Scott Westerfeld – Behemoth. Im Labyrinth der Macht (Leviathan 2)

Geheime Missionen und eine Revolution am Bosporus

August 1914. Der österreichische Thronfolger und seine Frau werden von Serben ermordet, die Alte Welt droht aufgrund der Bündnisse in den Weltkrieg zu stürzen. Prinz Aleksandar wird halb entführt, halb vor deutschen Verfolgern gerettet, entkommt zunächst in die neutrale Schweiz.

Band 1: Leviathan:

Plötzlich landet dort das britische Luftlenkschiff „Leviathan“, eine walförmige Mischung aus Tier und Maschine, und Aleksandar lernt die junge Deryn kennen, die sich als Junge verkleidet in die britische Luftmarine geschmuggelt hat, um hier ihren Lebenstraum vom Fliegen zu verwirklichen. Können sie gemeinsam den Verfolgern entgehen und die drohende Kriegskatastrophe abwenden?

Band 2: Behemoth

Die geheime Mission der Leviathan geht weiter! Nach einer wilden Verfolgungsjagd landet das Luftschiff »Leviathan« in Konstantinopel. Doch dort erwartet die Crew eine böse Überraschung: Es gelingt ihnen zwar, dem Sultan ihr Geschenk zu überbringen – doch der hat sich bereits anderweitig verbündet, und ihre Friedensmission endet in einem völligen Desaster!

Allein und von Feinden gejagt, finden sich Alek und Deryn im vor Unruhe brodelnden Konstantinopel wieder. Doch sie haben einen außergewöhnlichen Trumpf in der Hand: Nur sie wissen von den Plänen der Briten, das sagenhafte Meer-Ungeheuer »Behemoth« ins Osmanische Reich zu leiten … Umgeben von Verrätern und überraschenden neuen Verbündeten muss Alek zum ersten Mal seine eigenen Entscheidungen treffen.

Der Autor

Scott Westerfeld wurde in Texas geboren. Er ist Komponist, Software-Designer und Autor zahlreicher Science-Fiction- und Jugendbücher, u. a. der international erfolgreichen Bücher „Ugly“, „Pretty“, „Special“ und „Extra“. Mit seiner Frau, der Autorin Justine Larbalestier (Cansino-Trilogie), lebt er in New York City und Sydney, Australien. Von ihm erschienen bereits die Romane „Weltensturm“ (Heyne) und „Cool Hunter“ (CBJ) auf Deutsch.

1) Leviathan – Die geheime Mission;
2) Behemoth – Im Labyrinth der Macht;
3) Goliath – Die Stunde der Wahrheit.

Handlung

Der zweite Band führt die Geschichte aus „Leviathan“ nahtlos weiter. Prinz Aleksandar ist der vom Papst designierte Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie – und ein Mechanist. Seine Techniker haben das lebende Luftschiff „Leviathan“, das die britischen Darwinisten nach Konstantinopel, pardon: Istanbul, schicken, mit richtigen Motoren versehen. Nun kommt das Luftgefährt, das einem modifizierten Wal gleicht, richtig gut voran. Nach ihrer Rettung vor den deutschen Verfolgern revanchieren sich die Österreicher unter Führung von Graf Volger, indem sie Borddienst leisten.

Alek ist der beste Freund von Deryn, einem britischen Mädchen der Fliegertruppe, das sich als Junge verkleidet hat: Dylan Sharp. Nach anfänglichen Reibereien helfen sich die beiden gegenseitig aus der Patsche und dienen der mysteriösen Wissenschaftlerin Dr. Bishop. Diese scheint in einer Art Friedensmission unterwegs zu sein, aber was sich in den Eiern befindet, die sie fortwährend beheizen lässt, verrät sie keiner Menschenseele.

Eine erste Bewährungsprobe muss die verstärkte Mannschaft des „Leviathan“ bestehen, als sie zwei deutsche Panzerschiffe, die „Breslau“ und die „Goeben“ mit Bomben angreifen und versenken will. Das Spiel geht glimpflich aus, denn nur Prinz Alek und seine Mechanisten wissen, welch furchtbare Waffe die „Goeben“ aufzubieten hat: eine Tesla-Kanone! Ein „Schuss“ aus dieser Spindel und die Blitze würden die mit Wasserstoff gefüllte Leviathan ins Jenseits blasen. In einer nicht ganz ordnungsgemäßen Kehrtwendung steuern die Österreicher den „Leviathan“ aus der Gefahrenzone. Das war knapp.

Istanbul

Das Luftschiff landet auf einem riesigen Landfeld westlich der Millionenstadt. Die Türken des Sultans sind zwar die besten Freunde der Deutschen, aber offiziell immer noch neutral. Überall wimmelt es von Technologien der Mechanisten, staunt Deryn aus ihrem Ausguck. Können die britischen Darwinisten hier überhaupt etwas ausrichten?

Schon der erste Ausflug zu britischen Botschaft, der durch die gestopft vollen Straßen führt, gerät zum Desaster, das nur dank Deryns beherztem Eingreifen gemeistert werden kann. Offenbar gibt es türkische Rebellen, die Jungen Türken, die den Sultan stürzen und sich an den Briten dafür rächen wollen, dass sie ein in Großbritannien gebautes Luftschiff, die „Osman“, beschlagnahmt haben. Admiralitätschef Churchill würde den Begriff „geliehen“ vorziehen, aber die Türken sehen das anders.

Leichter, aber folgenreicher geht der zweite Ausflug vonstatten. Wieder darf Deryn Dr. Bishop begleiten, die nun ihr Geheimnis lüftet: Sie hat ganz spezielle Eier mitgebracht, aber was sich darin befindet, will sie nicht verraten. Die riesige, dampfbetriebene Roboter-Maschine, die die Deutschen für den Sultan hinter seinem Thron aufgebaut haben, macht dem Ei schnell den Garaus, indem sie es mit einer stählernen Hand zerquetscht.

Dieses Eigelb bedeutet wohl das Ende der britschen Friedensmission, denn selbstverständlich findet es auch der Herrscher nicht witzig, dass ihm die Briten sein Luftschiff, dessen Finanzierung sich das Volk offenbar vom Munde abgespart hat, zurückhalten. (Dieses Verhalten hat übrigens ein realhistorisches Vorbild anno 1914, wie der Autor im Nachwort erklärt.)

Bei ihrer Rückkehr erwartet Deryn und Dr. Bishop eine Überraschung. Prinz Aleksandar hat die Gunst der Stunde genutzt und sich aus dem Staub gemacht. Zahlreiche türkische Bewacher haben ihn und seine zwei Begleiter nicht aufhalten können, und diese Bewacher begnügen sich nun mit Graf Volger, der sie mit rätselhäften, spöttischen Antworten traktiert.

Zum ersten Mal in seinem Leben muss Alek allein Entscheidungen treffen, das Kommando übernehmen und seinen Mann stehen. Nun, das Gold und das päpstliche Schreiben, die Graf Volger ihm anvertraut hat, sollten ihm eigentlich gut zustatten kommen. Allerdings war es noch nie ungefährlich, das Zünglein an der Waage zu spielen, wenn es um Krieg oder Frieden auf einem ganzen Kontinent geht.

Dr. Darwin-Bishop ist jedenfalls neugierig, wie weit Alek mit seinem neuen Gefährten kommen wird. Denn er hat eines der Eier tatsächlich „ausgebrütet“ (wie sie es längst geplant hat), und daraus ist ein neue gezüchtetes „Äffchen“ geschlüpft, das über ein paar bemerkenswerte Eigenschaften verfügt …

Mein Eindruck

Prinz Aleksandar und Deryn Sharp mischen den Bosporus auf und starten eine Revolution. Auf diese griffige könnte man die Handlung bringen – und würde sich doch den ganzen Spaß an den zahlreichen Details hinsichtlich Action, Romantik und Erfindungen nehmen. Deshalb der Reihe nach, besonders mit Rücksicht auf Neulinge, die Band 1 nicht gelesen haben.

Alternativwelt

Der Autor hat für seine LEVIATHAN-Trilogie eine neue „Alte Welt“ (Donald Rumsfeld) entworfen, wie sie für das Genre der Steampunk-Science-Fiction typisch ist. Die Vorlage ist die der edwardianischen Zeit des Jahres 1914, die noch viel Ähnlichkeit mit dem Viktorianismus hat. Doch es gibt ein paar signifikante Abweichungen von dem uns bekannten Geschichtsverlauf. So wurde Charles Darwin, dessen Evolutionslehre heute zu Recht den Kern der Biologie, der Kunde vom Leben, ausmacht, keineswegs in Grund und Boden verdammt, sondern vielmehr als Vorbild genommen. Unglaublich – auch in den Konsequenzen.

Darwinisten

Denn Darwin entdeckte nicht nur die Prinzipien der natürlichen Selektion und der fortwährenden Mutation, sondern – und das ist der entscheidende Unterschied – die „Lebensketten“, also das, was wir heute als DNS (Desoxyribonukleinsäure) bezeichnen: das Erbgut. (Wie ihm das gelang, wird nie erklärt.) Die Folgen sind weitreichend. Jetzt kann man im Vereinigten Königreich und dem angeschlossenen Empire, aber auch in Russland alle möglichen Arten von Tieren von kreuzen und, was noch wichtiger ist, die Tiere mit Intelligenz versehen.

So gibt es an Bord der „Leviathan“ (schon der Name ist pure Ironie, war doch dort das biblische Vorbild ein Ungeheuer) Boteneidechsen, die menschliche Stimmen wie ein Rekorder aufzeichnen und beim Adressen und auf Abruf wiedergeben. So eine Stimme aus dem Nichts kann ganz schön erschreckend sein, muss Alek ein ums andere Mal erfahren. Fledermäuse lassen sich mit Pfeilspitzen versehen und Nachtfalken können ein Schleppnetz ziehen – tödlich für Flugzeugmotoren.

Allein schon die „Leviathan“ selbst ist ein Wunder an Ökosystem: ein geschlossener Kreislauf aus Energiezufuhr (dafür sind Bienen zuständig), Wasserstofferzeugung (was Auftrieb erzeugt) und Fortbewegung mittels Außenbord-Zilien (Wimpernhärchen) und -Motoren. Zweiköpfige, hundeähnliche, aber sechsbeinige Tierchen schnuppern nach austretendem Wasserstoff. Weil offenes Feuer an Bord selbstverständlich strengstens verboten ist (Wasserstoff ist EXPLOSIV, siehe die „Hindenburg“), wird jegliches Licht von Glüh-Würmchen erzeugt – nicht von Johanniskäfern, sondern von echten Würmern. Alek gehen die Mechanistenaugen über: das reinste Horrorkabinett ist dieses Schiff.

Mechanisten

Auch die Mechanisten, deren Seite Alek vertritt, sind nicht gerade das, was wir erwarten. Sonst käme ja Langeweile auf. So lacht man in ihrem Lager nur über die Schnapsidee, Maschinen des Militärs wie jene Raupenschlepper von BAUERN mit Ketten zu versehen – pah! Diese Landpanzer gehen wie neueste Entwicklungen des 21. Jahrhunderts auf gelenkigen Beinen. Sie mögen zwar nicht so rasend schnell sein wie ein T-34 aus dem 2. Weltkrieg, doch dafür sind sie viel größer und können so entsprechende Späher auf Motorrädern transportieren.

In Band 2 zeigen die mechanistischen Deutschen, was sie erfunden haben – mithilfe eines gewissen Nikola Tesla, seines Zeichens Erfinder, wie wir in Band 3 erfahren. Erwähnt wurde bereits die Tesla-Kanone, ein Blitze schleudernder Akkumulator von Elektrizität. Diese befindet sich an Bord des Schlachtschiffs „Goeben“, aber es wird noch eine zweite gebaut. Sie sieht aus wie ein Funkturm, wie Eddie Malone, ein amerikanischer Reporter, Alek erzählt. Eddie dient als Mittler zwischen den beiden getrennten Handlungssträngen um Alek und Deryn.

Der Prinz kombiniert richtig, und Kadett Deryn bzw. Dylan Sharp zählt ebenfalls zwei und zwei zusammen: Sobald dieser „Funkturm“ zusammengebaut und betriebsbereit ist, haben britische Luftschiffe keine Chance. Aber es bleibt nur noch wenig Zeit, diese Gefahr zu beseitigen. Hier findet das grandiose Finale der Handlung von Band 2 statt.

Die Deutschen haben schon längst Telegrafie erfunden, aber keinen Funk – diese Erfindung ist Enrico Marconi vorbehalten. Dafür können sie aber eine Art dampfbetriebenen Roboter bauen, und ein Exemplar sitzt dem Sultan direkt im Nacken. Zusammengenommen erscheinen die Errungenschaften der Mechanisten zwar recht nützlich, aber sie werden allesamt dazu verwendet, um Menschen zu unterdrücken, zu beherrschen und zu töten. Deshalb haben die Briten sämtliche Sympathien auf ihrer Seite, als sie ihre Geheimwaffe einsetzen: den titelgebenden Behemoth. Um die Spannung nicht zu zerstören, darf ich hierüber nichts verraten.

Unwahrscheinliche Freundschaft

Doch weder Darwinisten noch Mechanisten stehen im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn die beiden fast schön religiös verfeindeten Lager – Alek findet intelligente Tiere „gottlos“ – dafür sorgen, dass die zentrale Beziehung zwischen Alek und Deryn alias Dylan Sharp nicht ohne Komplikationen verläuft. Deryn hat sich mittlerweile sehr in Alek, den „adeligen Dummkopf“, verliebt. War schon der Auftakt ihrer Beziehung von köstlicher Drastik und Dramatik, so wird nun das Versteckspiel um Deryns wahre Geschlechtszugehörigkeit geradezu eine Posse.

Das geht so weit, dass sich Lilit, die burschikose Tochter des Anführers der Revolutionäre, in „Dylan“ verliebt und „ihn“ zum Abschied auf den Mund küsst. Deryn weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Na, wenigstens schöpft Alek keinen Verdacht; Graf Volger aber schon, und er schreckt nicht davor zurück, Deryn mit der Drohung, ihre wahre Identität zu enthüllen, zu erpressen. Die Wahrheit würde aber nur zu ihrer Verbannung aus der Britischen Luftwaffe führen, weiß Deryn nur zu genau. Und dann hätte sie als Bürgerliche wohl auch keine Chance mehr auf Aleks Zuneigung, die wirklich innig ist – wie zu einem guten Kameraden. Seufz! Dass das Leben immer so kompliziert sein muss!

Die Geheimniskrämerei von Kronprinz Alek um seine wahre Identität und Stellung findet durch Eddie Malones Enthüllungen in Band 2 ein Ende. Er ist aller Welt als Prinz von Hohenberg bekannt, Sohn des ermordeten österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Doch solange sein Großvater Kaiser Franz Joseph I. noch lebt, kann Aleksandar nicht auf den Thron klettern (obwohl ihm ein päpstlicher Brief genau dies erlubt).

Wenigstens finden die beiden Freunde heraus, dass sie ein ähnliches Schicksal zu erdulden haben: Sie haben jeweils ihren Vater (und in Aleks Fall auch die Mutter) verloren. Es gibt in Band 2 mehrere sehr schönen Momente, in dem Alek im Gefühlsüberschwang der Trauer Deryn, den Kadetten umarmt, und es ihr auf einmal ganz warm ums Herz wird. Kein Wunder, dass sie ihn später mit Klauen und Zähnen gegen alle Welt verteidigt und es sie immer wieder zu ihm zurückzieht. Er ist ihr Seelengefährte, ganz einfach.

Geheime Missionen

In Band 2 wird uns endlich enthüllt, welche geheime Mission die „Leviathan“ verfolgt: Mrs. Mrs Barlow musste ja die Antwort kennen, denn sie wurde ja in aller Eile zu diesem Zweck an Bord genommen. In ihrer mysterösen Kiste haben sich 14 Eier befunden, hübsch gewärmt im Stroh. Doch zehn davon fallen der Notlandung und der Kälte zum Opfer. Mrs Barlow, die Enkelin des großen Darwin, spannt Deryn und Alek als Eierwächter ein. Drei Eier überleben, doch eines zerbricht der Automat der Deutschen im Sultanspalast. Eines dieser Loris entkommt mit Alek, bleibt noch eines an Bord des Luftschiffs.

Dieser „Perspikuitive Loris“ ist die vielleicht witzigste und hinterlistigste Erfindung des Autors. Perspikuitiv bedeutet soviel wie „scharfsinnig“ und „weitsichtig“, aber in der Praxis erweist sich das Verhalten der sprechenden Kreaturen als wenig spektakulär. Sie lernen sehr Sprachen schnell, scheinen nicht nur Gefühle, sondern auch Gedanken lesen zu können, und machen Entdeckungen, die den anderen häufig entgehen. Sie sind also ideale Begleiter, sozusagen „Personal Biological Assistants“ (PBA). Wer weiß, wozu sie noch fähig sind? Band 3 wird mehr darüber enthüllen.

Eine zweite geheime Mission mehr militärischen Charakters führt Deryn an den Dardanellen nahe Gallipoli aus: Es ist die Zufahrt zum Marmara-Meer und dem anschließenden Bosporus. Hier haben die Deutschen Seenetze und Minen zur Abwehr von Militär-Kraken istalliert. Damit der Behemoth jedoch diese Meerenge passieren kann, muss das Stahlnetz beseitigt werden. Dies, so Dr. Barlow, soll mittels einer speziell genmanipulierten Krebsart gelingen. Die Krebse sondern eine Säure ab, die Metall zersetzt. Leider ist die Ausführung viel schwieriger Theorie, und Deryn ist in ihrem Kapitän-Nemo-mäßigen Taucheranzug bald froh, nicht an Land zu sein…

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Andreas Helweg, der schon fast die komplette Saga um das „Schwert der Wahrheit“ übertragen hat, fand ich sehr gelungen. Gerade die freche Ausdrucksweise der gebürtigen Schottin Deryn bereitet immer wieder durch drastische Ausdrücke. Einer ihrer Lieblingsflüche lautet „Brüllende Spinnen!“, und auch sonst ist sie sehr einfallsreich. Aber was ist „Killefit“?

Außerdem ist der erfreulicherweise fast völlig frei von irgendwelchen Druckfehlern.
Folgende habe ich notiert:
S. 97: „Unbekommen“ sollte korrekt „umgekommen“ heißen.
S. 334: „doch hier [im] Zug fühlte man sich…“ Das Wörtchen „im“ fehlt.
S. 394: „Das war brillant gewesen.“ Gemeint ist aber „genial“.
S. 305: Scheinbarer Verweis auf Terry Pratchetts Scheibenwelt, die auf Elefanten und einer Riesenschildkröte ruht. Das ist aber eine alte indische Vorstellung.

Die Illustrationen

Mit zum großen Vergnügen an der Lektüre dieses Buches tragen die überraschend zahlreichen, klein- und großformatigen Schwarzweißzeichnungen Keith Thompsons bei. Er arbeitet international als freier Grafiker, illustriert Bücher und Zeitschriften, arbeitet aber auch für Fernsehen, Film und Videospiele.

Seiner Handhabung der Perspektive und der Bewegungsdynamik sieht man diese Praxis deutlich an. Alle seine ganzseitige Zeichnungen erfassen eine komplexe Szene in ihrer Bewegung. Kleinere Zeichnungen heben entsprechende Figuren oder Wesen hervor. Thompsons Beitrag hebt dieses Buch in eine höhere Qualitätsklasse.

Unterm Strich

Dieser zweite Band der LEVIATHAN-Trilogie ist sogar noch turbulenter und abwechslungsreicher als der Auftaktband. Daher habe ich die rund 500 Seiten in nur zwei, drei Tagen bewältigt. Ich habe mich selten so gut unterhalten gefühlt und verschlang rund 200 Seiten in einer Sitzung.

Die zahlreichen Illustrationen – manche davon ganz- oder doppelseitig – tragen dazu bei, dass die Seiten nur so vorüberfliegen. So stelle ich mir ein gutes Jugendbuch vor, und das aufwendig gestaltete Titelbild des Schutzumschlags erhöht den Sammlerwert nur noch. Das einzige, was noch zur Perfektion fehlt, ist ein Lesebändchen. Da der Neupreis hoch ist und es nach vier Jahren immer noch keine Taschenbuchausgabe gibt, dürfte der Sammelwert dieses Buches anhaltend hoch bleiben – und somit leider auch der Gebrauchtpreis.

Von der Liebesgeschichte zwischen Deryn und Alek sind mittlerweile die Grundzüge zu erkennen. Deryn würde das zwar nie zugeben, denn Alek ist ein „Dummkopf“, der einen tüchtigen Beistand braucht. Tja, und Alek hat immer noch nicht gemerkt, dass sie ein Mädchen ist – sein Loris aber schon. Der Loris lacht immer, wenn er den Namen „MR Sharp“ ausspricht.

Steampunk für Jugendliche

Immerhin setzt der Autor seinen gewaltigen Kraftakt bravourös fort, nämlich den Entwurf eines alternativen Geschichtsverlaufs, in dem Darwin gewonnen hat – rechtzeitig zum 150. Jahrestag des Erscheinens seines epochalen Buches „Die Entstehung der Arten“. Da dieser Roman dem populären Steampunk-Genre angehört, darf der gewitzte SF-Leser mit allerlei einfallsreichen, unheimlichen und fremdartigen Phänomenen rechnen.

Zum Glück für das jugendliche Publikum bleibt aber alles Neue ziemlich im Rahmen des Üblichen, und häufig gewinnt der Humor. Wer würde schon auf die Idee kommen, Bomben mit Pfeffer und Chilipulver zu füllen statt mit Sprengstoff? Das Buch eignet sich ohne Weiteres auch für Zwölfjährige geeignet. Über die Abweichungen von der verbürgten Historie liefert der Autor in seinem Nachwort ausführliche Erklärungen. Er hält sich beispielsweise in der Sache der deutschen Panzerschiffe erstaunlich eng an die Fakten.

Offene Frage

Nur eine Sache bereitete mir Kopfzerbrechen: Warum sollten die Briten überhaupt ein national gültiges Programm für Biogenetik entwickelt haben? Darwin hin oder her: Die Briten wurden ja gerade wegen ihrer industriellen Revolution zur Weltmacht, also durch Metallindustrie und Kohlebergbau. Was ist davon mittlerweile übrig? Rein gar nichts. Deshalb dürfen wir vielleicht mit allen Tolkien-Fans und Baum-Umarmern hoffen, dass Merry Old England immer noch ein „green and pleasant land“ (William Blake, „Jerusalem“) und nicht ein Opfer der „dark satanic mills“ (dito) geworden ist. Auch wenn es zu schön ist, um wahr zu sein.

Wie gesagt, machen die Illustrationen von Keith Thompson ein Gutteil des Zusatzvergnügens aus, das man mit dem Buch hat. Zusammen mit der aufwendigen Aufmachung – Landkarten auf dem Innenumschlag, Goldlettern auf dem Umschlag – wirkt das Buch richtig wertvoll: ein Sammlerobjekt, wie gesagt.

Gebundene Ausgabe: 512 Seiten mit rund 100 Ilustrationen von Keith Thompson
Originaltitel: Behemoth (2010)
Aus dem US-Englischen von Andreas Helweg
ISBN-13: 978-3570139936
www.randomhouse.de/cbj

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)