Vernor Vinge – Die Tiefen der Zeit. SF-Erzählungen

In die schnellen Zonen des Denkens

Dieser 800-Seiten-Schmöker versammelt die besten und wichtigsten Erzählungen von Professor Vernor Vinge, einem der am meisten ausgezeichneten US-Autoren der Zukunftsliteratur. Hier finden sich unter anderem folgende Geschichten:

– Die Geschichte von dem Agenten der Erde, der auf einer Siedlerwelt einen Atomkrieg verhindern muss.
– Die Geschichte von dem Studenten, dessen Haustier sich als Angehöriger einer raumfahrenden Rasse entpuppt und ihn mit zu den Sternen nimmt.
– Die Geschichte vom Programmierer, der mit geklauter Computerzeit den „Herrn der Ringe“ im Rechner verfilmt.
Und viele andere Erzählungen.

Der Autor

Vernor Vinge, 1944 in Wisconsin geboren, gilt als einer der wichtigen SF-Autoren der Gegenwart. Vinge ist außerdem ein bedeutender Wissenschaftler, der insbesonders mit seinen Studien zur Künstlichen Intelligenz für Aufsehen gesorgt hat. Er lehrt als Professor für Mathematik und Informatik an der San Diego State University in Kalifornien.

Ich kenne sein Werk schon seit seinem phänomenalen Roman „Ein Feuer auf der Tiefe“, das in seligen Heyne-SF-Tagen mit einem tollen Cover veröffentlicht wurde – und das es jetzt in einer Neuauflage und mit der Fortsetzung „Eine Tiefe im Himmel“ gibt. Außerdem haben ich „Gestrandet in der Realzeit“ gelesen.

Aber auf die Stories war ich ebenso neugierig, denn ich hatte von einer genialen Vinge-Story mit dem Titel „True Names“ gelesen. Diese ist in dem vorliegenden Buch ebenso enthalten wie ein Kurzroman aus dem gleichen Universum wie „Ein Feuer auf der Tiefe“: „Die Plapperin“.

Die Erzählungen

1) „Bücherwurm, lauf!“ (Bookworm, run!, 1966)

Norman ist ein ganz besonderer Schimpanse. In einem geheimen Projekt des US-Militärs ist sein Gehirn per WLAN an einen Computer angeschlossen worden. In der Folge ist er immer intelligenter und wissender geworden. Doch nun hat Norman, der Science-Fiction-Leser und Möchtegernschriftsteller etwas Verbotenes getan: er hat den Zentralcomputer für das Nationale Datenarchiv angezapft. Endlich kennt er den Fluchtweg, um aus dem unteridischen Tunnelsystem der Militärbasis entkommen zu können. Denn wenn sie herausfinden, über welche Geheiminformationen er verfügt, dann erledigen sie ihn.

Seine Flucht führt über einen Flugzeugabsturz, eine Seeüberquerung und einen LKW-Trip per Anhalter zu dem Hafen Marquette, der unweit der kanadischen Grenze in Wisconsin (dem heimtstaat des Autors) liegt. Dank seiner Geheiminformationen weiß er, dass hier russische Spione ein Versteck haben. In seinen SF-Romanen trickst der Held immer beiden Seiten aus und entkommt dann oder erlangt Vergebung. Weil die Umgebung der Stadt bereits von den Soldaten nach ihm durchkämmt wird, wagt sich Norman, der Superschimpanse, in das Versteck der Roten.

Die russischen Herrschaften interessieren sich durchaus dafür, was Norman, von dem sie erfahren haben, ihnen zu erzählen hat. Doch sie haben keine Zeit mehr, Fragen zu stellen, als bereits Luftlandesoldaten ihr Haus stürmen…

Mein Eindruck

Bereits 1966 nahm also Vinge eine Grundidee des Cyberpunk, der noch ein Dutzend Jahre auf sich warten lassen sollte, vorweg. Aber es war schomals ein alter Traum der Wissenschaft, die kognitiven Barrieren zwischen Mensch und Maschine zu beseitigen, zwischen Gehirn und Computer. Die Frage, um die es jedoch in der Geschichte geht: Resultiert diese Möglichkeit in einem Gott oder einem Teufel? Vinge lässt den Militär Pederson die Antwort geben: Norman ist nur ein Schimpanse und hat es doch fertiggebracht, aus einem Hochsicherheitskomplex auszubrechen, ein Flugzeug zu starten und ein Nest von Spionen ausfindig zu machen, von dem selbst die CIA nichts ahnte. Wozu wäre dann wohl erst ein MENSCH fähig?!

Am Schluss gibt es jedoch eine ironische Wendung. Pedersons Geheimdienst erfährt von den gefangenen Russen, dass auch die Roten ein Geheimprojekt haben, um ein Tier – diesmal ist es ein Hund – mit einem Computer zusammenzuschließen. Der Parteichef habe sich von dem Erfolg des Projekts überzeugt und sich selbst angeschlossen. Will heißen: Das Wettrüsten ist auch in diesem Bereich bereits in vollem Gange. Die Amis müssen mithalten. Und das bedeutet für Norman, dass sie ihm noch eine Chance geben müssen. Vielleicht darf er doch eines Tages seinen SF-Roman schreiben.

Schon hier zeigt Vinge ein Bewusstsein von der „Singularität“, dem bahnbrechenden technischen und kognitiven Durchbruch, der die Situation des Menschen im Universum grundlegend verändert, ähnlich wie die Kopernikanische Wende im 15 Jahrhundert. Heute ist der Begriff der „Singularität“ auf der Agenda zahlreicher Zukunftsschriftsteller, ja es ist sogar der Titel eines von Charles Stross’ Romanen. Am konsequentesten hat Stross die Folgen der Singularität in „Accelerando“ (2005) durchgespielt.

2) Der Mitarbeiter (The Accomplice, 1967)

Der Sicherheitschef von Royce Incorporated kommt zum Geschäftsführer und beschwert sich. Jemand mit hoher Freigabe habe im letzten Jahr Computerzeit im Wert von 4 Millionen Dollar gestohlen. Wow, denkt der Geschäftsführer, vier Millionen ist eine ganze Menge! (War es jedenfalls anno 1966.) Und dass dies jetzt erst rausgefunden wurde. Eine Frage der Buchführung und Buchprüfung, wie immer.

Der Chef will seinen besten Programmierer um Rat fragen, doch das Büro von Abteilungsleiter Howard Prentice ist leider abgeschlossen. Der Sicherheitschef hat natürlich einen Generalschlüssel. Als sie sich darin umsehen, fallen dem Chef zahlreiche Bilder auf, die alle im gleichen Format vorliegen. Merkwürdig. Und sie liegen alle numeriert neben dem Bildleser (= Scanner). Ebenso über 20 Skizzenblöcke. Was hat das zu bedeuten, fragte er sich, als sein Blick auf eine ihm bekannt vorkommende Szene fällt: ein düsteres Tal, in dem sich eine dunkle Burg zwischen kränklich aussehen Blumen erhebt…

Howard Prentice, immerhin schon 95, trifft ein und beantwortet alle Fragen freimütig, als habe er nichts zu verbergen. Ja, er habe die 4 Millionen gebraucht, um einen Film herzustellen. Einen Animationsfilm natürlich. Das bringt den Chef in Rage, aber der Sicherheitschef, begeistert von der Bildqualität, fragt lieber nach, welchen Film: „Na, den „Herrn der Ringe“ nach Tolkiens Buch!“ antwortet Prentice. Am Ende muss der Chef einsehen, dass er jetzt ganz vorne dran im Filmgeschäft ist.

Mein Eindruck

Die Story hat zwar, rückblickend betrachtet, viele Fehler, aber Vinge schrieb sie ja auch, als er erst 22 Jahre alt war, also 1966. Und im Vorwort entschuldigt er sich gleich für allerlei Peinlichkeiten und Versäumnisse. Daher kann man ihm auch nachsehen, dass die Story sowohl kurz als auch geistig ein Fliegengewicht ist.

Worauf es ankommt, ist allerdings die Grundidee: Eines Tages, so die Voraussage, werde es Rechner und Videotechnik geben, die es erlauben, einen Animationsfilm komplett im Rechner zu erstellen. Diese Vorhersage ist vollständig eingetroffen, allerdings mit ein paar Korrekturen. Große kreative Teams sind inzwischen vonnöten, um einen abendfüllenden Animationsfilm zu produzieren. Und die Rechner sind inzwischen soweit, dass sie nicht nur Bilder einscannen, sondern selbst kräftig dabei mithelfen, eine Szene zu entwerfen und zum Leben zu erwecken. Die Firma Pixar hat dabei mit „Ice Age“ und „Cars“ die Nase vor.

3) Wahre Namen (True Names, 1981)

Roger Pollack ist eigentlich ein Romanautor, doch die meiste Zeit verbringt er im interaktiven Cyberspace der Anderen Ebene. Dort ist er Mitglied des wichtigsten Geheimbundes und lebt in einer Fantasywelt nach seinem eigenen Geschmack. Im Cyberspace agiert er nicht unter seinem Wahren Namen, sondern ist als Mr. Slippery bekannt. Die anderen Mitglieder des Geheimbundes heißen ähnlich einfallsreich: Slimey Limey, DON.MAC, Wiley J. Bastard, Robin Hood und Erythrina, die Rote.

Doch es gibt noch ein Mitglied, und zwar ein ziemlich ungewöhnliches. Der „Postbote“ tritt mit ihnen nur über einen langsamen Netzdrucker in Verbindung und lässt sich mit seinen Antworten mitunter Tage und Wochen Zeit. Es macht keinen Spaß, mit ihm zu spielen.

Eines Tages erspäht Roger vor seinem echten Haus einen schwarzen Wagen der Regierung. Diesem entsteigen natürlich Regierungsbeamte. Wahre Schränke von Gorillas und dazwischen eine zierlichere Frau. Sie stellt sich als Virginia vom Sozailministerium vor und lächelt dabei nicht. Sie hat zwei Nachrichten. Zuerst die schlechte: Sie hat seinen Wahren Namen herausgefunden und verfügt nun über die Macht, ihn sozial, wirtschaftlich und wenn er nicht brav tut, was sie sagt, auch körperlich zu vernichten. Die zweite Nachricht ist nicht gut, sondern noch schlechter: Sie will, dass er für sie den Vandalen namens „Postbote“ ausfindig macht und dessen manipulative und wirtschaftliche schädigende Aktivitäten beendet. Für immer. Gehorcht Roger nicht, dann… siehe erste Nachricht.

Notgedrungen muss Roger Virginias „Ersuchen“ um eine besondere Art von Amtshilfe nachkommen. Doch niemand in seinem Geheimbund hat direkten Kontakt zum Postboten. Doch immerhin haben sich Wiley J und DON.MAC auf die Seite des Postboten geschlagen und sagen, sie verfolgen seine Ziele. In einem Vieraugengespräch mit Erythrina erfährt Roger, dass sich der Postbote inzwischen Venzuela einverleibt hat und wahrscheinlich bereits die Netzwerke und Datenbank des US-Militärs unterwandert hat, die fortschrittlichsten Systeme des Planeten. Roger schließt ein Bündnis mit Erythrina. Sie vermutet, der Postbote sei ein Außerirdischer.

Was sie beide brauchen, um die Suche schnell erledigen zu können, bevor der Postbote sie aufspüren und bekämpfen kann, ist Rechenkapazität – immense Mengen davon. Die hat aber nur die Regierung. Er muss Virginia fragen, und Virginia muss einen Teufelspakt mit ihm eingehen. Danach kann’s losgehen. Schon bald merkt Roger, dass es jemand auf ihn und Ery abgesehen hat. Der Kampf wird zu einem Krieg, zu einer titanischen Auseinandersetzung, die die EDV ganzer Wirtschaftssysteme lahmlegt und alle rechnergestützten Systeme der Welt ins Chaos zu stürzen droht. Doch wer verbirgt sich hinter dem „Postboten“ wirklich?

Mein Eindruck

Bereits 1981 geschrieben, liest sich der Kurzroman wie ein Cyberpunkroman von William Gibson. Die Klimax ist genauso spannend herbeigeführt wie in dessen „Chrom brennt“ und „Neuromancer“, doch das Ende ist weitaus menschlich anrührender, ähnlich wie in Gibsons „Idoru“ oder „Virtuelles Licht“. Eigentlich müsste ich nicht mehr erklären, will ich nicht die Lösung verraten. Aber es ist schon interessant zu sehen, wie die Abhängigkeit der Welt von den Computern und den Netzwerken schon 1981 als lebensbedrohlich vorhergesehen werden konnte. „Wahre Namen“ ist ohne Zweifel ein Highlight dieser Sammlung.

4) Der Lehrling des fahrenden Händlers (mit Joan D. Vinge, The Peddler’s Apprentice, 1975)

Graf Fürnemham von Füffen erhält die Nachricht, dass sich die Reiche des Westens und des Südens gegen ihn verbündet hätten, um ihn anzugreifen. Er sehnt sich nach jenem hilfreichen Herrn Zacker zurück und erinnert sich daran, wie er den Zauberer vor 30 Jahren kennenlernte.

Wim Fürnemham ist Anführer einer Bande Räuber und lebt in Finsterwald im Hochland, als eines Tages ein fahrender Händler in sein Dorf kommt. Der stämmige Mann mit den scharfen Augen nennt sich Zagir Katschatschurianz und bietet Messer, Nadeln und dergleichen an. Wim schickt ein weibliches Mitglied seiner Bande zu dem Händler und lädt ihn auf ein Bier ein. Er ist erfreut, als „Herr Zacker“ fragt, ob sie ihm nicht als leibwache auf dem Weg ins Flachland dienen wollen. Angesichts der Schätze, die in Herrn Zackers Wagen nur darauf warten, von ihrem jetzigen Besitzer befreit zu werden, schlägt Wim gerne ein.

Nach Erhalt eines Vorschusses wandern die sieben Männer mit dem hohen Wagen bis hinab in den Wald der Großvaterbäume und machen Rast. Wim ist inzwischen sehr neugierig auf die Zauberkunst des Händlers, und zuvorkommend zeigt dieser ihm zwei magische Instrumente, mit denen er nachts seinen Weg erleuchtet und die Sterne beobachten kann. Von plötzlicher Furcht gepackt, eilt Wim zu seinen leuten zurück und will den Überfall abblasen. Da wird sein gesprächspartner unvermittelt von einem Armbrustbolzen niedergestreckt. Sofort versteckt sich Wim, während alle seine Gefährten sterben. Es sind die Bork-Brüder, ihre geschworenen Todfeinde! Schließlich wird auch er selbst aus seinem Versteckt gezerrt und von Axel Bork, dem Anführer, gefoltert: Wo der Händler mit seinem Wagen sei?

Als der erste der Borks aufkeuchend umkippt, ahnen sowohl Wim als auch Axel Bork, dass der Händler sie angreift. Wenig später sind alle Borks tot. Wie hat er nur an der Magie des Händlers zweifeln können, wundert sich Wim, und lässt sich gerne von Herrn Zacker die verbrannte Hand verbinden. Zacker erzieht ihn dazu, genau zu fragen und erst nachzudenken, bevor er dumme Fragen stellt. So gelangen sie schließlich ins Flachland und in die Distriktshauptstadt Füffen.

Kaum haben Herr Zacker und sein „Lehrling“ ihre Waren auf dem Zentralplatz vor dem Regierungspalast angeboten, als auch schon die Wache des Gouverneurs aufkreuzt und sie beide festnimmt. Wims Widerstand ist fruchtlos, und Zacker bittet ihn, Geduld zu haben. Man fesselt und führt sie zum Gouverneur, der sich als Herr Aydrick vorstellt. Ein Sessel hält Wim und Zacker mit einer unheimlichen Kraft fest. Wim wundert sich, wie der Mann sie beide seit Tagen hat überwachen können. Aydrick ist stolz auf die Stabilität des Reiches, in dem er als einer der Gouverneure herrscht. Doch da ist nun Zacker gekommen, ein Unruhestifter, der die bestehende Ordnung bedroht, ein Mann von jenseits der Erde obendrein. Wie ist es zacker nur gelungen, die Raumverteidigung zu durchdringen?

Um die Antwort auf diese Frage zu erhalten, setzt Aydrick Zacker einen Metallreif auf den Kopf. Dieses Ding verbinde Zackers Gedanken angeblich mit dem, was Aydrick als „Computer-Netzwerk“ bezeichnet. Dann scheint allerdings etwas schiefzugehen, als Zackers „Magie“ zu wirken beginnt…

Mein Eindruck

Dies ist eine SF-Geschichte im Gewand eines Fantasy-Universums. Die Leute sind bodenständig, kennen keine Technik, die übers Mittelalter hinausgeht, und halten alles für Zauberei, was sie nicht verstehen. Aber wie leicht es ist, ein Zauberer zu werden, wenn man nur die richtigen Fragen zu stellen versteht, zeigt der Fahrende Händler seinem Lehrling immer wieder. Und so kann es Wim schließlich gelingen, gegen den mächtigen „Zauberer“ Aydrick zu bestehen und seinem Freund Zacker zu helfen, den Sieg über die Unterdrücker davonzutragen. Dann erzählt ihm der Händler, wer er wirklich ist…

Die Geschichte ist im anschaulichen und föüssigen Stil der besten Fantasy-Erzähler gehalten. Joan D. Vinge, die die Rahmengeschichte erfand und die zweite Hälfte schrieb, hat bereits 1980 mit „Die Schneekönigin“ einen hervorragenden SF-Roman mit Fantasy-Anklängen vorgelegt. Übrigens: Die vorliegende Novelle ist ein Abenteuer, nicht nur der anfänglichen Action, sondern auch des Geistes.

5) Die Unregierten (The Ungoverned, 1985)

Nach einem Zusammenbruch der Zivilisation hat sich Nordamerika wieder aufgerappelt, aber in völlig anderen politischen und kulturellen Macht- und Besitzverhältnissen. Eine Regierung gibt es hier nicht, denn Gangsterorganisationen lassen sich jetzt als Schutzmacht engagieren, genau wie eine Versicherung. Will Brierson ist so ein „Versicherungsagent“, er arbeitet für die Michigan State Police. Heute wird er von Alvin Stewens zu Hilfe gerufen, der seinerseits eine Schutztruppe im Mittleren Westen unterhält. Seine Klienten berichten, dass von der Republik Neumexiko her erst billige Arbeitskräfte eingesickert seien, jetzt aber eine bewaffnete Truppe am Arkansas River aufmarschiert.

Als Brierson und Stewens sich dort umsehen, stoppen drei Helikopter der Neumexikaner und bringen als Gefangene zu Ed Strong, dem Berater des neumexikanischen Präsidenten Martinez. Dort können sie zusehen, wie eine Invasionsarmee auf Topeka in Kansas vorrückt. Kein gute Idee, warnt Brierson. Strong lacht ihn aus. Wieso denn? Na, wegen der autonomen Farmfestungen, etwa der von Jake Schwartz, wo sie gefangengenommen wurden.

Tatsächlich eskaliert dort der bewaffnete Konflikt, der sich bis zur Explosion einer Neutronenbombe hochschaukelt. Das ernüchtert Strong und Martinez etwas, aber nicht genug. Brierson hat aber noch ein As im Ärmel und organisiert den Widerstand der Unregierten gegen die Invasoren.

Mein Eindruck

Wie viele viele andere US-Autoren stellt sich Vinge vor, wie die USA nach dem Zusammenbruch aussehen könnten, etwa nach dem Atomkrieg. (Jüngstes Beispiel dafür ist der preisgekrönte Roman „The road“ von Cormac McCarthy.) Für ihn interessant, welche Selbstregierungsform sich die Überlebenden geben. Sie sind Anarchisten, genau wie die Leute in „Kampflose Eroberung“ (siehe unten), aber schwer bewaffnete. Als eine Armee des demokratisch regierten Neumexiko sie erobern will, schlagen sie sie zurück. Das ist überraschend, weil das Vorurteil herrscht, solche Herrschaftslosigkeit sei mit Zersplitterung und Schwäche gleichzusetzen. Welch ein Irrtum, wie die actiongeladene, spannende Novelle zeigt.

6) Weitschuss (Long shot, 1972)

Da die Menschheit weiß, dass sich ihre Sonne schon bald aufblähen und die inneren Planeten ihres Lebens berauben wird, schickt sie Ilse auf die 10.000 Jahre lange Reise zum nächsten Stern: Alpha Centauri. Ilse ist zehn Meter lang und ein komplexes künstliches Gehirn. Sie ist in einen zwölf Meter breiten, linsenförmigen Stahlkörper eingefügt, den sie selbst mit Düsen steuern kann.

Alles geht gut, außer für die Menschen. Der Kontakt reißt ab, und Ilse fliegt einsam weiter. Aber sie spaltet ihr Ich in drei teile auf und verliert so nicht die Anregung weiterzudenken. Allerdings muss sie nach mehreren tausend Jahren des Flug feststellen, dass ein Teil ihrer Gedächtniseinheiten nicht mehr ansprechbar sind. Sie hat vergessen, was sie im Alpha Centauri-System machen soll. Aber sie weiß noch, dass sie eine Welt suchen soll, die der Erde ähnelt: blaugrün ist gut, gelb schlecht.

Alpha Centauri ist bekanntlich ein Doppelstern, und Ilse entdeckt zwei in Frage kommende Planeten, Alef II und Beth II. Alef II ist blaugrün, also gut. Aber soll sie nun wirklich dort landen oder weiterfliegen? Sie entscheidet sich für die Landung. Am Boden, umgeben von Wald, untersucht sie ihren einigermaßen zerkratzten Körper auf jedes Detail, das ihr verraten könnte, was ihre Erbauer vorhatten. Da stößt am Grunde eines Eisbehälters auf eine bislang unentdeckte Speichereinheit, die ihr genau dies sagt. Sie erwärmt das Eis zu Wasser und macht es zu Fruchtwasser, leitet Blut ein und pflanzt eine befruchtete Eizelle ein…

Mein Eindruck

Wie schon in „Bücherwurm“ wird auch diesmal eine künstliche Intelligenz geschaffen. Die Planetenmission, auf die Ilse geschickt wird, fasst quasi alle Missionen des 20. Jahrhunderts zusammen. Entscheidend ist das Ende ihrer Mission: Was soll hier passieren, um eine zweite Erde entstehen zu lassen? Wie Vinge sagt, hat es dazu einige Vorschläge gegeben – die Panspermie-Theorie von Svante Arrhenius ist jedoch viel zu zufallsabhängig, weil ungezielt Samen zwischen die Sterne geschossen werden. Doch andere Vorschläge, u.a. von Prof. und SF-Autor Robert L. Forward, sehen kleine, gezielte Besamungsaktionen vor. Diese begrüßt der Autor. Er selbst lässt ilse gleich einen neuen Menschen erschaffen. Ob das wohl besser hinhaut?

7) Absonderung (Apartness, 1965)

Nach einem schrecklichen Weltkrieg, der die nördliche Hemisphäre in Schutt und Asche gelegt und die gesamte Bevölkerung ausgerottet hat, bildet sich in Südamerika und Australien eine neue Zivilisation. In Buenos Aires regiert 200 Jahre später der Kaiserliche Präsident Alfredo. Er hat eine Expedition mit Sterndeutern und Anthropologen in die Antarktis ausgesandt. Kapitän Delgado steuert auf Bitten des Wissenschaftlers Diego Ribera y Rodriguez die Palmer-Halbinsel an. Man habe dort ein Licht gesehen, wo keines sein dürfte.

Die Forscher und Sterndeuter stoßen auf eine kleine Siedlung von ärmlich und abweisend aussehenden Einheimischen, die aber keine Eskimos sind. Ribera findet die Tatsache, dass sie ein Boot aus Plastik besitzen, höchst interessant. Doch der Versuch, sich dem Boot zu nähern, ruft sogleich Drohgebärden hervor. Da finden die Sterndeuter in einer anderen Bucht die Wracks zweiter gestrandeter Schiffe. Als Ribera die Namen der Schiffe entziffert, wird ihm klar, wer die Siedler sind…

Entsetzt rennt er zu den Einheimischen zurück, doch es ist bereits zu spät. Ein Wissenschaftler nähert sich dem Plastikboot und bekommt eine Harpune in den Rücken. Ein wilder Kampf bricht aus, und Ribera flieht mit seinen Gefährten, doch nicht ohne ebenfalls verwundet zu werden. Monate später wird er erneut zur Halbinsel geschickt, doch da taucht ein Abgesandter der Zulunder-Regierung von Südafrika auf. Es geht um jene Siedler, die Ribera gefunden hat. Sollen nun auch sie getötet werden, so wie alle anderen Weißen in Afrika?…

Mein Eindruck

Diese Story ist nicht nur packend und anschaulich geschildert, sondern auch bis zum Schluss spannend. Die Pointe ist zugleich erschütternd und bitter: Die Verfechter der Apartheid – nichts anderes ist mit „Absonderung“ gemeint – bekommen von ihrer eigenen Medizin zu schmecken. Im Jahr 1965 war die Story ungleich aktueller als heute, aber wo immer auch Apartheid-ähnliche Tendenzen auftauchen, dort sollte man sich an diese Geschichte erinnern. Die Story wurde immer wieder neu abgedruckt.

8) Kampflose Eroberung (Conquest by default, 1968)

Auch diese Story spielt auf der Post-Holocaust-Erde von „Abtrennung“. Die Aliens von Epsilon Eridani II sind gelandet, doch was sie vorfinden, sind die kümmerlichen Überreste der einstigen Technikzivilisation. Melmwn, der Ich-Erzähler, ist Anthropologe mit dem Auftrag, die Schätze der verbliebenen Terraner in Australien zu bergen und auszuwerten. Doch schon kurz nach seiner Landung erfolgt ein Anschlag auf ihn und seine Begleiterin, die junge Terranerin Mary Dahlmann. Mary, die Tochter des höchsten Regierungsvertreters von Australien, wird verwundet und evakuiert.

Als Melmwn ihren Vater ganz offiziell besucht, trifft er sie gesund und munter wieder, aber sie ist wütend und traurig über die Anwesenheit der „Greenies“. Sie befürchtet den Untergang der terranischen Zivilisation und zieht eine Parallele zum historischen Schicksal der Cherokee-Indianer. Die Wahl „Anpassung oder Untergang“ sei der Anfang vom Ende.

Nach und nach erkennt der Anthropologe, dass er sich a) in Mary verliebt hat, dass b) die Terraner als human zu gelten haben und dass es c) offenbar innerhalb seiner eigenen Besatzungsmacht Bestrebungen gibt, die Terraner in eine schreckliche Zwangslage zu bringen. Die Anschläge werden angeblich von einer Widerstandsgruppe unter einem gewissen „Merlyn“ unternommen, doch Dahlmann glaubt, dass der Alien-Polizeichef Horlig dahintersteckt. Was könnte der Plan des Polizeichefs sein, der selbst dem eroberten Alien-Volk der Gloyns angehört?

Mein Eindruck

Obwohl die Erzählung relativ lang ist, so steigert sie sich doch zunehmend in ihrer Dramatik. In quasi dialektischen Schritten nähert sich der Ich-Erzähler dem Zentrum des Horrors in der Situation, die zu untersuchen er geschickt wurde. Doch als er nicht mehr nur beobachtet, sondern wegen seiner Verliebtheit einzugreifen gezwungen ist, da muss er eine Wahl treffen, die der zwischen Satan und Beelzebub gleichkommt: die physische Vernichtung der Terraner oder die Zerstörung ihrer Kultur.

Letzteres ist auf eine höchst sonderbare Eigenheit der Aliens zurückzuführen: Sie leben die Anarchie! Sobald eine Gruppe auch nur in die Nähe einer Vorherrschaft gerät, wird sie von einem unanfechtbaren Schiedsrichter dazu verdonnert, sich aufzuspalten. Dass diese sich wieder untereinander bekämpfen, dürfte wohl klar sein. Horlig steht in einer Ausnahmesituation: Die Terraner, die nicht als „Menschen“, sondern quasi als Tiere gelten, sind nicht der obligatorischen Anarchie unterworfen, daher kann Horlig sie benutzen, um der Alienherrschaft auf der Erde ein Ende zu bereiten.

Als Melmwn die Terraner als „Menschen“ klassifizieren lässt, fallen sie automatisch unter das Anarchiegebot und müssen sich aufspalten – in nicht weniger als 100.000 Gruppen. Mary betrachtet dies als den Anfang vom Ende, denn Anarchie bedeutet für sie Gewalt. Und das Verhalten, das die Aliens an den Tag legen, bestätigt sie in ihren Befürchtungen. Melmwn, der auf ihre Liebe gehofft hat, wird dafür mit einer deftigen Ohrfeige bestraft. Hoffentlich lernt er seine Lektion.

Das ist ein höchst ironische Geschichte, aber sie führt die Idee von der Anarchie zu ihrem konsequenten Ende. Die menschlichen Aspekte führen uns vor Augen, dass Anarchie sehr viel mit dem Leben zu tun hat. Ich fand die Story sehr unterhaltsam erzählt.

9) Die Tiefen der Zeit (The Whirligig of Time, 1974)

An einem friedlichen Tag der nahen Zukunft werden die Städte der Menschen von Atombomben vernichtet. Obwohl die anfliegenden Raketen von Laserkanonen abgeschossen werden können, so hat doch niemand damit gerechnet, dass bereits A-Bomben in die Städte geschmuggelt worden sein könnten…

Fünf Jahrhunderte später haben die wenigen Überlebenden wieder ein Auskommen gefunden. Boblanson arbeitet an Bord der kaiserlichen Jacht des imperialen Kronprinzen als Experte für Vorkriegsartefakte, doch als Nichtbürger hat er lediglich den Status eines Haustiers. Der Kronprinz, ein passionierter Sammler der Vorkriegssonden der untergegangenen Erde, ist besonders stolz auf die zwei Sonnensonden, die er aus der Heliosphäre des Zentralgestirns gefischt hat – ha, das soll ihm erst einmal einer nachmachen!

Doch der neueste Fund, auf den sie in der Umlaufbahn stoßen, scheint auch dem „Experten“ Boblanson einiges Kopfzerbrechen zu bereiten, wie der Steuermann Vanja Biladze zu erkennen glaubt. Als Biladze die Entdeckung eines möglicherweise außerirdischen Artefakts in einer sechs Kilometer hohen Umlaufbahn um die Erde meldet, ruft bald danach der Lordkanzler den Experten vor den Thron seiner kaiserlichen Majestät und seines Sohnes. Denn da der Sohnemann heute seine Volljährigkeit feiert, ist der komplette Hofstaat an Bord der Luxusyacht.

Biladze beobachtet, wie Boblanson sich während seines Berichts verstohlen umschaut und anschließend mit einem verschlagenen Grinsen die Annäherung an das unbekannte Objekt verfolgt. Weiß Boblanson mehr als er erzählt, fragt sich Biladze. Als dem Steuermann der Gedanke kommt, dass der Satellit, dem sie sich nähern, eine noch intakte Antiraketen-Rakete sein könnte, fragt er sich allerdings, ob er den Kaiser wirklich vor der Gefahr warnen soll. Die Gelegenheit ist zu günstig, der von Imperium unterdrückten Erde endlich Freiheit zu verschaffen….

Mein Eindruck

Die Moral von der Geschicht‘: Des einen Untergang ist der anderen Befreiung. Allerdings ist die Story nicht besonders zuversichtlich oder humorvoll, es sei denn, man lässt eine Art Galgenhumor gelten. Zudem ist für den Leser schon lange vor der Pointe abzusehen, was sich hinter dem mysteriösen Satelliten verbirgt. Das macht den Verlauf nicht gerade spannend.

10) Spiel mit dem Schrecken (Bombscare, 1970)

Die Dorviks sind die Orks der Galaxis und sie haben vor, diese ihnen untertan zu machen. Ihre Raumflotte ist in den Sektor eines Sonnensystems eingedrungen, wo man ihnen Widerstand entgegensetzt, insbesondere von einer blauweißen Welt. Der Kommandeur Lal befiehlt gerade, einen Nachbarplaneten zu sprengen, um den Gegner einzuschüchtern, als ihm ein anderer Eindringling in dieses Sonnensystem gemeldet wird. Dieser Eindringling ist zwar winzig, doch er droht, die Sonne zu sprengen. Das wäre allerdings eine höchst ungesunde Sache, denn die Schockwelle würde sämtliche Planeten in hundert Parsec Umkreis zerstören – und somit einen Großteil vom Herrschaftsbereich der Dorviks.

Lal schlägt mit der Sprengung eines Schlachtschiffs in der Nähe des Eindringlings zurück, doch dieser übersteht den Atomschlag unbeschadet. Das ist wirklich verblüffend – und furchteinflößend. Unterdessen verliert Lal ein Schiff nach dem anderen im bereits entfachten Krieg. Er entscheidet sich für einen Friedensvertrag mit seinen Kontrahenten und sucht ein Bündnis, um den neuen, viel mächtigeren Gegner bekämpfen zu können.

An Bord des Eindringlings sitzen lediglich zwei Kinder namens Gyrd und Arn, allerdings am Drücker für die Vernichtung dieses Sterns. Als ihre Mutter an Bord materialisiert, bekommen sie eine Gardinenpredigt und werden nach Hause geschickt.

Mein Eindruck

Wie später in „Gerechter Frieden“ veranschaulicht der Autor, was passiert, wenn ein Angreifer auf einen Stärkeren trifft. Er verbündet sich mit einem anderen, um gegen den Stärkeren bestehen zu können. Das Spiel des Schreckens funktioniert immer, aber der Gag ist diesmal, dass es wirklich ein Spiel von ungezogenen Kindern ist. Das lässt Lal von den Dorviks ziemlich lächerlich aussehen.

Die Schwäche der Story besteht darin, dass nicht klar wird, wer diese beiden Kinder und ihre Mutter sind. Es fallen Andeutungen, dass es sich um Erdbewohner der Zukunft handelt, aber sicher bin ich nicht.

11) Die Wissenschaftsmesse (The Science Fair, 1971)

Leandru ist ein Wirtschaftsspion auf einer Wasserwelt, die von Gezeiten beherrscht wird und um die Sonne Ge kreist. Eine junge Dame namens Yelén Dragnor bittet ihn, ihren Vater Beoling Dragnor vor einem Mordanschlag des Fürstenhauses Grawn zu beschützen. Ihr Vater sei Wissenschaftler und werde auf der morgigen Wissenschaftsmesse ein wichtige Ankündigung machen, die dem Haus Grawn offenbar nicht genehm ist. Leandru nimmt den Auftrag an und vereitelt einen Anschlag der Grawns.

Der große Tag ist gekommen, die Wissenschaftsmesse eröffnet. Im Zelt drängt sich das Publikum, und Leandru kann nur mit einem Ausweis hineingelangen. Da tritt der alte Beoling auf, schon recht krank, wie es scheint. Neben ihm starrt das Oberhaupt des Hauses Grawn ihn grollend an. Doch Beoling darf sprechen.

Kurz gesagt, hat er beobachtet, dass sich langsam, aber stetig ein großer Stern dem Sonnensystem von Ge nähert und schon in wenigen Generationen an ihm vorüberziehen wird. Die Folgen sind nicht nur grelles Licht, sondern auch große Hitze, die den Ozean verdampfen lassen könnte. Was nach dem Vorüberziehen des Sterns noch übrig sein werde, könne er nicht sagen. Ein Aufruhr bricht los. Keiner fragt nach dem begleitenden Planeten dieses Sterns und ob dieser vielleicht bewohnt sein könnte.

Mein Eindruck

Der Autor präsentiert hier die Theorie, dass es möglicherweise nicht nur vagabundierende Planeten, sondern auch Sterne geben könnte, die durch andere Sonnensysteme ziehen. Beobachtungen hätten die Existenz von wandernden Gasriesenplaneten bewiesen.

Die Erzählung erinnert fatal an die berühmte Novelle „Nightfall / Einbruch der Nacht“ von Isaac Asimov, wo ein Astronom den umgekehrten Fall prophezeit: das zeitweilige Verlöschen aller drei Sonnen des Planeten und das Auftauchen eines sonst nie gesehenen Phänomens – der Milliarden von Sterne in diesem Sektor der Galaxis.

Recht hübsch fand ich den Einfall des Autors, die intelligenten Bewohner seiner Welt zu Hufträgern zu machen. Die Andeutung, dass die junge Dame Yelén nur „Hinterhosen“ trägt, bedeutet, dass sie auch Vorderbeine hat, aber auch einen Kopf – und völlig einen entblößten Oberkörper. Ob sie nun ein Yahoo-Pferd ist oder eine Zentaurin, das mag jeder für sich selbst entscheiden. Reizvoller wäre das letztere.

12) Edelstein (Gemstone, 1983)

Die etwa 14-jährige Sanda, die aus Südkalifornien stammt, verbringt 1957 die Sommerferien bei ihrer Großmutter, die allerdings im regnerischen Oregon lebt. Omas Haus ist mit allen möglichen Funden vollgestellt, die ihr verstorbener Mann aus Neuseeland und der Antarktis mitgebracht hat. Von seinen Südpol-Expeditionen hat er auch einen seltsamen Stein mitgebracht, der nun in einem Terrarium steht. Zunehmend drehen sich Sandas Gedanken um diesen Stein und sie beginnt sich vor ihm zu fürchten. Er strömt eine so große Beklemmung aus, dass sie beginnt, auf dem Schlafzimmerbalkon zu übernachten. Bei diesen Gelegenheiten bemerkt sie die seltsamen Männer, die heimlich nachts den Strom ablesen und das Haus beobachten.

Eines Abends am Ende der Ferien brechen diese Männer ins Haus ein. Sie verlangen von ihrer Oma Diamanten! Spinnen die denn? Aber nein, Oma will ihnen widerwillig ein paar Diamanten geben. Wie haben die Einbrecher nur herausbekommen, dass Oma regelmäßig Rohdiamanten beim Juwelier in der Stadt verkauft? Und woher hat Oma die Edelsteine überhaupt? Doch wohl kaum von einer von Opas Expeditionen, die sind schon zu lange her. Aber vielleicht hat der seltsame Stein aus der Antarktis damit zu tun.

Als die Einbrecher durch ihre Unachtsamkeit das Haus in Brand setzen, können sich die beiden Frauen im Keller in Sicherheit bringen. Doch mit dem seltsamen Stein geht im Feuer eine wundersame Verwandlung vor sich…

Mein Eindruck

Die Anklänge an John W. Campbells Story „Who goes there?“ oder vielmehr zu deren erster Verfilmung “Das Ding aus einer anderen Welt” (1957) sind offensichtlich, Ja, sogar so offensichtlich, dass die Hauptfigur Sanda mit einem Bekannten eine Kinovorstellung besucht, in der eben dieser Film gezeigt wird. Nun fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Der seltsame Stein ist ein Außerirdischer, ganz klar! Und wer weiß, wozu er alles fähig ist? Zum Glück kommt es dann doch nicht zur Vernichtung der Welt, sondern zu einem eher romantischen Ausgang.

Der Autor weiß selbst nicht, was diese Story aussagen soll. Aber muss jede Story eine Aussage haben. Ich fand sie sehr stimmungsvoll und – als pasticheartige Anspielung auf den genannten Film – sogar amüsant. Die Psychologie zwischen Sanda und ihrer Großmutter ist als Generationenkonflikt sehr fein herausgearbeitet und ist das eigentliche Motiv , das die Story trägt. Da der Stein ein Emotionenspeicher und –überträger ist, bildet er eine Metapher für das Gefühlsleben seiner Kontaktpersonen. Über ihn ist Oma emotional noch in Kontakt mit ihrem verstorbenen Gatten – kann es etwas Romantischeres geben?

13) Gerechter Frieden (mit William Rupp; Just Peace, 1971)

Der Planet Neu-Kanada befindet sich in Schwierigkeiten, denn sein Kern ist noch nicht erloschen, sondern befindet sich immer noch in Aufruhr. Das Siedlerschiff aus dem 22. Jahrhundert wusste das jedoch nicht und setzte seine Fracht ab, die zunächst blühte und gedieh. Im Jahr 2240 betrug die Bevölkerung über 8 Millionen menschen. Dann schlug der sogenannte Kataklysmus zu, der sie zu über 50% auslöschte und viele Gebiete überschwemmte. In den 150 Jahren danach errichteten die Überlebenden drei Reiche: den Hafen Freetown, die puritanische Insel New Providence und die feudalistische Konföderation Ontario. Natürlich bekriegen sich Puritaner und Feudale.

Als die neue Kopie des Gesandten Chente von der Erde im Siedlerschiff eintrifft, informiert ihn der Bordcomputer über diese Gegebenheit. Über ein Dutzend Jahre sind vergangen, seit die erste Kopie Chentes auf Neu-Kanada getötet wurde. Aber von wem, warum und wie genau – das herauszufinden, wurde Chente geschickt. Und natürlich auch, um Frieden zu stiften. Denn nur im Frieden können die Überlebenden die Technik entwickeln, um den sich anbahnenden nächsten Kataklysmus zu überstehen.

Er geht mit der Delegation der drei Reiche nach Freetown und begibt sich mit einer Expedition ins Gelände, um seismische Messungen vorzunehmen. Doch die Spezialtruppe von New Providence ist scharf auf seine Ausrüstung. Sie wissen von seinem Vorgänger, dass er eine Kommunikationssonde mitführt, die eine Atombombe enthält. Diese wäre ein großer Machtzuwachs, und das wiederum eine günstige Gelegenheit, um Ontario anzugreifen. Ein stiller Alarm verhindert, dass die Soldaten Chente töten können. Nur er und die Delegierte von New Providence, Martha Blount, überleben den Kampf.

Schon bald erkennt Chente, dass es nur einen Weg, um sowohl Ontario als auch New Providence den Frieden zu bringen. Er muss alle Atombomben außer seiner eigenen außer Gefecht setzen und die beiden Gegner so zwingen zusammenzuarbeiten, um als Allierte gegen ihn vorzugehen, damit sie die einzige Atombombe erobern können. Ein gerechter Friede, oder nicht? Und der erste Schritt ist die Wanderung zur Flottenbasis Ontarios. Falls er den Marsch überlebt…

Mein Eindruck

Diese schöne Story orientiert sich nach eigenen Angaben des Autors an Poul Andersons Planetenromanen. Die Hauptfigur Chente findet widerstreitende Parteien vor, die beide gleichermaßen Recht haben. Sie sind weder gut noch böse. Chente muss einen Weg finden, um sie zur Kooperation zu bringen. Schon sein Vorgänger ist ja an dieser Aufgabe gescheitert.

Der einzige Weg, der nun Chente 2.0 einfällt, besteht ironischerweise darin, beide Parteien zu verraten und sie sich zu Feinden zu machen. Eigentlich logisch, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt. Aber in den menschlichen Aspekten durchaus ein wenig bedenklich, wenn nicht sogar tragisch.

14) Mit der Sünde geboren (Original Sin, 1972)

Der Planet Shiman ist seit 200 Jahren von der Erde aus missioniert worden. Aus den gefräßigen Shimanern, die nur einen Lebenszyklus von zwei bis drei Jahren haben, ist eine kooperative Überbevölkerung von 30 Milliarden Individuen geworden, die sich nicht mehr gegenseitig auffressen und ausrotten. Nun haben sie es binnen zweier Jahrhunderte von der Steinzeit zum Dampfzeitalter gebracht. Kein Wunder, dass die Erdregierung über den Planeten Quarantäne verhängt hat, um durch das Unterbinden des Knowhow- und Techniktransfers den Ausbruch der Shimaner von ihrem Planeten ins Imperium zu verhindern.

Samuelson Enterprises ist es jedoch kürzlich gelungen, den Wissenschaftlicher Hjalmar Kekkonen einzuschmuggeln, der den Shimanern einiges über Chemie und Raketenantrieb erzählt hat. Heute lernt er die Polizeioffizierin Tsumo kennen, die sich hat bestechen lassen (für eine fürstliche Summe), Kekkonen durchzulassen. Die Frist sei jedoch abgelaufen, warnt Tsumo: Die Erdpolizei sei im Anflug. Kekkonen müsse sofort mitkommen. Doch erst als ihr shimanischer Fahrer Sirbat sein Gebiss entblößt und die Lage genauer erklärt, rafft sich Kekkonen auf und geht mit.

In einer Kirche sollen Kekkonen und Tsumo ein erstes Versteck bekommen, doch in einer nahen Schule sind shimanische Schüler ausgebrochen und suchen nun etwas Fressbares. Und was wäre leckerer als frisches Menschenfleisch?

Mein Eindruck

Der Autor zeigt diesmal eine Spezies, die noch raubtierhaftere Züge trägt als der Mensch selbst. Die Notlage, in der Kekkonen sich unvermittelt wiederfindet, führt ihm deutlich vor Augen, was passieren würde, wenn er weiter hülfe, den Shimanern zur Raumfahrt zu verhelfen. Die Bedrohung besteht nicht in wirtschaftlicher, sondern in biologischer Hinsicht: Die Shimaner würden die Menschen der Erde einfach als Speisekammer benutzen.

Die Ironie bei der Sache liegt im Transfer der Religion. Die ausgebildeten, also missionierten Shimaner sind Christen und sollten eigentlich ihren Nächsten lieben statt ihn aufzufressen. Leider macht den Shimanern ihre Natur einen Strich durch die Rechnung: Am Ende ihres Lebenszyklus müssen sie ihre tausenden von kleinen Babys irgendwo zur Welt bringen, und sobald sich die Babys durch den Elter hindurchgefressen haben, gehen sie sofort auf Nahrungssuche. Da hilft auch das beste Christentum nichts. Es ist das, was die Bibel unter „Erbsünde“ (original sin) versteht.

Die Story wechselt ab zwischen Actionszenen und nachdenklichen Einlagen, in denen Tsumo ihren Schützling darüber belehrt, welche Gefahr die Shimaner in Wahrheit darstellen. Die Wirklichkeit des Angriffs bringt ihn zur Vernunft – die Belohnung von Samuelson Enterprises lässt er lieber sausen, solange er noch in einem Stück ist.

15) Die Plapperin (The Blabber, 1988)

Hamid Thompson ist 20 Jahre alt, ein Ex-Student und momentan Reiseführer auf seiner Heimatwelt Mitt-Amerika. Gerade findet das Elvis Revival statt und Touristenschiffe aus der ganzen Galaxis schweben über den Hauptstadt Marquette, um bei diesem Großereignis dabei zu sein. Doch wenn die Karawane der Touristen weiterzieht, ist es Hamids sehnlichster Wunsch, mit ihnen zu fliegen, ins Draußen, ins Jenseits, ja sogar in die Transhumanen Regionen.

Warum auch nicht? Schließlich ist er nur das Adoptivkind seines Vaters Hussein, der selbst einmal die Galaxis verlassen hat und ins Jenseits ging. Zusammen mit fünf anderen Mittamerikanern kehrte Hussein zurück, verändert zwar, aber mit dem jungen Hamid und einem Fremdwesen als dessen Spielgefährten: der Plapperin.

Die Plapperin ist halbintelligent, intelligenter als ein Hund und etwa so groß wie ein Afghane, aber mit weitaus schärferen Zähnen. Sie hat die verblüffende Fähigkeit, Stimmen, Musik und Geräusche exakt imitieren zu können. Und sie ist liebebedürftig, ein richtiges Schmusekätzchen. Hamid kommt nicht in den Sinn, dass sie gerne als eigenständiges Wesen wahrgenommen und geachtet werden möchte. Oder dass sie telepathische Fähigkeiten hat. Bis jetzt.

Die Plapperin soll sein Ticket zu den Sternen sein. Er hat sie über einen Mittelsmann, seinen Ex-Prof, dem Karawanenführer der Touristen angeboten, einem Schneckenwesen, und der ist interessiert. Dann kommt jedoch eine Anfrage von einem gewissen Ravna & Klauen herein, der eine exorbitante Summe bietet. Als Hamid zögert, wandelt sich jedoch Ravnas Betragen. Per Telepathie übernimmt ihr Partner Klauen eines Nachts die arme Plapperin und spricht aus ihr. Er will sie haben, UM JEDEN PREIS.

Das ändert alles. Nun kommt es darauf an, schnellstens mit den Touristen den Planeten zu verlassen, um die Plapperin vor Klauen und Ravna in Sicherheit zu bringen. Doch auch wenn der Fluchtversuch zunächst wie am Schnürchen klappt, so scheitert doch der Rest, als der Schweber des Schneckenwesens beschossen wird und abdreht. Hamid und die Plapperin werden an Bord des Raumschiffs von Ravna & Klauen geholt, ob sie wollen oder nicht. Dort erlebt Hamid einige dicke Überraschungen…

Mein Eindruck

Dieser Kurzroman nimmt uns mit auf einen Ausflug in die Zonen des Denkens. Diese Zonen sind Vinges ureigenste Erfindung. Weil sie auch in seinen preisgekrönten Romanen „Ein Feuer auf der Tiefe“ und „Eine Tiefe im Himmel“ eine wichtige Rolle spielen und „Die Plapperin“ deren Fortsetzung bildet, soll das Konzept kurz umrissen werden.

20.000 Jahre in der Zukunft. Ich habe bereits die Transhumanen Regionen als ganz weit außerhalb der Galaxis erwähnt – dort leben Fremdwesen, Aliens. Näher liegt das „Jenseits“, das direkt jenseits des Galaxisrandes die Überlichtgeschwindigkeit erlaubt. Hier liegen wenige, verstreute Menschenwelten. Innerhalb unserer Galaxis ist maximal relativistische Lichtgeschwindigkeit möglich: Folglich ist dies die „Langsame Zone“.

Diesen Zonen ist auch die Qualität des jeweiligen Denkens zugewiesen: Je weiter draußen, desto schneller und bewusster. Im Galaktischen Kern finden sich deshalb die „gedankenleeren Tiefen“. Keiner will dorthin, versteht sich. Alle wollen raus, ins Jenseits. Aber das Ticket dorthin ist, wie Hamid herausfindet, ziemlich teuer.

VORSICHT SPOILER!

Die Plapperin gehört der gleichen Spezies wie die „Klauen“ an, während Ravna eine menschenähnliche Frau ist – mit violetten Augen. Ihr Ziel ist es, den Feind zu bekämpfen, der Klauens Spezies vernichtet hat. Er ist sozusagen der letzte Mohikaner. Bis vor hundert Jahren gab es einen menschlichen General, der dem Feind standhielt, und diesen General haben Klauen und Ravna klonen lassen: Hamid.

Doch Hamid sollte wie der General zu einem mathematischen und militärischen Genie heranwachsen, etwas, was Hamid ablehnte und was sein Adoptivvater durch Vertragsbruch verhinderte. (Klingt ganz nach Lady Jessica Atreides, oder?) Nun ist Hamid ein netter Kerl geworden – und ein Freund der Spezies seiner Plapperin. Auch nicht schlecht, findet Klauen jetzt, denn als Telepath kann er nun auf die positiven Wesenszüge und Fähigkeiten von Hamids Plapperin zurückgreifen, die er seinem „Schwarm“ eingegliedert hat. Klauen ist jetzt viel netter und kann, durch Vermittlung der Plapperin, direkt mit dem Menschen Hamid kommunizieren und interagieren.

Es gibt nur einen Haken, meint Ravna: Hamid muss mit ins Jenseits mitkommen und zwei Jahre an Bord verbringen. Glücklicherweise hat Hamid nichts dagegen einzuwenden, denn dorthin wollte er ja schon sein ganzes Leben.

16) Gewinne einen Nobelpreis! (Win a Nobel Prize!, 2000)

Die Präsidentin der Firma Mephisto Dynamics macht einem gewissen Johann in einem elektronischen Brief ein verlockendes Angebot. Er soll sich quasi als Versuchskaninchen zur Verfügung stellen, um die Wirkung der neuen MRT-T-Technik zu demonstrieren. Diese supertolle Technik, so Helen Peery, ermöglicht es endlich, das Gehirn und die Emotionen eines Menschen vollständig mit Hilfe einer Maschine zu steuern, die Magnetismus einsetzt. Man kann aus ihm einen Idioten oder ein Genie machen. Wie wäre es, wenn Johann den Nobelpreis gewänne? Für ihn sei bereits eine luxuriöse Villa errichtet worden, die nur noch auf ihren Bewohner warte…

Mein Eindruck

Dies ist eine jener Kürzestgeschichten, die die bekannte Fachzeitschrift „Nature“ über den Zeitraum von einem Jahr veröffentlichte, um Zukunftsvisionen aufzuzeigen, und zwar aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Was Vinge aufzeigt, ist wohl eher eine Horrorvision zu nennen: die direkte Steuerung einer menschlichen Marionette. Er beschreibt die erforderliche Technik halbwegs genau, aber das tut nichts zur Sache. Allein schon der Name „Mephisto“ sollte den leser stutzig machen. War das nicht jener Typ, der den armen Doktor Faust in Versuchung führte, einen Pakt mit dem Fürsten der Finsternis abzuschließen? Genau…

17) Die Barbarenprinzessin (The Barbarian Princess, 1986)

Auf der Welt Tu gibt es fast kein Metall, und so konnte sich auch keine größere Stadt mit hohen Gebäuden entwickeln, von einer Maschinenkultur ganz zu schweigen. Auch die Tatsache, dass der Großteil der Weltbevölkerung nicht auf dem trostlosen Binnenkontinent lebt, sondern auf den zahllosen Inselarchipelen, hat die Entstehung einer literarischen Industrie begünstigt.

Terulle ist ein großes Verlagshaus mit vielen Publikationen. Die Zeitschrift „Phantasey“ ist eine davon, und Rey Guille ist ihr Chefredakteur. Doch irgendjmand muss ja die Seiten des Fantasy-Magazins mit Geschichten füllen, und deshalb begibt er sich alljährlich auf Wanderfahrt mit seinem Verlagsboot zu jenen Völkerschaften, unter denen er sowohl die Leser wie auch seine Autoren findet. Am belibtesten sind die Storys um die Kriegerin Hrala, und dies soll eine wichtige Rolle bei Reys folgendem Abenteuer spielen.

Als sie sich den Inseln des Termitenvolks nähern, erkennt Rey durch seine Fernrohr, dass das Expeditionsschiff „Wissenschaft“ versenkt im Hafenbecken liegt. Von der Besatzung ist keine Spur zu entdecken. Haben sich die Termitenleute zu Zivilisationsfeinden entwickelt? Oder haben die Wissenschaftler einen Frevel gegen ihre Religion begangen? Diese besteht in der Verehrung von Hrala, den entsprechenden Geschichten und den Termiten, die ihre Türme errichtet haben.

Als eine Delegation an Land geht, sind die Priester erfreut über die Bücher und Bilder, die Hrala zeigen. Rey will schon erleichtert aufatmen, als ein Schrei erschallt: Man hat den Spiegel im Boot entdeckt – und das scheint ein ernster Frevel zu sein, weiß der Geier warum. Trotz heftiger Gegenwehr gerät Rey in Gefangenschaft und landet in der gleichen Grube wie die hundert Wissenschaftler. Jetzt kann ihnen nur noch Hrala helfen, witzelt Rey bei sich. Und dann tritt sie selbst auf den Plan!

Mein Eindruck

Diese Novelle war für den HUGO Award nominiert, was für ihre hohe Qualität wie auch für die originelle Idee spricht. Mit einer zugleich anschaulich wie spannend erzählten Geschichte veranschaulicht er die Wirkung erfundener Geschichten, wenn diese zu ernst genommen werden – oder sogar Wirklichkeit zu werden scheinen.

Natürlich tritt Hrala nicht selbst auf, sondern jene hochgewachsene junge Frau, die Reys Gehilfin Cor aufgelesen und zu einer Hrala-Darstellerin ausgebildet hat. Eigentlich sollte diese Tatja Grimm Hrala nur spielen, um Werbung für die Geschichten zu machen. Nun nimmt ihre Rolle einen sehr viel ernsteren Charakter an. Wird sie der Herausforderung des Kampfes auf Leben und Tod gewachsen sein?

Auf einer tieferen Ebene geht es dem Autor um die Darstellung von Literatur – oder jedem anderen Unterhaltungsmedium – als eine Form von Betrug. Und Somit ist auch Rey Guille ein Betrüger, der ein einträgliches Geschäft betreibt. Rey selbst hingegen dachte bisher, er würde mit seinen Leitartikeln zur „Spektroskopie“ die Wissenschaft von anderen Welten wie etwa dem Mond Seraph fördern und so der Welt einen guten Dienst erweisen. Nun sieht es jedoch so aus, als käme Tatja Grimm (aus Vinges Roman „Grimms Welt“) von einer dieser anderen Welten und könnte ihm noch ein, zwei Dinge darüber beibringen. Es ist eine ernüchternde Begegnung, die auf allen Seiten Illusionen zertrümmert. Auch die des Lesers.

18) Das Cookie-Monster (2003)

Es ist Dixie Mae Leighs erster Tag im Helpcenter des US-Computerkonzerns LotsaTech (= jede Menge Technik), als sie von ihrem Kollegen Victor eine E-Mail gezeigt bekommt, die sie, Dixie, persönlich beleidigt. Sehr seltsam. Gezeichnet mit luestern925@freemail.sg, also von einem Webmailer. Da ist von 999 und 666 die Rede, der Zahl des Tiers. All dies macht Dixie, die sowieso kurz angebunden ist, sehr wütend. Auf Victor, doch der streitet alle Schuld ab, auch wenn er sich für sehr schlau hält. Ihre Kollegin Ulysse hilft ihr ein wenig weiter, doch die Zahl 999 könnte die Hausnummer auf dem Firmencampus meinen.

Doch in Haus Nr. 999 ist nur eine Gruppe Studenten mit Klausurkorrekturen für Gerry Reich befasst, ihren erfinderischen Informatikprofessor. Auch Dixie hat Reich in einem Saal bei der Eignungsprüfung kennengelernt. Der Typ scheint ja einige Projekte am Laufen zu haben. Unter den Studenten ist nur Ellen Garcia bereit, Dixie und Victor weiterzuhelfen. Was Ellen stutzig macht, ist die Tasache, dass für sie der 22. Juni 2012 ist, für Dixie jedoch der 15. Juni. Etwas läuft hier verkehrt. Im Header der E-Mail (jede Mail hat einen Kopfteil, der normalerweise ausgeblendet wird) ist der Hinweis auf das nächste Gebäude versteckt.

Doch dort stößt Ellen nicht nur auf Michael, der sie zu kennen scheint, sie ihn aber nicht, und auf Ellen Nr. 2, eine exakte Kopie ihrer selbst. Michael und Ellen 2.0 arbeiten für die NSA, die National Security Agency, die sich mit Verschlüsselung von Daten befasst – ebenfalls ein von Gerry Reich eingefädeltes Projekt. Nun sind sie zu fünft, grübeln über die Ungereimtheiten und nur zu einem Schluss: Sie sind Simulationen von Personen, die sich in einem riesigen und superschnellen Computer befinden. Ihre Aufgabe ist es, Aufgaben echter Menschen zu erledigen. Doch wer hat die Programmierung vorgenommen? Reich selbst hat das Wissen nicht, aber vielleicht der Meister STERN in lue-stern925.

Rob Stern ist nicht einfach zu erreichen, aber Dixie beherrscht ihre Wut und kommt auf die Lösung. Rob hat einen Weg gefunden, seinen früheren Simulationen und allen damit zusammenhängenden „Personen“ eine warnende Nachricht zukommen zu lassen, bevor der Rechner ihn bzw. seine Simulation beendet: die E-Mail an Dixie. Rob lebt in seiner Zeitschleife bereits 1236 Jahre. Doch was können sie zusammen schon gegen Gerry Reich ausrichten? Da hat die wütende Dixie eine zündende Idee…

Mein Eindruck

Durch einige eindeutige Winke weiß der Leser schnell, mit was er es zu tun hat: Die Figuren verhalten sich wie Dorothy aus Kansas im Zauberland Oz, und als sie der gelben Backsteinstraße aus Hausnummern folgt, gelangt sie fast direkt zum Obermacker dieser künstlichen Welt: Gerry Reich alias Wizard of Oz.

Die Möglichkeiten, die eine derartige simulierte Welt eröffnet, gehen weit über das hinaus, was sich Philip K. Dick in seinen Albträumen ausgedacht hat. Und das Beunruhigendste daran ist der Umstand, dass superschnelle Quantencomputer bereits entwickelt worden sind, um eben solche umfangreichen Simulationen von Personen ausführen zu können. Vinge weiß als Mathematikprofessor, wovon er schreibt.

Die Novelle setzt einiges Fachwissen voraus, nicht nur über Software-Entwicklung, sondern auch über Erkenntnistheorie. Das könnte den einen oder anderen Leser aus der Bahn werfen. Ansonsten ist sie aber recht lustig gestaltet.

Die Ein- und Überleitungen

Ich fand die Einleitungen des Autors sehr informativ. Darin erklärt er, wie es zu der einzelnen Story kam und welchen Erfolg oder Misserfolg er damit erzielte. Die Überleitungen sind weniger interessant. Manchmal verrät er dabei auch Einzelheiten über die Handlung; es handelt sich also um potentielle Spoiler, und der Leser sollte sie eventuell meiden.

Die Übersetzung

Die Übersetzungen stammen von Erik Simon, Joachim Körber, Hannes Riffel, Sylvia Pukallus, Werner Vetter und Franziska Zinn, denn manche Erzählungen sind schon in anderen Heyne-Publikationen erschienen, etwa in SF-Story-Readers. Die Quellenangaben am Schluss des Bandes erlauben einen detaillierten Einblick, wer welche Story übersetzt hat.

Neben den allfälligen Druckfehlern, Buchstabendrehern und fehlenden Wörtern wg. Flüchtigkeit finden sich aber auch Ausdrucksfehler, wenn nicht sogar Sachfehler.

Auf Seite 83 wird der Leser mit der Maßangabe „Baud“ konfrontiert, ohne Erklärung. Üblich ist heute die Maßangabe Bits pro Sekunde oder bps.

Auf Seite 640 steht folgender kryptischer Satz: „Der Raum war ein leeres Käfterchen.“ Leider ist „Käfterchen“ wohl Dialekt und mir völlig unbekannt.

Auf Seite 422 wurde „Galaxy“ nicht eingedeutscht.

Auf Seite 580 (in „Die Plapperin“) wählte der Übersetzer statt „Beamtin“ lieber „Beamte“, was nicht gerade geläufig ist. In der Novelle „Wahre Namen“ wählt er den Ausdruck „Bullette“ für „weibliche Polizistin“, was ein Wortspiel mit „Bullette = Hamburger = Frikadelle“ sein soll. Darüber lässt sich streiten.

Auf Seite 648 ist vom Ansible als einem „Überlicht-Radio“ die Rede. Gemeint ist aber ein Überlicht-Funkgerät, denn ein Radio kann nicht senden (höchstens nach illegalem Umbau).

Seite 236 weist einen kuriosen Satz auf, der ein Mischmasch aus Passiv- und Aktivkonstruktion ist: „Sie beharrten darauf, dass sie arbeiten müssten, wo und wie man es sie es geheißen wurden.“

Auf der gleichen Seite: „begann ihnen der Zahl zu tropfen“. Scheint eine Ossi-Redensart zu sein und könnte „begann ihn der Mund wässrig zu werden“ bedeuten.

Auf Seite 747 soll sich jemand (selbst) promovieren. Entweder er promoviert (per Dissertation zum Doktor) oder er wird befördert. Was ist gemeint?

Auf Seite 758 erwähnt der Autor die berühmte Story „The Microcosmic God“ von Theodore Sturgeon. Leider zitiert der Übersetzer den deutschen Titel falsch: Er schreibt „Der kleine Gott“ statt „Der Gott des Mikrokosmos“. Wozu gibt es eigentlich deutsche SF-Lexika?

Was fehlt

Es gibt leider kein Glossar für die Texte, denn der jeweilige Übersetzer hat die Erklärungen für schwierige Begriffe in den Text integriert. Da es nicht um einen Klassikerband etwa von Asimov oder Heinlein handelt, gibt es auch kein Nachwort eines anderen Herausgebers. Das heißt, dass der Leser die Bewertung und Einordnung der Erzählungen selbst vornehmen muss. Die Erzählungen stehen für sich allein.

Unterm Strich

Die Kurzromane „Wahre Namen“ und „Die Plapperin“ sind ganz klar die Höhepunkte dieser umfassenden Storysammlung und ein definitiver Grund, sich dieses Buch zu besorgen. „Die Plapperin“ Kurzroman führt den Leser zu den großen, mehrfach ausgezeichneten Romanen „Ein Feuer auf der Tiefe“ und „Eine Tiefe am Himmel“ hin – großen Space Operas mit riesigen Weltentwürfen, aber auch spannender Action, wie man sie in der Science Fiction der 1930er Jahre noch wagte. „Wahre Namen“ liest sich wie ein Vorläufer zu William Gibsons Cyberspace-Romane und ist deshalb nur noch halb so interessant. In der zweiten Hälfte ist der Kurzroman jedoch sehr spannend.

Die anderen Erzählungen sind auch recht nett und durchaus unterhaltsam und zum Nachdenken anregend, besonders „Gerechter Frieden“ und „Absonderung“.Auffällig ist die Häufigkeit bewaffneter Konflikte darin oder deren Nachwehen. Deshalb geht es stets um grundlegende Zustände der gesamten Menschheit, selten um Einzelschicksale wie in „Edelstein“. Am anstrengendsten ist sicherlich die Novelle „Das Cookie-Monster“, weil sie weitreichende Kenntnisse in der Informatik voraussetzt.

Ausgezeichnet gefiel mir die Novelle „Der Lehrling des fahrenden Händlers“, weil sie sehr flüssig zu lesen ist und in einem Fantasy-Ambiente einen Science-Fiction-Idee präsentiert. Obeendrei ist sie spannend, anschaulich, überraschend und sogar humorvoll – also rundum gelungen. Zur Hälfte hat man dies der Autorin Joan D. Vinge zu verdanken.

Es gäbe noch zahlreiche weitere Stories zu bewerten, aber ich will es bei diesen Hervorhebungen bewenden lassen. Wer interessante Ideen sucht, die auch für unsere Zeit von Bedeutung sind, der findet sie sicherlich bei Vernor Vinge. Er kann auch stellenweise eine Herausforderung darstellen. Entweder man stellt sich ihr oder lässt Vinge sausen.

Taschenbuch: 796 Seiten
Originaltitel: The Collected Stories of Vernor Vinge, 2001; True names… and other dangers (1987), Threats… and other promises (1988)
Aus dem Englischen von Erik Simon, Joachim Körber, Hannes Riffel, Sylvia Pukallus, Werner Vetter und Franziska Zinn.
ISBN-13: 9783453521322

www.heyne.de

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