Wollust, für Faunia passt.

Die Musik von Gerd Bessler fand ich sehr passend. Oftmals hört man eine Bluesgitarre, mit der ungewöhnlichen Begleitung durch eine Klarinette.

Unterm Strich

„Der menschliche Makel“ weist Elemente sowohl von Tragödie als auch Komödie auf, doch die Ironie, wenn sie mal auftritt, hat meist eine dunkle Seite. Im hellen Zentrum versuchen sich zwei Menschen auf einer Insel privaten Glücks selbst zu retten. Doch wie Zuckermans Recherchen und Lesters Entwicklung zeigen, ist auch dies nur eine Illusion. Faunia weiß dies und belügt ihren gebildeten Liebhaber. Leider muss auch sie den Preis zahlen.

Die soziopolitische Dimension des Falles Silk ist beachtlich und dazu angetan, den Zuhörer zum kritischen Nachdenken anzuregen. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, der Waffenfetischismus, die Karrieregeilheit der akademischen Opportunisten – alles spielt zusammen und fordert seine Opfer.

Entgegen allen Erwartungen ist das geschickt aufgebaute Hörspiel (Bearbeitung: Dramaturgin Valerie Stiegele, Regie: Norbert Schaeffer) durchaus in der Lage, diese Aspekte zur Sprache zu bringen und dennoch die Beteiligten als Akteure und Opfer zugleich lebendig werden zu lassen. Natürlich gelingt dies nicht in dem Umfang, wie es dem Buch gelingt. Die erfahrenen Sprecher, allen voran der kräftig auftretende Michael Mendl als Coleman Silk, tun ihr Bestes, die Musik liefert einen emotionalen Kontext.

Das Hörspiel sollte man aber, um es wirklich in allen Bezügen und Querverbindungen verstehen zu können, mehrmals anhören – und dazu gewährt die CD ja die beste Gelegenheit. Dies ist sicher kein Fall für Freunde von Action, Thriller oder Fantasy. Dies ist große Literatur.

CD: 145 Minuten auf 2 CDs
Originaltitel: The human stain, 2000
ISBN-13: 978-3899403831

www.hoerverlag.de

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