Gerritsen, Tess – Todsünde

In einer Klosterkapelle wird eine Nonne erschlagen, eine zweite kommt knapp mit dem Leben davon. Wenige Tage später muss die Pathologin Dr. Isles eine zweite Frauenleiche untersuchen: Die „Rattenfrau“ hatte Lepra. Erstaunlicherweise haben die beiden Verbrechen miteinander zu tun.

_Die Autorin_

Tess Gerritsen war eine erfolgreiche Internistin, bevor sie mit dem Medizinthriller „Kalte Herzen“ einen großen Erfolg errang. Es folgten mehrere mittelmäßige Thriller wie „Roter Engel“, die durchaus spannend zu unterhalten wissen.

Mit dem Bestseller „Die Chirurgin“ ist ihr auch der Durchbruch in Deutschland gelungen, denn dieser Thriller ist noch eine ganze Klasse härter: Der Mörder entfernt seinen weiblichen Opfern die Gebärmutter. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Meister“, und „Todsünde“ ist der dritte Roman mit Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department.

Gerritsen lebt mit ihrem Mann, dem Arzt Jacob Gerritsen, und ihren beiden Söhnen in Camden, im US-Bundesstaat Maine.

_Handlung_

Die ersten Schneefälle lösen in Boston, Massachusetts, ein mittleres Verkehrschaos aus, und die Weihnachtsvorbereitungen tragen sicher nichts dazu bei, das Chaos zu verringern. Deshalb ist die Gerichtspathologin Dr. Maura Isles, von ihren Kollegen liebevoll „Königin der Toten“ genannt, auch heilfroh, lebendig an einem neuen Tatort anzukommen statt im Graben zu landen.

In der alten Graysones Abbey, einem Nonnenkloster am Stadtrand, soll Maura die Leiche einer Novizin namens Camille Maginnes untersuchen; der jungen Frau wurde in der Kapelle des katholischen Klosters brutal der Schädel eingeschlagen. Eine weitere Nonne, Schwester Ursula, überlebte den Überfall schwer verletzt und liegt auf der Intensivstation. Pater Brophy von der katholischen Gemeinde hat ebenfalls keine Erklärung. Maura fühlt sich unerklärlich zu ihm hingezogen. Sie ist einsam.

Die Befragung der wenigen verbliebenen Nonnen erbringt nichts, erst als Maura und Detective Jane Rizzoli vom Boston PD die freche Tochter der Haushälterin befragen, ergeben sich ein paar Anhaltspunkte. Auf dem Dachboden der Quartiere befinden sich nicht nur Dutzende von Spielzeugpuppen, sondern auch Löcher, durch die man in die Stuben der Nonnen spähen kann. Und die kleine Noni erzählt, die junge Camille habe sich stets gegeißelt und ihre Stube wie besessen geschrubbt und in einem Buch zu Sankt Brigitta von Irland gebetet.

Ein scheinbar unwichtiger Hinweis, doch Brigitta ist die Schutzheilige der Neugeborenen… Als Maura die Autopsie an Camille vornimmt, stellt sie erstaunt fest, dass die junge Frau, die ihre Brüste so fest abband, dass es geschmerzt haben musste, kurz zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte. Da auch Nonnen ebenso wie Priester an das Keuchscheitsgelübde gebunden sind, ist dies ein sehr verwunderliches Ergebnis. Und wer war dann der Vater? Pater Brophy vielleicht?

Rizzoli ordnet die Durchsuchung des Klostergeländes an. Wieder liefert Noni den wichtigsten Hinweis: Im Ententeich versenkte die unglückliche Camille ihren Säugling. Als Maura das Baby aus seiner Decke wickelt, um die Autopsie vorzunehmen, bricht Rizzoli vor Entsetzen zusammen. Sie hat selbst vor wenigen Stunden festgestellt, dass sie schwanger ist – von ihrem Ex-Freund Gabriel Dean, FBI (vgl. „Der Meister“) – und weiß nicht, ob sie das Kind behalten soll.

Nachdem Mauras Ex-Mann Victor Banks, ein vielbeschäftiger Koordinator für Entwicklungshilfeprojekte von „One Earth“, wieder aufgetaucht und sie seinem Charme erneut verfallen ist, wird sie schon zum nächsten Tatort gerufen. In einer ziemlich grausigen, rattenverseuchten Umgebung unweit von Graystones Abbey hatte ein Drogenfahnder zufällig eine Frauenleiche entdeckt. Dem Körper fehlen jedoch das Gesicht, die Hände und die Füße. Um die Identität zu verschleiern, muss man aber keine Füße amputieren, oder? Maura rätselt auch über zahlreiche Hautpusteln. Nach Hinzuziehung einer Expertin steht der schlimme Befund fest: Diese Frau hatte Lepra.

Und da Schwester Ursula mal fünf Jahre in Indien an einer Lepraklinik gearbeitet hatte, besteht möglicherweise ein Zusammenhang. Als Jane Rizzoli und Maura von Gabriel Dean Fotos erhalten, die diese Leprakolonie nach einem verheerenden Massaker – alle Leprakranken sowie die behandelnden Schwestern wurden verbrannt – zeigen, stellt Maura beklommen fest, dass es sich um eine Klinik von |One Earth| handelt. Ist ihr Lover Victor Banks etwa in die Vorgänge verwickelt?

_Mein Eindruck_

Ich habe diese 400 Seiten innerhalb nur eines Tages gelesen, so flott sind sie zu lesen – es lag nicht nur an der großen Schrift. Aber das wundert mich nicht, denn auch schon die beiden anderen Rizzoli-Romane „Die Chirurgin“ und die direkte Fortsetzung „Der Meister“ waren ebenfalls superspannend und leicht zu lesen.

„Todsünde“ unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von seinen Vorgängern. Zum einen steht diesmal nicht Jane Rizzoli im Mittelpunkt des Geschehens, sondern Dr. Maura Isles, die „Königin der Toten“. Sie muss sich mit ihren eigenen Lebenszielen auseinandersetzen, als ihr Ex Victor entgegenhält, er selbst kümmere sich lieber um die bedürftigen Lebenden – und deshalb sei wohl ihre Ehe gescheitert. Sie hingegen weiß, dass er nie für sie da war, denn er musste sich ja um seine superwichtigen Entwicklungsprojekte kümmern. Deshalb weiß sie nicht, was sie von seinem Versuch halten soll, sie zurückzugewinnen. Sex ist zwar gut für das Wohlbefinden, aber was verbindet sie sonst noch?

Auch die drei neuen Fälle halten sie in Atem. Diesmal geht es nicht um Sex- und Todesspiele mit Reichen wie in „Der Meister“ oder um verstümmelte Frauen wie in „Die Chirurgin“, sondern um zwei eher entlegene Gebiete, nämlich Nonnen und Lepra. Allerdings wird sich noch ein weiterer Abgrund auftun, der viel näher an der aktuellen Realität liegt.

Stichwort Nonnen: Die Novizin Camille hat in den Augen der anderen Nonnen eine Todsünde begangen, als sie mit einem Mann zusammen war und ein Kind bekam. Aber ist sie wirklich der Sünde schuldig? Ist es möglicherweise Pater Brophy, der von sich selbst zugibt, hin und wieder Momente der Schwäche zu erleben? Wie jeder in Boston weiß, haben sich Priester an kleinen Jungen und Mädchen sexuell vergangen. Ist er einer von ihnen? Als Rizzoli den extrem reichen Vater von Camille, Randall Maginnes, besucht, wird ein weiterer Verdacht geweckt. In dieser Familie gingen rätselhafte Dinge vor.

Aber war nicht auch der Überfall auf die Leprastation in Indien eine Todsünde? Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere wurden getötet und auf Scheiterhaufen verbrannt. Das soll ein politisch oder religiös motivierter Terroranschlag gewesen sein? Bullshit, denkt Maura Isles, als sie den Schriftzug „One Earth“ auf dem Foto der Lepra-Klinik entdeckt…

Während sich die Spannungen in den Privatleben der beiden Hauptfiguren zu einer Krise steigern, kommt es auch in den Untersuchungen zum Finale – und dabei gerät Maura in Lebensgefahr. Auffällig sind dabei die Parallelen zu Novizin Camilles traurigem Schicksal. Und auch Schwester Ursulas Leben steht offenbar auf dem Spiel: Sie war die einzige Zeugin am Tatort in der Kapelle. Doch warum hat sie überlebt und Camille nicht?

_Unterm Strich_

Trotz des etwas abgedroschenen Titels hat dieses Buch rein gar nichts mit einem Thriller à la „Sieben“ zu tun, in dem ja auch die sieben Todsünden den Anlass für die Handlung abgeben. Der Begriff „Todsünde“ wird bei Gerritsen viel weiter gefasst und uminterpretiert. Es gibt Sünden der Neuzeit, die sich nicht ohne weiteres aufdecken, bestrafen und „abwaschen“ lassen. Camilles angebliche Sünde fällt dagegen richtig altmodisch aus – und ist leider allzu verbreitet. Der Originaltitel „The Sinner“ kann sowohl eine Frau als auch einen Mann meinen. Das hat die Autorin sicherlich listigerweise beabsichtigt.

|Verschmelzung der Themen|

Ich fand die Lektüre diesmal befriedigender als „Der Meister“, wenn auch nicht so schockierend wie „Die Chirurgin“. Die Zufriedenheit beruht vor allem auf der nahezu vollkommenen Verschmelzung des Themas der Verbrechensaufklärung durch Rizzoli und Maura mit dem Thema der privaten Selbstverwirklichung durch Bewältigung akuter Probleme (Mauras Ex-Mann, Rizzolis Schwangerschaft). Die zwei Welten sind so perfekt miteinander verwoben, dass kaum noch die Trennung wahrnehmbar ist.

|Die Klippen der Klischees|

Der besonders kritische Leser wird aber merken, dass das Thema „katholische Kirche“ von der Autorin mit Samthandschuhen angefasst wird, weil hier nämlich sämtliche Klischees lauern, die die Medien durchgehechelt haben (Missbrauch etwa) – und diese Klippen gilt es zu umschiffen, um nicht abgedroschen zu wirken. Zum Glück haben Maura (aufgezogen in der Klosterschule) und Rizzoli (eine Italienerin) genügend eigene Erfahrung mit der katholischen Kirche, dass der Eindruck vermieden wird, hier würden nur Klischees neu aufgewärmt, im Gegenteil. Es sind genau diese Erfahrungen, die Pater Brophy und die Nonnen für uns so interessant machen – ein wichtiger Pluspunkt für das Buch.

|Ein Weihnachtsmärchen|

Ganz, ganz clevere Leser werden nicht übersehen, dass es sich bei „Todsünde“ um eine moderne Variante von Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ handelt. Doch nicht drei „Geister der Weihnacht“ treten auf, um einen Sünder zu bekehren, sondern mehrere Sünder und Heilige tauchen auf – ausgerechnet zu jener Zeit des Jahres, da die Geburt des Jesuskindes gefeiert werden soll. Leider entpuppen sich mitunter die Sünder als die Opfer und die Heiligen als Schuldige.

In diesem Erkenntnis- und Erfahrungsumfeld müsssen sich unsere beiden Heldinnen entscheiden. Will Jane Rizzoli ihr ganz privates Jesuskind behalten oder es wie Camille umbringen? Und Maura muss über ihren Ex-Mann urteilen, ob er er ein Heiliger (Entwicklungshelfer etc.) und Dreamlover oder doch ein Sünder ist. Spannend ist dies allemal.