H. P. Lovecraft – Die Literatur des Grauens. Ein Essay

Mit dieser meisterlichen Studie über die Geschichte der unheimlichen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart bewerkstelligt Lovecraft die Gratwanderung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und geistreicher Unterhaltung. Die Literatur des Grauens gilt gemeinhin als beste kurzgefaßte Darstellung des Genres. Mit einem handsignierten Porträt des Autors von Helmut Wenske. Limitierte Auflage von 1000 Exemplaren.

Der Autor

H. P. Lovecraft, 1890-1937, hatte ein Leben voller Rätsel. Zu Lebzeiten wurde er als Schriftsteller völlig verkannt. Erst Jahre nach seinem Tod entwickelte er sich zu einem der größten Horror-Autoren. Unzählige Schriftsteller und Filmemacher haben sich von ihm inspirieren lassen.

Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in Providence, Rhode Island, geboren. Als Howard acht Jahre alt war, starb sein Vater und Howard wurde von seiner Mutter, seinen zwei Tanten und seinem Großvater großgezogen. Nach dem Tod des Großvaters 1904 musste die Familie wegen finanzieller Schwierigkeiten ihr viktorianisches Heim aufgeben. Lovecrafts Mutter starb am 24. Mai 1921 nach einem Nervenzusammenbruch. Am 3. März 1924 heiratete Lovecraft die sieben Jahre ältere Sonia Haft Greene und zog nach Brooklyn, New York City. 1929 wurde die Ehe, auch wegen der Nichtakzeptanz Sonias durch Howards Tanten, geschieden. Am 10. März 1937 wurde Lovecraft ins Jane Brown Memorial-Krankenhaus eingeliefert, wo er fünf Tage später starb. Am 18. März 1937 wurde er im Familiengrab der Phillips beigesetzt. Nach seinem Tod entwickelte er sich bemerkenswerterweise zu einem der größten Autoren von Horrorgeschichten in den USA und dem Rest der Welt. Sein Stil ist unvergleichlich und fand viele Nachahmer. (abgewandelte Verlagsinfo)

Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen. Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne sind nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln„.

Inhalte

Vorwort von Kalju Kirde

Der Kritiker erklärt, worin die Besonderheit von Lovecrafts Werk und insbesondere der Aufbau des vorliegenden Essay liegt. Er weist aber auch auf Defizite hin, die im Buch Lücken hinterlassen, so dass bestimmte Klassiker fehlen. Außerdem lobt er die Ausgabe der Edition Phantasia, selbst wenn diese vor Druckfehlern nur so wimmelt.

Einführung von August Derleth

Der Herausgeber der Werke von Lovecraft erklärt, wie es zu diesem Buch überhaupt kommen konnte. Denn schließlich bestand die Urform aus einer Serie von einzelnen Artikeln, die Lovecraft 1926 für das Amateurmagazin „The Recluse“ verfasste, das von seinem Freund W. Paul Cook in Athol, Massachusetts, verlegt wurde. Der erste Essay erschien daher in der Erstausgabe anno 1927. Lovecraft wollte seinen Text überarbeiten, so dass 17 Folgen seines Essays 1933-1935 im Magazin „The Fantasy Fan“ erschienen. Oder vielmehr erscheinen sollten, denn es wurde vorzeitig eingestellt.

1938 erschien posthum mit „The Outsider and Other Stories” die erste Kurzgeschichtensammlung Lovecrafts, herausgegeben von August Derleth und Donald Wandrei im Verlag Arkham House. Als letzter Beitrag fand endlich der komplette, wenn auch nicht vollständig überarbeitete Essay Eingang in dieses Buch. Es ist seit 1944 nicht mehr lieferbar, teilt Derleth mit. Die bibliografischen Angaben lauten jedoch, dass schon 1945 die nächste Ausgabe bei Arkham House erschien, und zwar ergänzt durch einen sehr nützliches Stichwortregister. Auf dieser Ausgabe basiert die deutsche Übersetzung.

Kap. 0: Vorbemerkung

Lovecraft erklärt hier, worum es in einer Schauergeschichte geht oder vielmehr: gehen SOLLTE.
„Die älteste und stärkste Empfindung der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Form der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“
Im folgenden erläutert er seine verschiedenen Abgrenzungen: in den Emotionen, in ihrer literarischen Darstellung, in den darin verwendeten Begriffen, in den Wirkungen (siehe Poe) und vor allem dem, was Schauerliteratur NICHT ist, nämlich Okkultismus. Das mag für manchen Leser erstaunlich anmuten, aber Lovecraft verteidigt diese Ablehnung immer und immer wieder. Was guter Horror ist, sagt er auch, nämlich jener, der das Unbekannte „vom äußersten Rand des Universums“ kommend darstellt, also „Cosmic Horror“.

Kap. 1: Die Ursprünge der Gruselgeschichte

Vor der Schrift war das Wort, und das Wort wurde zunehmend von spezialisierten Geschichtenerzählern weitergetragen. Man nannte sie bei den Stämmen Schamanen und an den Höfen des Nordens Skalden, doch ihre Aufgabe war immer die gleiche: das Lob der Helden (v.a. des anwesenden Königs) zu besingen und den Teufel an die Wand zu malen. Kein einziger Gesang wurde aufgezeichnet, und das erste Heldengedicht schrieb ein christlicher Mönch auf: „Beowulf“. Monster wie Grendel aber interessieren Lovecraft nicht.

Teufel gab es schon in uralter Zeit: Er hieß Väterchen Frost, dann Baba Yaga, die listige Hexe und vieles mehr. Woran Lovecraft aber mehr interessiert ist, stellen die übernatürlichen Wesen dar, die die Grenze dessen überschreiten, was für Menschen natürlich ist: Wiedergänger, die Leichenbraut, den Werwolf bzw. Lykanthropen, den Vampir, das Totenreich und viele mehr. Solche Geschichte wurde zunächst episodisch weitergereicht, etwa bei Petronius, Homer, Apuleius. Dann kamen die mittelalterlichen Heldengedichte (s.o.), die Artus-Sage, schließlich die englische Renaissance. Geister und Hexen treten bei Shakespeare reihenweise auf. Bis Defoe und Smollet reicht Lovecrafts Aufzählung von Beispielen, doch erst im 18. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Aufklärung, entsteht der Schauerroman als dunkle Seite der Vernunft.

Kap. 2: Der frühe Schauerroman

Die „teutonischen Vettern“, wie Lovecraft die deutschsprachigen Autoren – seien sie nun aus den deutschen Fürstentümern und Stadtstaaten, aus Österreich, Liechtenstein oder der Schweiz – waren für den Trend empfänglich, doch ihm fehlt, außer ein paar vereinzelten Beispielen wie Bürgers Ballade „Leonore“, der Überblick und der Zusammenhang. Wenigstens erscheint ihm Goethes „Faust 1 und 2“ als absoluter Höhepunkt dieser Strömung – im nächsten Kapitel.

Nach all dem erscheint 1764 der Roman „The Castle of Otranto“ (S. 34/35) von Hugh Walpole, zunächst zwar anonym oder verschlüsselt, aber schließlich öffentlich als Produkt eines diplomatischen Weltmanns. Der Erfolg dieses Modells war so durchschlagend, dass sich sogleich Nachahmer einfanden, vor allem unter weiblichen Autoren. Von diesen war Ann Radcliffe die künstlerisch versierteste. Unter ihren sechs Romanen würdigt Lovecraft nur „The Mysteries of Udolpho“ aus dem Jahr 1794 als gelungensten (S. 35/36). Der Amerikaner Charles Brockdon Brown strich all das mittelländische Brimborium und verlegte die Handlung seines besten Romans „Wieland; or The Transformation“ (1789) nach Pennsylvania, wo es von deutschen Kolonisten nur so wimmelt. Sogar das entlegene Gut heißt Mittingen. Leider greift m Ende auch hier jene Konvention des Modells, dass alle rätselhaften und unheimlichen Phänomene eine (relativ) vernünftige Erklärung finden müssen; hier ist es ein Bauchredner als Übeltäter.

Kap. 3: Der Höhepunkt des romantischen Schauerromans

Der erste Hit des ausgehenden Jahrhunderts war zweifellos „The Monk“ von Matthew „Monk“ Lewis. „Sein anonym publizierter Schauerroman The Monk (1796) wurde sein erster großer Erfolg. Obwohl die meisten Rezensenten, darunter Coleridge, das Werk als schwülstig und unnatürlich ablehnten, andere Rezensenten gar von strafrechtlich zu ahndender Blasphemie und Obszönität sprachen, hatte es doch gerade auf Grund seiner Verrufenheit ungeheuren Erfolg.

„Die stark kritisierte Erstausgabe wich noch im Jahr ihres Erscheinens einer purgierten Fassung, die insbesondere um sexuell explizite, blasphemische und gewalttätige Passagen bereinigt worden war, aber dennoch den Nimbus des ‚Unanständigen‘ behielt. Als Lewis‘ Autorschaft bekannt wurde, explodierte die öffentliche Entrüstung.“ (Quelle: Wikipedia)

Auch Lovecraft zögert, die zahlreichen Mängel dieses Romans anzuprangern. Dafür lobt er jedoch Charles Maturins „Melmoth the Wanderer“ (1820) nicht weniger als vier Seiten lang über den grünen Klee. Damit ist für ihn der Höhepunkt des Schauerromans erreicht. Doch wie sieht es jenseits des Ärmelkanals aus?

Kap. 4: Das Ende der Schauerliteratur

Nach Lewis und Maturin konnten nur noch Epigonen folgen, macht der Autor klar. Von diesen ist halbwegs der Roman „The History of the Caliph Vathek“ aus dem Jahr 1820 zu erwähnen. Denn der besagte Kalif repräsentierte nicht nur den Orientalismus des Westens, der seit Gallands Übersetzung von „Märchen aus 1001 Nacht“ entstanden war, sondern führte die Leser auch auf eine „Nachtreise“, die sie schnurstracks zur Hölle und zurück führt. Erst 1909 entdeckte ein Biograph drei Episoden aus „Vathek“, die der Autor in einer späteren Auflage offenbar noch einfügen wollte (S. 46). Der Sammler sollte also aufpassen, ob er eine Ausgabe mit diesen Episoden aus der Zeit nach 1909 gefunden hat oder eine davor.

„Caleb Williams“ (1794) ist mehr Räuberpistole als Schauerroman, aber sein Autor William Godwin war ja auch mehr Wirtschaftsutopist als Erzähler. Immerhin war die Theaterfassung „The Iron Chest“ sehr erfolgreich, und bis heute ist im deutschen TV der Advents-Vierteiler „Caleb Williams“ ab und an. zu sehen. Sehr viel erfolg- und folgenreicher war seine Tochter Mary Shelley mit ihrem Roman „Frankenstein; or The Modern Prometheus“. Lovecaft gibt als Veröffentlichungsjahr 1817 an, allgemein wird aber 1818 angegeben. Die Entstehungsgeschichte dürfte allen Horrorfans vertraut sein, wird aber von Lovecraft genüsslich ausgebreitet, denn in ihrem Gefolge entstand auch Dr. Polidoris Geschichte „The Vampyre“.

Im Anschluss an dieses Vorbild schreiben nicht nur Mary Shelley unheimliche Romane, sondern auch Charles Dickens Sir Walter Scott und Edward Bulwer-Lytton. Washington Irving vertritt die USA in diesem Reigen. Auch die viktorianischer Klassiker werden in einem Aufwasch abgehandelt: H.G. Wells, H. Rider Haggard, R.L. Stevenson, Sheridan Le Fanu und A. Conan Doyle.

Höhepunkt scheint für Lovecraft das Unikat „Wuthering Heights“ (1847) von Emily Bronte zu sein. Er resümiert:

„Miss Brontes unheimlicher Schrecken ist nicht nur reines Echo des Gotischen (s.o.), sondern spannender Ausdruck der erschauernden Reaktion des Menschen dem Unbekannten gegenüber In dieser Hinsicht wird „Wuthering Heights“ zum Symbol einer literarischen Veränderung und markiert das Entstehen einer neuen und makelloseren Schule.“ (S.54)

Kap. 5: Unheimliche Literatur auf dem Kontinent

Der „Kontinent“, also Festland-Europa, besteht in erster Linie aus Deutschland und Frankreich. Den Anfang macht E.T.A Hoffmann (1776-1822), doch er sei zu gebildet, um „exaltierte Augenblicke nackter, atemloser Furcht“ schaffen zu können. Wohl wahr. Deshalb gibt Lovecraft einer einzigen Erzählung von Friedrich Heinrich Karl, Baron de la Motte Fouqué, den Vorzug: „Undine“ (1814). Die Geschichte dürfte bekannt sein. Interessant ist indes Lovecrafts Verweis auf eine Vorlage bei Paracelsus: „Abhandlung über die Elementargeister“.

Erstmals habe ich hier von Wilhelm Meinholds Roman „Die Bernsteinhexe“ (S.56) gelesen. Es handelt sich um eine Geschichte aus dem 30-jährigen Krieg, in der eine Pfarrerstochter namens Maria Schweidler 1629 auf der Insel Usedom wegen ihres Bernsteinbesitzes und ihrer Wohltätigkeit zu Unrecht der Hexerei beschuldigt wird, während eine echte Hexe Untaten begeht. Meinhold schrieb erstmals 1826 darüber, doch die Story wurde erst ein mythenbegründender Bestseller, als sein Roman 1843 als Roman veröffentlicht und sofort zweimal in England übersetzt wurde. Es gibt eine Neufassung, einen Wikipedia-Artikel (Maria Schweidler, die Bernsteinhexe) und ein Restaurant mit dem Namen „Bernsteinhexe“ (www.bernsteinhexe.de). „The Amber Witch“ war laut Wikipedia eines der Lieblingsbücher des jungen Oscar Wilde.

Den Abschluss der deutschen Riege bildet Hanns Heinz Ewers. Lovecraft nennt die Romane „Alraune“ und „Der Zauberlehrling“ sowie Kurzgeschichten wie „Die Spinne“ als „klassische“ Werke dieses umstrittenen Autors.

In Frankreich eröffnen Victor Hugo und Honoré de Balzac den Reigen der Autoren. Mit Werken wie „Hans von Island“, „Das Chagrinleder“ (Balzac), „Seraphita“ und „Louis Lambert“ beschäftigten sie sich mit dem Übernatürlichen, ohne jedoch die gewünschte „dämonische Intensität“ zu erlangen, die erst Theophile Gautier erzeugte. Lovecraft nennt als Beispiele die Kurzgeschichten „Avatar“, „Der Fuß der Mumie“ und „Clairmonde“, lobt aber v.a. „Eine Nacht der Kleopatra“ als gelungen.

Gustave Flaubert habe die Tradition Gautiers fortgeführt, nämlich v.a. mit seinem Roman „Die Versuchung des heiligen Antonius“. Die Tradition teilt sich in zwei Stränge: erstens in „Künstler in Sünde“ mit Baudelaire („Die Blumen des Bösen“) und Joris-Karl Huysmans („Gegen den Strich“), und zweitens in übernatürlichen Horror mit „Die Venus von Ille“ von Prosper Merimée. Der unvermeidliche Guy de Maupassant wird v.a. wegen seiner eindrucksvollen Novelle „Der Horla“ erwähnt. Es handle sich bei diesem Wesen um eine außerirdische Invasion. Die Vorlage soll von dem Amerikaner Fitz-James O’Brien stammen.

Das Autorenduo Erckmann-Chatrian lieferte Hexen- und Geisterphantasien wie „Der Wolfsmensch“, „Das unsichtbare Auge“, „Das Eulenohr“ und „Das Wasser des Todes“. Villiers de l’Isle Adam wird wegen seiner Erzählung „Folter durch Hoffnung“ der „makabren Schule“ zugeordnet. Es handle sich um eine „Conte gruel“, deren Tradition zum Grand Guignol Theater weiterführte.

Sehr verdienstvoll ist Lovecrafts Berücksichtigung der jüdischen Schauerliteratur. Sie reicht Jahrhunderts zurück bis ins Mittelalter. Am bekanntesten seien der Roman „Der Golem“ von Gustav Meyrink und das Theaterstück „Der Dybbuk“ (übersetzt und aufgeführt 1925) von einem jüdischen Künstler, der das Pseudonym „Ansky“ verwendet habe.

Kap. 6: Edgar Allan Poe

Poe gehört neben Dunsany (s.u.) und anderen zu den zentralen Vorbildern für Lovecraft als Schriftsteller. Er teilt Poes schauerliche Werke in drei Kategorien ein: die Grotesken, die Detektivgeschichten und schließlich die eigentlichen Schauergeschichten, die jeder Horror-Fan kennt.

„Wo auch immer seine Grenzen lagen, Poe tat etwas, was kein anderer jemals tat oder getan haben könnte, und ihm verdanken wir die moderne Horror-Story in ihrer endgültigen und perfekten Form.“

Höheres Lob ausberufenem Munde ist kaum vorstellbar. Ausgehend von den großen Gedichten wie „Der Rabe“ oder „Ulalume“ erarbeitet Lovecraft die Grundprinzipien, nach denen Poe arbeitete, um seine herausragenden Werke zu produzieren. Diese „kosmische Panik“, die als EFFEKT erzeugt wird, entspricht genau Lovecrafts Bedingung für eine Schauergeschichte – siehe oben. Er hat erkannt, was Poe selbst einst in wichtigen Essays – er war ja Redakteur – gefordert hatte: ein geeignetes Sujet bzw. Thema, einen geeigneten Stil (grotesk, unheimlich, bizarr, romantisch usw.), um schließlich im Leser oder Hörer (damals wurden viele Texte noch vorgetragen) einen einzigen Effekt zu erzeugen. Was Lovecraft offenbar nicht weiß, ist die Tatsache, dass Poe mathematische Prinzipien für die Komposition seines „Raben“ verwendet hat – und darauf öffentlich auch sehr stolz war.

In der Folge gelang es demnach Poe, in Geschichten wie „Die Flaschenpost“ oder seinem Romanfragment „Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym“ einen schaurigen Effekt zu erzeugen oder solche aneinanderzureihen, so etwa Kannibalismus, Untote, Piraten, einen Abgrund im Meer und vieles mehr. Lovecraft ist aber auch begeistert von Geschichten wie „Metzengerstein“, „Die Maske des Roten Todes“, „Schweigen“ und „Schatten“, die doch allesamt sehr allegorisch sind.

Weiter entwickelt sind da schon die Geschichten um unheimliche Frauen wie „Ligeia“, „Der Untergang des Hauses Usher“ mit der untoten Madeleine usw. Da wird die Grenze des Todes bzw. des Unlebens ausgelotet. Diese Grenze kann auch die Herausforderung von Tabus bedeuten, nämlich Inzest. Doch darauf lässt sich Lovecraft nicht ein. Er macht einfach weiter mit seiner Schwärmerei. Auf Poes SF- und Detektivgeschichten geht der Autor verständlicherweise überhaupt nicht ein, sondern konzentriert sich auf die Figur des einzelgängerischen Helden à la Lord Byron: Diesen Sucher und Herausforderer hat Lovecraft selbst unzählige Male gezeichnet. In „Der Schatten über Innsmouth“ führt die Suche den Helden direkt in den Abgrund, der sich in seiner eigenen Psyche verbirgt…

Kap. 7: Die Tradition des Unheimlichen in Amerika

Die puritanischen Europäer Neu-Englands verfügten über einen ureigenen Schatz an Geister-Legenden, der von Autoren wie Washington Irving („Sleepy Hollow“, „Rip van Winkle“) und Charles Brockden Brown („Wieland“) ausgebeutet, aber von dem überragenden Nathaniel Hawthorne erweitert und neu gestaltet wurde. Hawthornes Meisterwerk sei zweifellos der Roman „Das Haus mit den sieben Giebeln“. Er sah das historische Gebäude selbst, aber auch, dass seit 1692 ein Fluch auf seiner eigenen Familie liege, seit sein Großvater 1692 als Hexenrichter (in Salem?) tätig war.

Der Roman folgt der bis heute gültigen Erzählstruktur der Spannungs- und Schauerliteratur, wonach rätselhafte und erschreckende Geschehnisse in der Gegenwart auf ihr Ursprünge bzw. Ursachen in ferner Vergangenheit zurückzuführen sind. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Entdeckung ergeben, sind entweder unerfreulich (der Fluch) oder angenehm (der Held reitet entweder allein in den Sonnenuntergang oder bekommt das Mädchen). Wie auch immer: Lovecraft spendiert diesem Hauptwerk mehr als zwei ganze Seiten.

Aber Hawthorne war der Schlusspunkt einer Epoche. Nach ihm kamen Epigonen oder erratische Blöcke: Der Ire Fitz-James O’Brien sowieso der bitterböse Ambrose Bierce (1842-1912), dem drei Seiten gewidmet sind. Oliver Wendell Holmes wird mit seinem historischen Roman „Elsie Venner“ erwähnt, doch an Henry James lässt Lovecraft kein gutes Haar und nur das meisterliche „The Turn of the Screw“ gelten, eine Story, die es schließlich bis zu einer Oper schaffte. Hier führte James erstmals den unzuverlässigen Chronisten ein, nur eine seiner Untaten, wie schon H.G. Wells fand, mit dem sich James in aller Öffentlichkeit zoffte.

Etwas einschlägiger sind da schon die Schauergeschichten von F. Marion Crawford (die fast alle in der „Gruselkabinett“ von Titania Medien zu finden sind): „Denn das Blut ist das Leben“, „Das Lächeln des Toten“ und „Die obere Koje“ sind klassischer Schauerstoff. Ebenso klassisch sind die Kurzgeschichten, die Robert Chambers in „The King in Yellow“ Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte. Unter diesen hebt der Autor lediglich die Story „Das tödliche gelbe Zeichen“ hervor. Verfall und Untod sind das Thema. Chambers wird noch mit den Frühwerken „The Maker of Moons“ und „In Search of the Unknown“ erwähnt. Bedauerlich, dass sich Chambers danach anderen Genres oder Metiers zuwandte.

Aber es gab Nachschub – von weiblicher Seite! Die sonst so realistische Erzählerin Mary E. Wilkins schuf mit „The Shadows on the Wall“ offenbar eine Klassische Gespenstergeschichte, und Charlotte Perkins Gilman „erreicht mit „Die gelbe Tapete“ (deutsch und englisch bei Reclam, mit einem erhellenden Nachwort) […] ebenfalls klassisches Niveau“. Die Aussage der Story wird heutzutage als frühe feministische Botschaft interpretiert.

Lovecraft erwähnt ein paar Nobodies, die heute vergessen sind: Irvin S. Cobb, ein Humorist, und Leonard Cloine, dessen Roman „The Dark Chamber“ durch eine halbe Seite Analyse gewürdigt wird. An die Großen Alten (und an die Bibel) erinnert Herbert S. Gormans Roman „A Place Called Dagon“ über einen Hexensabbat. Leland Halls Sinister House“ verdient eine Erwähnung, ebenso das Werk von Edward Lucas White, wovon drei „traumartige“ Erzählungen wie „The Song oft he Sirens“ erwähnt werden.

Die Krönung der US-amerikanischen Szene werde indes mit Clark Ashton Smith erreicht – bekanntlich ein enger Brieffreund des Autors. „Einige von Mr. Smiths besten Werken finden sich in dem Bändchen ‚The Double Shadow and Other Fantasies‘ (1933).“ Das Werk dieses Gruselautors ist komplett bei Festa erhältlich und für Fans sehr zu empfehlen.

Kap.8: Die Tradition des Unheimlichen auf den britischen Inseln

Nachdem die Briten einige der bedeutendsten HorrorautorInnen– Ann Radcliffe, Horace Walpole, „Monk“ Lewis und Maturin – hervorgebracht haben, wäre es erstaunlich, wenn diese große Tradition nicht fortgesetzt worden wäre. Den Reigen eröffnet unerwartet ein Nobelpreisträger: Rudyard Kipling. Seine Storys „Die Phantomrikscha“, „Das Mal des Tiers“ und „Die schönste Geschichte der Welt“ sind unverwüstlich, aber „The Recrudescence of Imray“ dürfte wenig bekannt sein.

Lafcadio Hearn ist besser bekannt für seine Verdienste um die Vermittlung der japanischen Literatur und Kultur, hat aber auch die Franzosen Theophile Gautier und Flaubert („Hl. Antonius“) übersetzt. Von Oscar Wilde findet Lovecraft lediglich „Das Bildnis des Dorian Gray“ erwähnenswert. Matthew Philips Shiel (deutsch bei Klett-Cotta und Heyne) „erreicht manchmal ein hohes Niveau entsetzlicher Magie“. Beispiele sind zunächst „Xelucha“, aber v.a. „The House of Sounds“, „unzweifelhaft sein Meisterwerk“ – von dem es zwei Versionen gibt. Eine weitaus größer gespannte Vision ist in „Die Purpurwolke“ zu finden (dt. als Heyne SF Classic): nach einer globalen Katastrophe scheint es nur einen einzigen Überlebenden zu geben. Falscher Irrtum! In der zweiten Hälfte kommt es – sehr zu Lovecrafts Bedauern – zu einem „konventionellen romantischen Element“…

Doch erneut naht Rettung, diesmal in Gestalt des routinierten Iren namens Bram Stoker, der sein Geld mit vielen Dingen verdienten, aber auch mit Klassikern wie „Dracula“, „The Lair oft he White Worm“ und „The Jewel oft he Seven Stars“ (alle im Gruselkabinett vertont). Stoker rief Epigonen wie Richard Marsh, „Sax Rohmer“ (d.i. Arthur Sarsfield Ward) und Gerald Biss auf den Plan. Francis brett Young wird für „Cold Harbour“ gelobt, aber auch für dessen Ende kritisiert.

Dass ein Krimiautor wie John Buchan, bekannt für seinen Hitchcock-Krimi „Die 39 Stufen“, auch Unheimliches schrieb, dürfte wenig bekannt sein. Lovecraft lobt den recht durchwachsenen Roman „Witch Wood“, erwähnt aber gerne die Geschichten „The Green Wildebeast“, „The Wind in the Portico“ und „Skule Skerry“.

Weitre Epigonen sind Clemence Housman („The Werewolf”), Arthur Ransome (“The Elixier of Life”), H.B. Drake (“The Shadowy Thing”) und schließlich George McDonald mit seinem Roman “Lilith” (deutsch bei Klett-Cotta). Von den beiden Versionen dieses Werks lobt Lovecraft nur die erste, wildere, weil sie wirkungsvoller sei. Der Sammler ist gewarnt!

Ebenfalls in Klett-Cottas Hobbitpresse aufgenommen ist Walter de la Mare, dem Lovecraft eine ganze Seite widmet. Klassischer ist hingegen E.F. Benson, auch H.R. Wakefield verdient Erwähnung, ebenso H.G. Wells („Der Geist der Furcht“) und Arthur Conan Doyle (Der Kapitän der POLESTAR“), über die man alles Einschlägige als bekannt voraussetzen darf. Auch Hugh Walpole wird noch einmal aufgewärmt, um die Kurzgeschichte „Mrs. Lunt“ zu erwähnen. John Metcalfe wird mit seiner Sammlung „The Smoking Leg“ erwähnt. Von E.M Foster wird die Sammlung „The Celestial Omnibus“ herausgepickt, doch Mrs. H.D. Everett für ihre „sehr alten, und konventionellen Modelle“ kritisiert. Eine Erwähnung des Realisten L.P. Hartley hätte man hier wohl kaum erwartet, aber „A Visitor From Down Under“ wird hoch hochgelobt. May Sinclairs „Uncanny Stories“ werden als Okkultismus verdammt.

Nicht weniger als drei Seiten verschwendet Lovecraft auf das Werk von William Hope Hodgson, weniger wegen dessen Seeabenteuern, sondern wegen der Klassiker „The Boats of the Glen Carrig“ (1907), „Das Haus an der Grenze“ (1908) und „Ghost Pirates“ (1909), eine Trilogie. Davon unterschiedet sich „Das Nacht-Land“ (1912) grundlegend. Auf überlangen 538 Seiten malt der Autor das gruselige Panorama einer Erde der fernen Zukunft, nach dem Tod der Sonne in ewige Nacht gehüllt. In Hodgsons Geisterjägergeschichten um „Carnacki, the Ghost-Finder“ geistert wird der verabscheute Okkultismus.

Ganz zum Schluss überwindet sich der Autor zu einer Erwähnung von Joseph Conrad“ (d.i. Korzeniowski) und Robert Brownings „Childe Roland tot he Dark Tower Came“, das bekannt Stephen King als Vorlage für einen epischen Zyklus diente. Ein Mini-Abriss der irischen Literatur schließt das Kapitel ab: „Zweifellos ist [William Butler] Yeats die größte Gestalt der irischen Renaissance, wenn nicht der größte aller lebenden Dichter überhaupt, und er hat Beachtliches geleistet, sowohl in seinem ureigenen Werk als auch in der Umsetzung alter Legenden“.

Kap. 9: Die zeitgenössischen Meister

Zu den Zeitgenossen des Autors zählen vier Autoren, und er stellt sie klugerweise mit ihren herausragenden Werken und ihren Charakteristika vor. Aus Platzgründen können hier nur die Titel angegeben werden.

Arthur Machen: „The Great God Pan” (1894); “The White People” (x); “The Three Impostors”, ein Rahmenroman aus fünf Geschichten, darunter: “The Novel of the Black Seal” und “The Novel of the White Powder”. “The Red Hand” und “The Shining Pyramid” spielen erneut im Land des kleinen, weißen Volks. „The Terror“, „The Great Return“ und „The Bowmen“ schließen die Auswahl ab.

Algernon Blackwood sei ein ganz anderes Kaliber als der erhabene Waliser Machen, denn sein Stil sei nüchterner, geradezu journalistisch. Der beste Text sei noch „The Willows“ (Die Weiden, 1907), aber auch „The Wendigo“ sei nicht zu verachten. „An Episode in a Lodging House“, „The Listener“ werden erwähnt, gelobt wird jedoch der Storyband „Incredible Adventures“, bevor die Rede auf Blackwoods wichtigste Figur kommt: „John Silence – Physician Extraordinary“. Der Arzt ist eine frühe Inkarnation des klassischen Geisterjägers. Die erste Geschichte mit dem Titel „A Psychical Invasion“ (Griff nach der Seele) wird gefolgt von „Ancient Sorceries“ (Uralter Hexenzauber) und „The Nemesis of Fire“. Darauf folgen „Secret Worship“ (Heimliche Anbetung), „The Camp of the Dog”, “Jimbo” und “The Centaur”.

Lord Dunsany ist ob seines Einfallsreichtums und seines ironischen Humors ein Vorbild für den frühen Lovecraft gewesen. Allerdings fehlt Lovecraft der ausgefeilte, raunende, hypnotische Rhythmus des Erzählstils des Lords, der vor allem auf der King James Bible aus dem 17. Jahrhunderts beruht. „The Book of Wonder“, „A Dreamer’s Tale“, „The Gods of the Mountain”, “The Laughter of the Gods”, “The Queen’s Enemies” finden alle lobende Erwähnung.

M.R. (Montague Rhodes) James wird als “geniehafter Gegenpol zu Lord Dunsany“ klassifiziert. Der Rektor der Eliteschule Eton (und später Cambridge) war eine „Kapazität für mittelalterliche Manuskripte und die Geschichte der Kathedralen“. Sein Ansatz ist einzigartig: Aus einem alltäglich erscheinenden Gegenstand wie etwa einer Flöte oder einem Puppenhaus entwickelt sich das Grauen.

Lovecraft sind vier Sammlungen bekannt, die in der Wikipedia zu finden sind. Er hebt die Geschichte „Count Magnus“ „Liber nigrae peregrinationis“, die Schwarze Pilgerfahrt) besonders ausführlich (auf ganzen zwei Seiten) und lobend hervor. „The Treasure of Abbot Thomas“, „The Stalls of Barchester Cathedral” und besonders “Oh Whistle, and I Come to You, my Lad”, sowie “An Episode of Cathedral History” (“Ibi Cubavit Lamia”) finden Erwähnung. “The Five Jars” sei eine “entzückende Fabel für Jugendliche”.

Mein Eindruck

Als wäre er selbst der größte Enthusiast der Horror-Literatur verfolgt Lovecraft in seiner Untersuchung aus den 1930er Jahren die Entwicklung des Phantastischen und Schauerlichen von der Frühzeit bis in seine eigene Zeit. Er beschreibt dabei die Psychologie des „kosmischen Grauens“ genauer und bewertet nach der Qualität von dessen literarischer Umsetzung die einzelnen Autoren, von denen er selbst einige „entdeckt“ hat. Dazu gehören Clark Ashton-Smith, M.R. James und Algernon Blackwood.

Die Übersetzung

Joachim Körbers Übersetzung mutet stellenweise wie eine Eins-zu-eins-Übertragung an. So etwas würde man heute von KI-Programmen erwarten, aber nicht von einem routinierten Vielübersetzer.

S. 43: „die andere Ausbeutungen Melmoths schildern“: Gemeint sind im Original offenbar „exploits“, und dabei handelt es sich meist um „Heldentaten“.

S. 71. „der seltsamen und verbietenden Natur der Szenerie“: Das original hieß statt „verbietend“ vermutlich „forbidding“, also abschreckend.

Unterm Strich

Solche Werke, die gut lesbar und umfassend einen Überblick über das weit verzweigte Genre des phantastischen Horrors bieten, sind selten. Der Autor des Vorworts, Lovecrafts Übersetzer Kalju Kirde, spricht deshalb zu Recht, wie ich meine, von einer verdienstvollen Ausgabe, die die Edition Phantasia hier veranstaltet hat. Leider bleibt die Übersetzung durch Joachim Körber hinter den Erwartungen zurück.


Hohe Preise

Das Buch ist vergriffen. Der erstaunlich hohe Preis, der im modernen Antiquariat verlangt wird – ab 175 Euro -, ergibt sich aus der niedrigen Auflagenzahl von nur 1000 nummerierten Exemplaren und der sorgfältigen Ausstattung, die auch eine Grafik umfasst. Das Buch ist daher vor allem für Liebhaber von guten Büchern und Fans des literarischen Horrors interessant.

127 Seiten
Aus dem US-Englischen übersetzt von Joachim Körber
ISBN-13: 9783924959012

Der Autor vergibt 4 von 5 Sternen. Ihr vergebt xxx Sterne.