_Das geschieht:_
In acht Geschichten lässt der Verfasser nackten Horror in trügerische Idyllen einfallen.
|So bleich, so kalt, so tot| („So Pale, So Cold, So Fair“), S. 7-26: In Athen lässt sich alles zu Geld machen, aber manchen Handel überlebt der Verkäufer nicht …?
|Das Gottesgeschenk| („The Godsend“), S. 27-43: Sie erscheint im goldrichtigen Moment, um auf das Kleinkind aufzupassen, weshalb die gestressten Eltern die Herkunft dieses Babysitters nicht so gründlich wie nötig überprüfen …
|Bello| („Rover“), S. 44-49: Er ersetzte seiner blinden Gattin Zeit seines Lebens die Augen, und zumindest auf die will sie nach seinem Tod nicht verzichten …
|Das Kinderfest| („Circle of Children“), S. 50-62: Ein gewaltiges Freudenfeuer und der Auftritt einer sehr überzeugenden Hexe – was kann damit bei einem Kinderfest schon schiefgehen …?
|Lots Weib| („Lot’s Wife“), S. 63-71: Sie machte ihrem Ehemann das Leben zur Hölle, weshalb seine Rache teuflisch ausfällt …
|Gideon| („Gideon“), S. 72-82: Die betrogene Gattin ist Notärztin und wartet geduldig, bis ein Unfall ihr die Nebenbuhlerin ausliefert …
|Eine faszinierende Schönheit| („A Hunting Beauty“), S. 83-103: Als selbst der Mord an der Rivalin ihr den Geliebten nicht zurückbringt, zieht die erzürnte Jacqueline die Terror-Schraube ein wenig zu fest an …
|Der Gott der Zuflucht| („Lords of the Refugee“), S. 104-126: Dieser Missionar legt auf einer Pazifik-Insel nach Ansicht der Bewohner zu viel Pflichtbewusstsein an den Tag und übersieht gleichzeitig, wie abgelegen dieser Ort ist …
_Die Lust am elegant servierten Schrecken_
Die „conte cruel“ oder „Schauergeschichte“ bezeichnet eigentlich ein Literaturgenre des 19. Jahrhunderts. Formal und inhaltlich wiegt der Verfasser seine Leser durch die Schilderung scheinbarer Alltäglich- und Nebensächlichkeiten in trügerischem Frieden. Naht das Ende, geschieht plötzlich Schreckliches, das gern plakativ, d. h. blutig und grausig ausfallen darf. Wenn dies gelingt und der Autor seinem Publikum einen (unterhaltsamen) Schrecken einjagen konnte, hat er das angestrebte Genre-Ziel erreicht, wobei Zurückhaltung oder die Einhaltung des sog. „guten Geschmacks“ zwar ausgeklammert blieben, der Verfasser das Grauen jedoch durch (schwarzen) Humor konterkarierte und ihm auf diese Weise ein Ventil schuf.
Da der Schock-Effekt auch einer modernen Leserschaft genehm ist, starb die Schauergeschichte nicht aus. Sie wandelte sich und passte sich den geänderten Zeitläufen an, was erwartungsgemäß vor allem bedeutete, dass der Schock an Intensität und Härte zunahm. Das finale ironische oder humoristische Element blieb ebenfalls erhalten.
Zu den modernen Meisters der Schauergeschichte gehören u. a. Robert Bloch (1917-1994), Roald Dahl (1916-1990) und Charles Birkin (1907-1986). Während Bloch und Dahl auch hierzulande mit ihren bösen Stories bekannt wurden, blieb Birkin, der ihnen durchaus gewachsen ist, in Deutschland fast gänzlich unbekannt. Nur zwei schmale Bände mit Erzählungen erschienen Anfang der 1970er Jahre. Sie sind immerhin repräsentativ und verdeutlichen, wieso Birkin in Großbritannien als Klassiker gilt und seine Werke präsent blieben.
|Der Alltag als Brutstätte des Todes|
Grausame Überraschungen auch in der modernen Gegenwart zwar nicht alltägliche aber doch mögliche Zwischenfälle. Birkin verwurzelt seine Geschichten sorgfältig in der meist idyllischen Welt der (englischen) Mittelklasse. Er nimmt sich viel Zeit, sie ausführlich zu schildern, und verliert sich dabei in Details, die mit der Handlung nur wenig zu tun haben – scheinbar, denn sie komplettieren das Bild des Friedens, das dem Verfasser wichtig ist: Der Leser lernt den Ort der Handlung ihre Figuren kennen und wird gleichzeitig ein wenig eingelullt.
Plötzlich kippt die Stimmung um. Nachträglich ist es möglich, diesen Moment im Text wiederzufinden: Birkin zieht die Samthandschuhe aus. Misstöne ziehen in das harmonische Geschehen ein, und sie werden stetig schriller. Unbehaglich verfolgt der Leser die Entstehung einer Situation, die nicht nur unerwartet, sondern auch unaufhaltsam ist. Die Normalität entpuppt sich als Fassade, hinter der sich höllische Abgründe auftun.
Der Höhepunkt ist fast schon identisch mit dem Finale. Birkin kennt nun keine Zurückhaltung mehr, er schont um des Effektes wegen weder Babys noch schwangere Frauen, schändet Leichen oder pumpt allzu vertrauensselige Touristen blutleer. Es wird brutal, blutig und oft schlicht widerlich. Der Kontrast zur Vorgeschichte könnte – und soll – nicht größer sein. Macht Birkin es richtig, fühlt sich der Leser nicht nur unterhalten. Geschichten wie „Das Gottesgeschenk“, „Bello“ und vor allem „Das Kinderfest“ hinterlassen zudem ein deutliches Gefühl des Unbehagens.
Ein solcher Doppel-Erfolg gelingt naturgemäß selten, zumal Birkin nicht nur oder immer erschrecken will. „Lot’s Weib“ oder „Der Gott der Zuflucht“ sind „nur“ Geschichten mit böser aber lustiger Auflösung. Mit „So bleich, so kalt, so tot“ oder „Eine faszinierende Schönheit“ schafft Birkin den Spagat zwischen Vorbereitung und Final-Effekt nicht; der eine ist in seiner Absurdität zu unglaubhaft, und der andere lässt das Intrigen-Opfer dem Wahnsinn verfallen, was zu vielen schlechten Autoren als billiger Ausweg dient.
|Andere Zeiten, andere (Un-) Sitten|
Vielleicht sollte man besser von „politisch unkorrekten“ Untaten sprechen, denn zu den Exzessen des Splatterpunks späterer Horror-Jahre klafft doch eine deutliche Lücke. Bekanntlich gibt es einen angelsächsischen, d. h. gleichzeitig schwarzen und trockenen Humor. Berühmt sind die Briten auch für ihr Talent, selbst Schreckliches deutlich aber trotzdem zurückhaltend darzustellen. Als „So bleich, so kalt, so tot“ 1970 erschien, war Charles Birkin seit vier Jahrzehnten im Literaturgeschäft. Obwohl er sich sichtlich bemüht, die Gegenwart in seine Geschichten einfließen zu lassen, wirken kurze Momente sexueller Offenherzigkeit etwas bemüht und aufgesetzt. Auf diese Art zu schockieren ist Birkins Ding eindeutig nicht.
Auch sonst stammt er nicht aus dem „Swinging London“ der späten 1960er Jahre. In Birkins literarischer Welt ist ein uneheliches Kind noch ein gesellschaftliches Todesurteil. Dies muss man verstehen, um die Verbissenheit zu begreifen, mit der sich die beiden weiblichen Protagonisten in (und um) „Gideon“ streiten oder Jacqueline in „Eine faszinierende Schönheit“ notfalls durch Mord Hindernisse auf dem Weg zur „ehrbaren“ Ehefrau ausräumt.
Ohnehin mögen feministisch engagierte Leser/innen über manche Geschichte die Stirne runzeln. Um 1970 steckte die Gleichberechtigung noch in den Kinderschuhen, wofür der Verfasser (sicherlich unfreiwillig) zahlreiche Belege liefert. Dies ist aber nur ein Indiz dafür, dass die Schauergeschichte à la Charles Birkin veraltet ist. Sie hat im 21. Jahrhundert ihre Relevanz verloren und an Schockwirkung eingebüßt. Nichtsdestotrotz gefällt Birkin durch die Kunstfertigkeit, mit der er die Worte zu setzen weiß, mit denen er sein Publikum erst einlädt, um es schließlich in Angst & Schrecken zu versetzen!
_Autor:_
Sir Charles Lloyd Birkin (geb. 1907), ab 1942 „5th Baronet of Ruddington Grange in the County of Nottingham“, studierte als Spross eines (allerdings nicht sehr alten) Adelsgeschlechtes standesgemäß in Eton und kämpfte mit seinem Regiment – den „Sherwood Forresters“ – im Zweiten Weltkrieg.
In den frühen 1930er Jahren gab Birkin für den Verlag Philip Allan zahlreiche Anthologie-Bände der berühmten „Creeps Library“ heraus. Unter dem Pseudonym „Charles Lloyd“ schrieb er selbst für diese Reihe. Seine Geschichten stehen den „contes cruels“ („Schauergeschichten“) des 19. Jahrhunderts näher als dem „richtigen“ Horror und setzen auf einen sorgfältig vorbereiteten, drastischen Schlusseffekt.
In den 1960er und 70er Jahren wurde Birkin erneut schriftstellerisch und als Herausgeber aktiv. Inzwischen verheiratet, verbrachte er seine späteren Lebensjahre in Sulby auf der Insel Man. Dort ist er 1985 gestorben.
|Taschenbuch: 126 Seiten
Originaltitel: So Pale, So Cold, So Fair (London : Tandem 1970)
Übersetzung: Jutta von Sonnenberg
Deutsche Erstausgabe: 1972 (Wilhelm Heyne Verlag/Heyne Allgemeine Reihe 01/947)
ASIN: B0027TPE1C|
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