Hans J. Nissen, Peter Heine – Von Mesopotamien zum Irak

Der alte Name des Irak war Mesopotamien und dieses gilt als Wiege der Menschheit, weil dort schon lange vor der sumerischen und babylonischen Kultur eine Zivilisation bestand. In dieser kurzen, aber sehr prägnanten Zeitreise führen die beiden Autoren durch die gesamte kulturelle, religiöse und politische Geschichte dieses Landes, das von sehr vielen wechselseitigen Völkern belebt und regiert worden war.

Alle Errungenschaften unserer gegenwärtigen Kultur haben dort ihre Wurzeln, bereits 3000 Jahre vor Christus war das ganze Wissen der damaligen Welt in schriftlicher Form niedergelegt. Die ursprünglichen Götter wie Enki, Enlin, Innana oder Marduk setzen noch heutzutage mit ihren Geschichten die Gefühle der Menschen in Bewegung, als hätten sie nichts von ihrer Kraft verloren. Sogar um die Zeit von Christi Geburt waren die irakischen Städte noch die Metropolen der damaligen Welt. Dort befand sich auch die größte Bibliothek der Welt, in der die ganze Weisheit der damaligen Zeit zusammengetragen war, verkörpert in der Omen-, das heißt Voraussageliteratur, in Texten der Astronomie und Astrologie, der Medizin, in Vorschriften für Rituale und Beschwörungen und vor allem in den großen literarischen Werken.

Zu nennen sind insbesondere das Weltschöpfungs- und das Gilgamesch-Epos. Auch den aus der Bibel bekannten „Turm zu Babel“ hat es dort historisch gegeben, er war das größte und höchste Bauwerk auf dem Boden des alten Vorderen Orients. Die in derselben Erzählung präsentierte Erklärung für den Ursprung der Sprachverwirrung hat auch ganz nachvollziehbare Gründe, denn im Babylon des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts waren wahrscheinlich mehr Sprachen vertreten als irgendwo anders. Babylon war die Weltstadt der damaligen Zeit. Die monumentalen Bauwerke waren einzigartig, z. B. auch die so genannten „Hängenden Gärten der Semiramis“, die später zu den sieben Weltwundern gezählt wurden.

Religiös war es aufgrund des globalen Charakters natürlich ebenso vielfältig wie tolerant, wodurch zweihundert Jahre nach Christus Mani seine eigene Religion aus einer Mischung von zoroastrischen und christlichen Elementen stiften konnte. Zwar wurde er später hingerichtet, weil der Zoroastrismus alle Manichäer und Christen verfolgte und sich zur Staatsreligion erklärte, aber der Manichäismus breitete sich danach auch von Ägypten bis Zentralasien aus. 500 Jahre nach Christus entwickelte sich eine ganz eigene persische christliche Kirche, die sich auf den Nestorianismus als Grundlage festlegte. Genauso waren auch die Juden im Irak bedeutend, denn dort entstand der „babylonische Talmud“, die umfangreichste Sammlung jüdischer religiöser Gelehrsamkeit, die in den rabbinischen Akademien Babylons zwischen dem fünften und siebten Jahrhundert ihre kanonische Form annahm.

Für unsere heutige politische Themenproblematik ist allerdings die Zeit der islamischen Eroberung von 622 – 1258 das wichtigste Kapitel in der Historie des Buches. Mohammed wurde sehr schnell angenommen und der Islam erkennt ja seit jeher auch Juden, Christen und Zoroastrier als Angehörige einer Offenbarungsreligion an. Deren heilige Bücher werden von Muslimen ebenfalls als Wort Gottes betrachtet und nur dort, wo die Aussagen des Korans sich unterscheiden, sagen die Muslime, dass die Juden oder Christen ihre heiligen Texte manipuliert hätten. Jedenfalls vertrat der Islam eine sehr liberale Haltung gegenüber Andersgläubigen. Der schwerste interne Konflikt unter den Muslimen ereignete sich ebenfalls im Irak: die Spaltung in Sunniten und Schiiten.

Der Prophetenenkel Hussein starb den Märtyrertod in der Schlacht von Kerbala. Die Mehrheit der Schiiten gehört zur Gruppe der Zwölfer-Schiiten und bis auf einen sind alle zwölf Imame auch im Irak bestattet. Die Städte Kerbala, Najaf, Kazimiya und Samarra sind deswegen von großer Bedeutung für den gesamten Islam. 1258 wurde der Irak allerdings von den Mongolen zerstört, vor allem auch die komplexen Bewässerungssysteme, die seit Jahrtausenden den Wohlstand gesichert hatten. Da dabei auch das mündlich tradierte Wissen um das Betreiben dieser Systeme verloren ging, erholte sich der Irak bis zum Ende des 20.Jahrhunderts nicht mehr von dieser Katastrophe und Bagdad sank zu einer wenig bedeutenden Provinzstadt herab.

Obwohl viele sich bekriegende Strömungen im Irak leben, ist die Entwicklung des Landes und des nationalen Bewusstseins ohnegleichen. Der Irak stand unter britischer Herrschaft, sympathisierte mit den Deutschen und beteiligte sich im zweiten Weltkrieg auch nicht in der Allianz gegen Deutschland. Zuvor gab es aber eine ähnliche Situation, wie wir sie jetzt wohl wieder haben. Die Spannungen zwischen der Bevölkerung und der britischen Besatzung führten zur Revolution von 1920, wo sich alle gegensätzlichen Gruppierungen im Kampf gegen die britische Verwaltung vereinigten: Schiiten, Sunniten, Juden, Christen, Araber, Kurden und Turkmenen. Sunnitische Gelehrte predigten in schiitischen Moscheen, und schiitische Mullahs nahmen an den sunnitischen Festen zum Geburtstag des Propheten Mohamed teil. Führende christliche und jüdische Geistliche in Bagdad besuchten die schiitischen Moscheen. Zwar wurde, wie jetzt auch wieder, der Aufstand militärisch niedergeschlagen, weil die Briten zum ersten Mal im Nahen Osten Militärflugzeuge einsetzen, aber 1921 wurde unter dem Mandat des Völkerbundes dennoch das Königreich Irak gegründet.

König Faisal konnte seinen Stammbaum auf den Propheten Muhammad zurückführen, aber er arbeitete zu eng mit den Briten zusammen. Sein Bruder Abdallah wurde übrigens König von Transjordanien. Die Schiiten waren gegen den britentreuen König und wurden trotz ihrer Mehrheit in der Bevölkerung wie eine Minderheit behandelt. Die irakische Regierung wurde von britenfreundlichen Sunniten gebildet, was die Spannungen verstärkte und die derzeitigen Probleme mit den Schiiten und Kurden überhaupt erst auslöste. Erst die britische Tolerierung der jüdischen Einwanderung nach Palästina brachte die Nationalisten im Irak auf.

Als britische Truppen 1941 das Land durchqueren wollten, wurden sie vom Irak angegriffen, der diesen Krieg natürlich verlor. Eine England-freundliche Regierung wurde eingesetzt, die in der Folge des Kalten Krieges von den Westmächten gegen die Staaten des Warschauer Paktes missbraucht wurde. Der Irak war gemeinsam im Bagdad-Pakt mit dem NATO-Staat Türkei, dem Iran und Pakistan. Das Aufkommen des arabischen Nationalismus mit dem Erfolg von Abd el-Nasser in Ägypten als Held der arabischen Massen und der Gründung der Baath-Partei in Syrien änderte aber auch die Meinung der irakischen Bevölkerung. Die Regierung wurde gestürzt und ein Revolutionäres Kommandorat beendete die Monarchie. 1968 kam die „Arabische Sozialistische Baath-Partei“ an die Macht. Es entstanden Gewerkschaften und Frauenverbände. Die Lebensbedingungen wurden verbessert mit einer Reform des Gesundheitswesens, der Einrichtung der Sozialversicherung, Siedlungen für die schiitischen Slumbewohner Bagdads. Die Schiiten fühlten sich erstmals gerecht behandelt. Aufgrund den sozialistischen Positionen näherte man sich Moskau an. Da Kuwait keine britische Kolonie mehr war, erhob man Anspruch auf dieses Land, womit man sich aber in der Liga der arabischen Staaten isolierte.

Die Ideologie der Baath-Partei lautete „Einheit, Freiheit, Sozialismus“. Unter Einheit verstand man die Einheit und Unverletzlichkeit der arabischen Welt zwischen Marokko und Irak, unter Freiheit die Unabhängigkeit von jedem fremden politischen, ökonomischen und kulturellen Einfluss und unter Sozialismus schließlich die Verstaatlichung der Grund- und Großindustrie. Kleingewerbe und Handel blieben privat. Der Ölschock von 1973 machte den Irak zu einem reichen Land. Die Baath-Partei initiierte verschiedene Programme für einen sozialen und technologischen Wandel. Neben der erfolgreichen Nationalisierung der Ölindustrie startete sie Alphabetisierungsprogramme und für alle Schichten wurden Vertretungsorganisationen gegründet: Frauen, Schüler, Studenten, Arbeiter usw. Im Ausland sprach man beobachtend merkwürdigerweise von einer „Entwicklungsdiktatur“.

1979 wurde Saddam Hussein Präsident, besaß aber keine militärischen und außenpolitischen Erfahrungen. Die USA verleitete ihn zu einem Krieg gegen den Iran, wo gerade die „islamische Revolution“ unter Ayatollah Khomeini stattgefunden hatte. Dieser Krieg war verlustreich und ohne Sieger, der Irak war danach wirtschaftlich und politisch sehr geschwächt. 1990 wurde Hussein von den USA erneut betrogen und ihm war suggeriert worden, dass er grünes Licht für den Einmarsch in Kuweit bekommen hätte. Völlig überraschend für den Irak vertrieb die alliierte Streitmacht unter Führung der USA die irakischen Truppen aus dem Emirat. Auch die anderen irakischen Bevölkerungen wurden missbraucht. Die USA stiftete die Kurden und Schiiten zu einem Sturz der Baath-Regierung an und ließ sie schmählich im Stich. Die Aufstände wurden von Hussein niedergeschlagen. Es folgte das Embargo des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das schwere wirtschaftliche und soziale Folgen hatte. Die direkten und indirekten Opfer in der Zivilbevölkerung waren erheblich und harren noch der Dokumentation.

Nach dem 11. September 2001 warfen die USA dem verarmten Irak vor, Terroristen unterstützt zu haben und über Massenvernichtungsmittel zu verfügen. Im März 2003 begann die Besatzung des Irak und die Vorwürfe erweisen sich bis heute als haltlos. Die Tage nach dem Sturz der Regierung waren von Anarchie, Plünderungen und Brandschatzungen geprägt, die die gesamte politische und geistige Infrastruktur des Landes vernichtet haben. Ein wichtiger Teil der Geschichte der gesamten Menschheit und ihres kulturellen Gedächtnisses ist mit den Verwüstungen in Bagdad verloren gegangen. Es bleibt eine Schande nicht nur für die Eroberer, sondern für alle, die sich dem politischen und gesellschaftlichen System des Saddam Hussein überlegen fühlten, dass sie nicht in der Lage waren, diese unersetzlichen Schätze zu schützen. Die Alliierten haben keinerlei konkrete oder durchführbare Pläne gehabt, was mit dem Irak nach dem Krieg geschehen sollte. Die Zukunft einer Region, die auf eine achttausendjährige kulturelle und zivilisatorische Vergangenheit zurückschauen kann, sieht düster aus.

Mehr Informationen:

Mesopotamien http://de.wikipedia.org/wiki/Mesopotamien
Irak http://de.wikipedia.org/wiki/Irak
Sumer http://de.wikipedia.org/wiki/Sumer
Babylon http://de.wikipedia.org/wiki/Babylon
Gilgamesch-Epos http://de.wikipedia.org/wiki/Gilgamesch-Epos
Zoroastrismus http://de.wikipedia.org/wiki/Zoroastrismus
Manichäismus http://de.wikipedia.org/wiki/Manich%C3%A4ismus
Nestorianismus http://de.wikipedia.org/wiki/Nestorianismus
Islam http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Islam
Saddam Hussein http://de.wikipedia.org/wiki/Saddam__Hussein

Taschenbuch: 208 Seiten
Wagenbach, Oktober 2003
ISBN: 3803124832