_Tabak und Aristoteles_
… zwei entscheidende Faktoren im Leben von R. Scott Bakker, der 1967 das Licht der Welt erblickte, sich als Tabakpflanzer bei seinem Vater verdingte, dann Philosophie studierte (und noch immer studiert), um 2003 schließlich mit „Schattenfall“ den Auftakt zu einer Fantasy-Trilogie zu schreiben, die an Figuren- und Detailtiefe ihresgleichen sucht.
Teil zwei, „The Warrior Prophet“ ist über dem großen Teich schon veröffentlicht, während Teil drei, „The Thousendfold Thought“, nur noch wenige Wochen auf seine Veröffentlichung warten muss. Hoffnung für den deutschen Leser also, dass er nach Lektüre von „Schattenfall“ relativ rasch in den Genuss der Nachfolgewerke gelangen könnte.
_Eärwa und der Heilige Krieg._
Eärwa, jenes Land, auf dem sich der „Krieg der Propheten“ abspielt, ist Heimat vieler unterschiedlicher Kulturen, Völker und Religionsgruppen. Vor vielen Jahren gab es die so genannte „erste Apokalypse“, in welcher der „Nicht-Gott“ die Menschheit versklavt hatte. Aber der Nicht-Gott wurde besiegt, ebenso seine Diener, die „Rathgeber“, und so haben sich im Laufe der Jahre die übrigen Religionen gegeneinander gewandt: Die strenggläubigen Fanim verachten die Inrithi und Letztere wiederum verachten die Orden der Hexenkunst. Die Inrithi jedenfalls sind die am weitesten verbreitete Glaubensgruppe in Eärwa, und in ihrem Glaubenszentrum, den Tausend Tempeln, scheint sich etwas zusammenzubrauen:
Maithanet, ein völlig Unbekannter, taucht wie aus dem Nichts auf und wird neuer Vorsteher der Tausend Tempel, um den sich die Inrithi-Anhänger mit beängstigendem Fanatismus scharen. Nicht lange, und Maithanet ruft den „Heiligen Krieg“ aus, dem sich jeder Gläubige anzuschließen habe. Gegen wen? Das lässt der heilige Mann vorerst noch offen und wartet, bis sich halb Eärwa bei den Tausend Tempeln eingefunden hat, um seiner Kriegserklärung zu lauschen.
_Ein Stich ins Frömmlernest._
Der Hexerorden der Mandati jedenfalls wird von der drohenden Kriegserklärung ordentlich aufgerüttelt. Immerhin gilt gerade Zauberei bei den Inrithi als verpöntes Heidentum, was läge also offener auf der Hand als ein Heiliger Krieg, der die Hexerorden von der Landkarte fegen soll? Achamian allerdings hat andere Befürchtungen.
Die Mandati tragen die Bürde auf ihren Schultern, die letzte Schlacht gegen den Nicht-Gott jede Nacht aufs Neue zu träumen, daher sind die Mandati mittlerweile auch die einzigen, die noch an die drohende „zweite Apokalypse“ glauben. Achamians Träume werden intensiver und er schließt es keinesfalls aus, dass der „Heilige Krieg“ nur das Symptom einer Verschwörung ist, einer Verschwörung der Ratgeber, um den Nicht-Gott wieder auf seinen Thron zu hieven …
Kaiser Ikurei Xerius, Herrscher des Kaiserreichs Nansur, möchte den Heiligen Krieg derweilen zu ganz anderen Zwecken nutzen: Die Feldherren sind alle auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass Kaiser Xerius ihre Truppen mit genügend Proviant versorgt, damit sie überhaupt marschieren können. Xerius denkt aber nicht im Traum daran, diese Unterstützung ohne Gegenleistung zu akzeptieren: Er verlangt, dass die Feldherren aller Beteiligten einen Vertrag unterzeichnen, wonach nach Ende des Heiligen Krieges alle eroberten Gebiete in den Besitz des Kaiserreiches Nansur übergehen. Als zusätzliches Bonbon für den unterschriebenen Vertrag verspricht er ihnen seinen Neffen Conphas zum Heerführer. Conphas hat schon kurz zuvor ein Volk von Heiden ausgelöscht, das als unbesiegbar galt: die Scylvendi. Und wenn das mal kein göttliches Zeichen war …
Cnaiür jedenfalls ist ein solcher Scylvendi, ein wilder, erbarmungsloser Krieger, der die Schlacht des Conphas überlebt hat und sich nun ebenfalls daranmacht, in das Gebiet zu marschieren, wo der Heilige Krieg stattfinden soll. Aus Rache für die Auslöschung seines Volkes, könnte man denken, aber von wegen.
Sein Herz brennt vor Rachsucht, aber diese Rachsucht gilt nur einem einzigen Mann: Anasurimbor Moenghus. Moenghus ist ein Dunyain. Das ist ein Mönchsorden, der sich einzig und allein dem „Logos“ verschrieben hat, also der reinen Vernunft. Während einer Ausbildung unter extremen Bedingungen lösen sich die Dunyain von ihren Bedürfnissen und Schwächen, sie können aus dem Verhalten ihres Gegenübers mühelos seine Gedanken lesen und ihn durch ihr bloßes Auftreten manipulieren.
Und Moenghus hat Cnaiür dereinst manipuliert, ihn dazu gebracht, seinen eigenen Vater zu töten, wofür Cnaiür sich noch immer verachtet. Dann taucht plötzlich Kellhus auf, der Sohn von Moenghus, und behauptet zu wissen, dass sich sein Vater in Shimeh aufhält (die Stadt also, auf die sich auch der Heilige Krieg stürzen soll).
Auch Kellhus ist ein Dunyain und versucht Cnaiür zu manipulieren, beißt sich aber die Zähne an dem Scylvendi aus, weil der durch seine schlechten Erfahrungen mit Moenghus vorbereitet ist. Also behauptet Kellhus, dass er selbst seinen Vater töten möchte, und so machen sie sich zähneknirschend gemeinsam auf den Weg nach Shimeh, jener Stadt, die zum erklärten Ziel des Heiligen Krieges wurde …
_Aspirin Marsch!_
Die obige, mächtig abgespeckte Übersicht verdeutlicht, in welcher Detailtiefe R. Scott Bakker arbeitet, und dementsprechend braucht es schon einige Zeit konzentrierter Beschäftigung mit dem Anhang, um sich in den politischen, religiösen und zeitgeschichtlichen Wirren zurechtzufinden, die Bakker über Eärwa gesponnen hat.
Das alles wird noch erschwert durch eine wirklich undurchsichtige, abstrakte Namensgebung; die Verinnerlichung der ganzen Glaubensgruppen erinnert eher an das Lernen von Vokabeln, als dass man tatsächlich von Lesevergnügen sprechen könnte. Fanim, Cishaurim, Dunyain, Mandati, Sranc, Scharlachspitzen, Scylvendi … Aber damit nicht genug, auch die einzelnen Gruppen haben wiederum Untergruppen mit ähnlich zugänglichen Bezeichnungen: Die Inrithi etwa teilen sich auf in: Nansur, Galeoth, Ainoni, Thunyeri … Zuletzt bleiben die Namen der Figuren, die irgendwie alles dafür tun, dass man sie auch unbedingt miteinander verwechselt (Xerius, Xinemus …).
Auf diesem Gebiet also deutliche Abzüge von meiner Seite; wie viel zugänglicher und „optischer“ ist da George R. R. Martin vorgegangen. Keine Zugenbrechernamen, sondern: Der alte Bär. Der Berg. Der Hund. Die Schöne. Keine Zungenbrecherbezeichnungen für wichtige Bauwerke, sondern: Die Mauer. Winterfell. Die Twins.
_Der Rausch nach dem Kopfschmerz._
Aber wer sich von ein bisschen „Vokabeln-Lernen“ abschrecken lässt, ist selbst schuld, denn wenn man durch die Verhältnisse erst mal durchgestiegen ist, offenbart sich einem im Heiligen Krieg ein Ränkespiel, das seinesgleichen sucht. Zugegeben, der Trip, auf den Bakker einen da mitnimmt, ist ein ziemlich vergeistigter: Überlegungen und Abwägungen überall, innere Monologe zuhauf, Dialoge, die sich über Seiten hin erstrecken, und viel, viel abstraktes Gedankengut.
Wer nun aber wiederum glaubt, dass Bakker nicht optisch schreiben könnte, liegt ebenfalls daneben, im Gegenteil: Wenn er aus den Köpfen seiner Figuren heraussteigt und die „Kamera“ auspackt, hält er auf anschauliche und unverbrauchte Details damit. Die Schlacht der Scylvendi, etwa, hat er wirklich drastisch in Szene gesetzt!
Trotzdem: „Schattenfall“ ist kein Buch für Ungeduldige, taugt keinesfalls zum Abschalten und wird sich standhaft weigern, neben Popcorn-Fantasy (das ist übrigens nicht abschätzig gemeint) der Marke Hohlbein und Co. im Regal zu stehen. Aber wer sich auf den „Krieg der Propheten“ einlässt, wird mit einem Universum belohnt, das lange nachhält.
Der absolute Höhepunkt überhaupt sind die Psychoduelle zwischen Kellhus, dem Dunyain, und Cnaiür, dem Scylvendi. Kellhus versucht Cnaiür auf subtilste Weise zu manipulieren, doch der durchschaut das, hat ein nahezu undurchdringliches Schild errichtet, muss dann aber mitansehen, wie Kellhus eben jeden anderen in ihrer Umgebung formt, als bestünde alles nur aus weichem Wachs …
Definitiv kein Pageturner, aber ein schweres Geschütz mit entsprechender Durchschlagskraft. So sieht also Fantasy aus, die einem Philosophenhirn entsprungen ist – beeindruckend!
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