Deaver, Jeffery – Insektensammler, Der

Menschenjagd mit Hindernissen

Dies ist in der Tat ein „komplexer psychologischer Thriller“, wie es der Klappentext verspricht: Nichts ist wirklich so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die unscheinbare Kleinstadt im Hinterland der amerikanischen Ostküste ist ein wahres Hornissennest. Überraschungen tauchen dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet oder gebrauchen kann – bis zur letzten Seite.

Der Autor

Jeffery Deaver ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Thriller-Autoren. Seine wichtigste Figur ist der querschnittsgelähmte Ermittler Adrian Lyme, so etwa in dem verfilmten Krimi „Der Knochenjäger“ (mit Denzel Washington & Angelina Jolie).

Deaver hat aber auch Polit- und Technik-Thriller geschrieben sowie diverse Pseudonyme benutzt. Zuletzt erschienen von ihm der Thriller [„Der faule Henker“ 602 im August 2004, ein klassisches Locked-Room-Mystery, und „Todesreigen“ im Mai 2005.

Die Lincoln-Rhyme-Reihe

1997 The Bone Collector. – Die Assistentin. dt. von Hans-Peter Kraft: Goldmann, München 1999, ISBN 3-442-41644-2. – auch als: Der Knochenjäger. dt. von Hans-Peter Kraft: Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-43459-9.

1998 The Coffin Dancer. – Letzter Tanz. dt. von Thomas Müller und Carmen Jakobs: Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-41650-7.

2000 The Empty Chair. – Der Insektensammler. dt. von Hans-Peter Kraft: Blanvalet, München 2001, ISBN 3-7645-0128-6.

2002 The Stone Monkey. – Das Gesicht des Drachen. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2003, ISBN 3-7645-0160-X.

2003 The Vanished Man. – Der faule Henker. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2004, ISBN 3-7645-0179-0.

2005 The Twelfth Card. – Das Teufelsspiel. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2006, ISBN 3-7645-0201-0.

2006 The Cold Moon – Der gehetzte Uhrmacher. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2007, ISBN 3-7645-0202-9.

2008 The Broken Window – Der Täuscher. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2009, ISBN 978-3-7645-0296-6.

2010 The Burning Wire. – Opferlämmer. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2011, ISBN 978-3-7645-0335-2.
2014 The Kill Room. – Todeszimmer. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2014, ISBN 978-3-7645-0482-3.

2014 The Skin Collector. – Der Giftzeichner. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2015, ISBN 3-7645-0538-9.

2016 The Steel Kiss – Der talentierte Mörder dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2017, ISBN 3-7645-0592-3.

2017 The Burial Hour – Der Komponist. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2018, ISBN 978-3-7645-0646-9.

2018 The Cutting Edge Hodder, ISBN 978-1-4736-1876-3 – Der Todbringer dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, 2019, ISBN 978-3-7645-0714-5.

_Handlung_

Amerikanische Ostküste, Bundesstaat North Carolina. Im ausgedehnten Sumpfgebiet am Paquenoke-Fluss wurde die junge Archäologin Mary Beth O’Connnell entführt. Dringend verdächtig ist der 16-jährige Darrett Hanlon, der schon einiges auf dem Kerbholz zu haben scheint und in der Gegend nur „Der Insektensammler“ genannt wird. Er ist ein sonderbarer Einzelgänger, der im Sumpf lebt und sich obsessiv mit „Ungeziefer“ beschäftigt. Selbst vor Hornissen hat er keine Angst, denn er setzt ihre Nester manchmal als Waffe ein.

Hornissenstiche haben einen Deputy Sheriff von Tanner’s Corner so vergiftet, dass er ins Koma fiel. Er konnte die junge schwarze Krankenschwester Lynda Johanson daher nicht mehr beschützen, als sie von dem Insektensammler entführt wurde. Merkwürdig ist es schon ein wenig, dass eine Krankenschwester sich an die Stätte eines Mordes begibt, um Blumen niederzulegen. Nun ist die Polizei unter Sheriff Jim Bell reichlich verzweifelt. Und sie greift daher zum letzten Strohhalm.

Lincoln Rhyme aus New York City und seine Assistentin Amelia Sachs sind nach North Carolina gekommen, damit er sich dort in einer Spezialklinik (wo auch Lynda Johanson arbeitet) an der Wirbelsäule operieren lassen kann. Rhyme ist seit einem Dienstunfall in New York City fast vollständig gelähmt. Seinen Spezial-Rollstuhl fährt er mit Hilfe einer „Strohhalmsteuerung“, die er mit dem Mund bedient. Nur den beredsamen Kopf und den linken Ringfinger kann er noch bewegen.

Sheriff Bell, der von seiner Anwesenheit erfahren hat, tritt an ihn heran und bittet Rhyme um Hilfe bei der Lösung des Hanlon-Falles. Rhyme sieht eine Chance, sich die Langeweile vor der Operation zu vertreiben und willigt ein, unter der Bedingung, die Untersuchung kriminalistisch leiten zu können.

Mit Rhymes‘ analytischem Verstand und seiner akribischen Spurensuche gelingt es ihm schon nach kurzer Zeit, mit Amelias Suchtrupp den Jungen in den Sümpfen aufzustöbern, ihn in die Enge zu treiben und schließlich in einer dramatischen Aktion zu verhaften. Lynda Johanson wird fast unversehrt befreit. So weit, so gut. Doch wo ist die Geisel des Jungen versteckt: Mary Beth McConnell? Muss sie etwa verdursten? Der Junge weigert sich im Gefängnis, dazu eine Aussage zu machen. Er sagt, er wolle Mary Beth nur beschützen. Und Amelia, die Muttergefühle in sich spürt, merkt, dass der Junge Angst hat.

Unvermittelt erhält der Fall eine unerwartete Wendung: Amelia Sachs wechselt die Seiten. Sie flieht mit dem befreiten Jungen zurück in die Sümpfe, wobei sie clever ihre Verfolger in die Irre führt (gelernt ist gelernt: Amelias Vater war Streifenpolizist). Plötzlich sieht sich Mr. Rhyme einem äußerst intelligenten Gegner gegenüber. Wird es ihm gelingen, Amelia und den Jungen zu finden und die verschwundene Mary Beth zu retten?

Doch retten muss er sie alle, wie er zu seinem Entsetzen herausfindet: Er ist von Anfang benutzt worden, um Zeugen großer Verbrechen in Tanner’s Corner zu finden, die von den Schergen eines mächtigen Hintermannes unschädlich gemacht werden sollen. Eine Wettlauf gegen die Zeit beginnt, als nicht weniger als drei Trupps Jagd auf Amelia und Garrett machen. Die Menschenjagd führt zu einem bleihaltigen Showdown im Sumpf.

Das ist natürlich noch nicht das Ende, denn der Leser fragt sich ja, ob Amelia Sachs für ihre Untat in die Gaskammer geschickt wird. In den Südstaaten sollte man offenbar damit rechnen, legt der Autor nahe.

_Mein Eindruck_

Am Anfang hatte ich meine Mühe, mit der leicht überheblich wirkenden Art des Chefermittlers Lincoln Rhyme zurecht zu kommen. Doch der Junge hat wirklich was auf dem Kasten, wie das Fortschreiten der Untersuchung zeigt. Seine Kompetenz bei der Spureninterpretation wird allgemein akzeptiert, doch Amelias Verhalten zeigt auch Rhyme, dass Spuren alleine nicht ausreichen: Sie können so und so gedeutet werden. Psychologie muss hinzukommen, damit aus den Hinweisen eine Geschichte wird. Und nicht einmal das muss zunächst die ganze Wahrheit sein – die Wirklichkeit hat Falltüren, wie Rhyme erkennen muss.

Mit dem Insektensammler Garrett Hanlon hat der Autor eine interessante Figur geschaffen. Der einsam lebende Waisenjunge selbst würde einem Schnüffler wie Rhyme kein Paroli bieten könne. Doch mit dem Wissen, das er sich aus Fachbüchern über Insekten angelesen hat, und der praktischen Erfahrung, die er sich erworben hat, schafft er es, Taktiken aus dem Insektenreich in sein Verhalten zu integrieren – so entkommen er und Amelia dem Zugriff der gesammelten Verfolgertrupps. Amelia staunt, wie viel sie selbst von Garrett lernen kann, um zu überleben.

Vertrauen zwischen ihr und dem Jungen entsteht vor allem durch eine Szene. Sie fordert ihn auf, sich einen leeren Stuhl (siehe Originaltitel!) mit jemandem darin vorzustellen, dem er gerne etwas sagen möchte. Dieser Akt der Vorstellungskraft ist Teil der Gestalttherapie und dient dazu, einen „Patienten“ zum Aussprechen seiner Sorgen und Anliegen zu bringen. Es funktioniert hervorragend, denn nun weiß Amelia, wer am Tod von Garretts leiblichen Eltern schuld ist. Vielleicht lebt sie lange genug, um es Rhyme sagen zu können.

Hornissennester sind nicht nur Waffen in diesem Buch, sondern auch ein Symbol. Rhyme und Amelia sehen die Mitglieder der sie umgebenden Verschwörung erst, als sie angegriffen werden – sogar noch auf dem Operationstisch! Ich finde es wenig glaubhaft, wenn Deaver eine gesamte Kleinstadt und somit die Südstaaten als amoralisch, korrupt und selbstmörderisch hinstellt. Logisch, dass dann die rettende Kavallerie aus dem Norden kommen muss. – Tennessee Williams und John Grisham haben weiter an diesem Bild gestrickt. Und Patricia Cornwell hat sogar einen Roman mit dem Titel „Die Hornisse“ veröffentlicht. Ihre Geschichten spielen bekanntlich in der alten Hauptstadt des Südens: nein, nicht in Atlanta, sondern in Richmond, Virginia.

_Unterm Strich_

Es wäre sicherlich unfair zu sagen, dass die Romanhandlung im Grunde aus lediglich zwei Menschenjagden (jedesmal auf den Titelhelden) bestünde. Das hieße, die Psychologie und die Kriminalistik unter den Tisch zu kehren.

Aber andererseits bezieht der Roman seine Spannung hauptsächlich aus dieser Action. Und zwar in solchem Maße, dass man die entsprechenden Seiten nur so durchrast, um herauszufinden, wie Amelias Flucht mit dem Jungen endet. Wie gesagt: Deaver hält danach noch einige Überraschungen bereit.

Jeffery Deaver: Diesen Namen sollte man sich merken.

|Originaltitel: The empty Chair, 2000
Aus dem US-Englischen übertragen von Hans-Peter Kraft|