Edgar Allan Poe – Faszination des Grauens. Erzählungen

Dieser voluminöse Sammelband enthält die bekanntesten Erzählungen von Edgar Allan Poe, wenn auch nicht alle guten. Am bemerkenswertesten und umfangreichsten sind die drei Detektivgeschichten um Poes Meisterschnüffler Auguste Dupin sowie eine Science-Fiction-Novelle über einen abenteuerlichen Besuch auf dem Erdtrabanten.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar anderen Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E. T. A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne ihn sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H. P. Lovecraft, H. G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlandes maßgeblich verändert. In nur 17 Jahren des Publizierens (genauer: 1832 bis 1849).

Die Erzählungen: Kurzcharakteristiken und mein Eindruck

Wo es mir gelang, das erste Publikationsjahr einer Erzählung herauszufinden, habe ich das ebenso wie den Originaltitel vermerkt. Die deutschen Titel sind mitunter nicht geläufig, so etwa „Der Mord in der Spitalgasse“, der üblicherweise als „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ auftaucht. Die zweite Jahreszahl steht meist für das Jahr der Überarbeitung, die Poe für eine Buchveröffentlichung vornahm. So manche Erzählung wurde dabei beträchtlich verändert und erweitert. –

„König Pest“: Eine allegorische Story aus dem London unter Eduard III. zur Zeit der Pest. Zwei brave Seeleute wagen sich in den Sperrbezirk, wo sie zu ihrem Freund Schaufel, einem braven Sargmacher, wollen. Allerdings ist das düstere Viertel völlig unter der Kontrolle von „König Pest“, den sie auch leibhaftig mit seinem Hofstaat antreffen. Es folgt eine Auseinandersetzung, die ziemlich handgreiflich und grotesk ausgeht.

„Die Maske des Roten Todes“ (1842/45): Schon wieder eine Pest-Story. Diesmal hat Fürst Prospero sich in eine burgartige Abtei vor den Verheerungen, die die Pestilenz in seinem Land anrichtet, zurückgezogen. Trotz des Todes draußen schmeißt er eine Party, bei der sich tausend Ritter und Damen verkleiden dürfen (Maske = Maskenball), um der Schönheit zu huldigen. Als er jedoch einen unverschämt auftretenden Burschen erblickt, der es wagt, als Pestkranker zu erscheinen, kennt sein Zorn keine Grenzen. Er erlebt sein rotes Wunder.

„Der Untergang des Hauses Usher“ (1839/45): Eine weitere unsterbliche Erzählung Poes. Roderick Usher, der Letzte seines Geschlechts, hat seine Sinne unglaublich verfeinert und spielt gar seltsame Musik, findet sein Freund und Gast, der uns berichtet. Usher leidet an einer Gemütskrankheit, die nicht von schlechten Eltern ist. Tatsächlich glaubt er sogar, seine verstorbene, geliebte Schwester Magdalena sei noch am Leben und suche ihn jede Nacht heim. Offenbar ist ihm nicht mehr zu helfen, und unser Gewährsmann sucht schleunigst das Weite, als sich etwas wirklich Grauenerregendes ereignet. Denn das ‚Haus‘ Usher meint sowohl das Geschlecht der Ushers als auch ihren Stammsitz als Gebäude. Geht das eine unter, so auch das andere.

Auch in der Übersetzung ist das sechsstrophige Gedicht „Das verwunschene Schloss“ (im Original „The Haunted Palace“; [April 1839]) enthalten, das wirklich zauberhaft klingt: Im Königreich des Gedankens herrscht die Kunst, doch eines Tages gelangen auch hierhin Kummer, Furcht, Verzweiflung und Tod – ähnlich wie in „Die Maske des roten Todes“. Der „Palast des Denkens“ ist Ushers eigener Verstand. Das Gedicht ist an Samuel Coleridges berühmtes Poem „Kubla Khan“ angelehnt, in dem von einer „Vergnügungskuppel in Xanadu“ gesungen wird.

„Der Teufel im Glockenstuhl“ („The Devil in the Belltower“): Spießburgh ist ein isoliert liegendes Dorf mit niederländischen Einwanderern. Was sie lieben: Uhren und Krautköpfe. Was sie verabscheuen: Veränderung jeglicher Art. Da erscheint über einem der östlichen Hügel ein absonderlich Kerl von tabakschwarzer Gesichtsfarbe, mit einem Hut und einer großen Fiedel unterm Art. Er beginnt zu tanzen, bis er in den Glockenturm gelangt. Die richtige Funktion der Glocke ist enorm wichtig, da alle Bewohner ihre Uhr danach stellen. Doch diesmal schlägt’s dreizehn. Und das Chaos bricht aus. – Die Story ist das grotesk-possenhafte Gegenstück zu „Usher“, eine Satire auf Spießbürger und allzu konservative Menschen, seien sie nun Politiker oder Kritiker.

„Der schwarze Kater“ („The black Cat“; 1843/45): Die Story ist ein psychologischer Thriller um Schuld und Sühne, mit einem typischen Poe-Motiv: lebendig begraben sein.

Der Erzähler ist der trunksüchtige Ehemann einer zartfühlenden und tierlieben Gattin. Sie hat als liebstes Haustier einen Kater namens Pluto, der laut schnurrt, wenn man ihn streichelt. Das tut der Ehemann jedoch nie. Im Gegenteil: Die Augen der Katze lassen ihn sich irgendwie schuldig fühlen, dass die Unmäßigkeit, der er sich hingibt, und die Misshandlungen, die er an seiner Frau begeht, ein großes Unrecht seien. Im Vollrausch sticht er Pluto ein Auge aus, später erhängt er das wehrlose Tier. Bei einem Feuer brennt das Haus bis auf die Grundmauern nieder und das Ehepaar muss umziehen.

Um diese Gedanken der Schuld zu vertreiben, ertränkt er sie immer öfter in Alkohol. Bis er schließlich auch im Wirtshaus eine schwarze Katze bemerkt, die er mit nach Hause nimmt. Doch aus Zuneigung wird schon wieder Hass und Abscheu gegen das vermaledeite Katzenvieh. Als er auf der Kellertreppe über es stolpert, will er es töten, doch seine Frau fällt ihm in den Arm. Er schlägt ihr den Schädel ein und mauert die Tote in einem „blinden“ Kamin (der nirgendwo hinführt) im Keller ein. Die Katze jedoch ist verschwunden und er kann wieder selig schlafen, selbst nach dem Mord. Doch der Fluch der bösen Tat fordert Sühne …

Das Neue an der Geschichte besteht darin, dass die Bestrafung nicht von außen erfolgt, etwa durch göttliche oder fürstliche Intervention. Vielmehr kommt dieser Impuls von innen, aus der Psyche des unbestraften Verbrechers selbst: Er muss sich selbst entlarven, um Erlösung von der Last seiner Schuld zu erlangen. Schon lange vor Freud also wird tiefer schürfende Psychologie als Triebfeder einer Story-Handlung eingesetzt.

„Der Mord in der Spitalgasse“ („The Murders in the Rue Morgue“, 1841/45): Die erste Erzählung um den ungewöhnlichen Privatdetektiv Auguste Dupin in diesem Band. Zwei grausige Morde haben in der Rue Morgue stattgefunden, doch die Polizei ist ziemlich ratlos. Sie können sich nicht vorstellen, wer als Täter in Frage kommt, noch wie es dem Täter überhaupt gelang, zum jeweiligen Tatort zu gelangen. Doch Dupin hält sich an die Gesetze der Logik, wie etwa an „Occams Rasiermesser“: „Wenn man alles, was nicht in Frage kommt, hat ausschließen können, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch aussehen mag.“ Folglich war der Mörder kein Mensch … – Der Rest ist eine ziemlich spannende Mörderjagd. Pflichtlektüre für alle Kenner von Detektivromanen.

„Der Goldkäfer“ („The Gold-bug“; 1843/45): Diese Story war der lukrative Gewinner eines Geschichtenwettbewerbs. Ein intelligenter Mann namens William Legrand, der wegen Verarmung seiner Familie auf einer Insel an der Atlantikküste hausen muss, stößt per Zufall auf einen Goldkäfer und eine Schatzkarte. Diese ist mit einem Code verschlüsselt und in Geheimschrift geschrieben, so dass es eine Weile dauert, bis er ihr das vollständige Geheimnis entlockt hat, wodurch sowohl sein Freund, unser Berichterstatter, als auch sein Diener an seiner geistigen Gesundheit zweifeln. Aber dann zeigt ihm die Karte den Weg zu einem unermesslichen Piratenschatz. – Triumphale Logik plus glückliche Zufälle gehen eine typisch Poe’sche Verbindung ein.

„Froschhüpfer“ („Hop-frog“, 1849): Poes letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Erzählung wird häufig als Allegorie auf seine Rache an seinen Kritikern aufgefasst. Froschhüpfer ist ein Krüppel und Zwerg, der als Hofnarr an des Königs Hof Possen treiben muss. Er wurde mit seiner wohlgestalten Freundin Tripetta aus seiner Heimat verschleppt, die man ebenfalls mies behandelt. Eines Tages wollen der König und seine sieben fetten Minister ganz besonders einfallsreiche Kostüme für den Maskenball tragen. Hüpfer hat eine „zündende“ Idee, wie er sich für erlittene Qualen rächen kann, schlägt ihnen Orang-Utan-Verkleidung vor und kettet sie aneinander. Das wird eine „feurige“ Überraschung.

„Der verlorene Atem“: Eine der groteskesten Geschichten dieses Bandes. Der Ich-Erzähler, ein Schauspieler, verliert in einem Wutanfall seinen Atem, nicht aber seine Stimme – das ist schon seltsam genug. Den Atem des Herrn Ohneluft hat ihm sein Rivale in der Gunst seiner Gattin, ein gewisser Herr Windgenug, gestohlen. Im Verlaufe seiner Abenteuer wird Hr. Ohneluft für tot gehalten, aus der Kutsche geworfen, überfahren, seziert, verliert seine Ohren, fällt hungrigen Katzen zum Opfer, wird an Stelle eines anderen am Galgen gehängt, wieder abgenommen und landet auf dem Gottesacker. Er befreit sich aus dem Sarg – und trifft Herrn Windgenug wieder, von dem er sich seinen Atem zurückholt. – Diese Story ist im höchsten Maße allegorisch, möglicherweise eine philosophische Übung über den Körper, seine Zustände. Leider gibt es keinen zentralen Konflikt, und so etwas wie einen Plot sucht man vergebens.

„Der künstliche Mann“ („The Man that was used up“, 1845): Poe schildert das Schicksal eines Kriegshelden, der allmählich zu einem Kyborg wird, einer sehr Science-Fiction-mäßigen Kombination aus Fleisch und künstlichen Bauteilen à la Terminator. John A.B.C. Smith hat in den Indianerkriegen ca. 1820 wohl etliche Körperteile demontiert bekommen, doch die moderne Prothetik ist schon so weit fortgeschritten, dass er auch ohne wesentliche Fleischanteile funktioniert – und dabei aussieht wie ein Adonis. Poe treibt mit Entsetzen Scherz, wenn er die Kriegsverwundungen ebenso auf die Spitze treibt wie den Fortschrittsglauben an den amerikanischen Erfindergeist. Die Story erinnert an E. T. A. Hoffmans Erzählung „Der Sandmann“, in der ebenfalls ein künstlicher Mensch vorkommt.

„Die Scheintoten“ („Mesmeric Revelation“, 1844?/ „The premature Burial“, 1844?): Nach einer Aufzählung von Berichten über tragische Fälle von Scheintoten und vorzeitigen Begräbnissen berichtet unser Chronist von seiner eigenen Neigung, in Katalepsie zu fallen. Um zu verhindern, dass man ihn aus Versehen lebendigen Leibes begräbt, trifft er gewisse Vorkehrungen. Man kann sich seinen Schrecken ausmalen, als er sich dem Ernstfall gegenübersieht, aber keinen Ausweg erkennt!

„Der Fall Valdemar“ („The Facts in the Case of M. Valdemar“, 1845): Die esoterische Modewissenschaft Mesmerismus (nach einem gewissen Monsieur Mesmer) wurde auch als Magnetismus bezeichnet und erregte auch einiges Aufsehen. In der Erzählung verlängert Poe damit die Existenz der Seele von Ernst Valdemar, einem Opfer der Schwindsucht, nach dem Ableben des hinfälligen Körpers. Doch es gibt noch eine ziemlich grässliche Pointe. – Sehr effektvoll.

„Der Geist des Bösen“ („The Imp of the Perverse“): Der Ich-Erzähler hat den perfekten Mord begangen, um das Opfer beerben zu können. Doch der „Geist der Perversität“ veranlasst ihn, der völlig vor Strafverfolgung sicher ist, wider besseren Wissens seine Schuld öffentlich zu bekennen. Dies ist lediglich das praktische Beispiel für eine länger ausgeführte Theorie. – Nicht sehr unterhaltsam.

„Das verräterische Herz“ („The tell-tale Heart“, 1843/45): vorzeitige Beerdigung, psychologischer Thriller um Schuld und Sühne, sehr anschaulich geschildert: Der Ich-Erzähler plant detailliert den perfekten Mord an einem alten Mann, dessen eines Auge ihm Furcht und Wut einflößt. Die Tat gelingt, doch aufgrund seines überfeinen Gehörs vermeint der (wanhsinnige) Bösewicht, das Herz des Getöteten wieder schlagen zu hören …

„Der Mann in der Menge“ („The Man of the Crowd“, 1840/45): Der Erzähler bemerkt eines Tages in der Stadt einen Mann. Er folgt ihm den ganzen Tag hindurch, wie der sich durch die Menge schiebt und nirgendwo eine Rast einlegt. Es ist die detailliert beobachtende Studie eines neuen psychologischen Typus, wie er nur in der Stadt vorkommt.

„Das Fass Amontillado“ (The Cask of Amontillado, 1846): Warum mauert Montresor seinen Freund Fortunato im Weinkeller des Familiengutes ein? „By the last breath of the four winds that blow / I’ll have revenge upon Fortunato …“ heißt es in Alan Parsons Song. „Nemo me impune lacessit“ lautet das Motto der Familie Montresor: „Niemand beleidige / verletze mich ungestraft“. Na, und der überhebliche Fortunato hat seine Strafe sicherlich verdient. – Sehr anschauliche Story wie für einen Film.

„In den Bergen“ („A Tale of the Ragged Mountains“; 1844): Ein melancholischer alter Mann namens August Bedloe wandert eines Morgens im Morphiumrausch in die besagten Virginia-Berge und hat dort zwei Visionen. In der ersten sieht einen Mann, der vor einer Hyäne Reißaus nimmt. Hyänen in Virginia? Bedloe kneift sich und wandert weiter. Als nächstes erblickt in einem weiten Tal eine orientalische Stadt an einem mächtigen Strom. Er nimmt an der Verteidigung des Stadtpalastes gegen einen aufständischen Pöbel teil, wird aber tödlich verwundert. Stunden später erwacht er an der Stelle der ersten Vision und kehrt heim. Sein Arzt erklärt: „Sie sahen, was ich selbst 1780 in Benares bei einem Aufstand erlebte, bei dem der Offizier Oldeb starb“. In Bedloes bald folgendem Nachruf steht Oldeb umgekehrt geschrieben: Bedlo. – Ein Fall von Seelenwanderung?

„Metzengerstein“ (1832): Poes erste Erzählung ist recht „gothic“ und stark von der deutschen Schwarzen Romantik beeinflusst, die er eifrig las. Sie weist die üblichen Motive von Vergeltung und Schicksal auf. Im Mittelpunkt steht die Fehde zwischen den benachbarten Adelsgeschlechtern derer von Metzengerstein und Berlifitzing. Als der Stall des Letzteren in Flammen aufgeht, starrt der Erbe von M. auf einen Wandteppich, auf dem ein edles B-Ross zu sehen ist. Genau dieses feuerrote Ross jedoch materialisiert sich draußen auf dem Hof des M-Palastes. Friedrich zähmt und bezwingt es, gemäß einer Prophezeiung, dass M. und B. wie Reiter und Ross zusammengehören, doch M. die Sterblichkeit und B. die Unsterblichkeit verkörpern und M. über B. triumphieren würde. Nun, die Geschichte geht ein wenig anders aus.

„Die längliche Kiste“ („The oblong Box“, 1844): Eigentlich wäre dies der Bericht über eine stürmische Seereise von Charleston nach New York City (es gab keine Eisenbahn), wäre da nicht die ominöse Kiste, die eine fatale Ähnlichkeit mit einem Sarg hat …

„Das Geheimnis von Marie Rôgets Tod“ („The Mystery of Marie Rogêt’s Death“, 1842): Die zweite August-Dupin-Story dieses Bandes. Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass er die Schilderung des Kriminalfalles Marie Rôget auf den Fall einer jungen New Yorkerin namens Mary Rogers angewandt wissen will. – Marie, 22, ist eine hübsche, verlobte Pariserin, die wieder bei ihrer Mutter wohnt, nachdem sie einige Zeit als Verkäuferin bei einem Parfümhändler gearbeitet hat. Drei Tage nach ihrem Verschwinden wird ihre Leiche in der Seine schwimmend aufgefunden. Sie wurde stranguliert. Die Zeitungen spekulieren und verdächtigen die Falschen. Der Polizeipräfekt bittet Dupin um Hilfe, die ihm gewährt wird. Dupins Freund, der Ich-Erzähler, durchforstet die Zeugenaussagen und Zeitungen, ohne Erfolg. Dann kommt der Meisterdetektiv selbst zum Zug – und hält einen seitenlangen Monolog. – Die Novelle könnte genauso gut in unserer Zeit spielen, so durchdrungen von Rationalität und Stadtatmosphäre ist sie. Lediglich die Emotionen der Pariser sind wesentlich lebhafter, die von Dupin aber nicht. Der Monolog Dupins ist leider sehr langweilig und beinahe einschläfernd.

„Die Foltern“, besser bekannt unter dem Titel „Grube und Pendel“ („The Pit and the Pendulum“, 1843): Eine der bekanntesten, weil ebenfalls von Roger Corman verfilmten Erzählungen Poes. Ein von der spanischen Inquisition ca. 1808 Verurteilter wird mehreren teuflischen Foltern unterworfen, wovon er mindestens zwei durch Todesmut und Genialität überlebt. Doch dann rücken die Wände in der Kerkergrube näher und in deren Mitte wartet ein bodenloser Brunnen … Die psychologische Spannung in dieser stimmungsvollen Erzählung ist unübertrefflich.

„Der entwendete Brief“ („The purloined Letter“, 1844): Die dritte Auguste-Dupin-Story. Wo würde man einen wichtigen Geheimbrief verstecken, der auf keinen Fall gestohlen werden darf? Natürlich sichtbar vor aller Augen! Denn der Dieb würde überall danach suchen, aber nicht unter dem offen vor ihm Liegenden.

„Du hast’s getan“ („Thou art the Man!“): Eine weitere Story in der Manier von „Das verräterische Herz“. In der Spießbürger-Stadt Rattelburg verschwindet der angesehene Herr Barnabas Schüttelwert spurlos, doch sein zurückgekehrtes Pferd weist einen Durchschuss von einer Pistolenkugel auf und stirbt wenig später. Wer war’s? Mehrere Indizien begründen einen schweren Verdacht gegen Schüttelwerts Neffen, den Tunichtgut – und einzigen Erben – Pfennigfeder. Doch eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen und der anschließenden Gerichtsverhandlung, bei der Pfennigfeder zum Tode verurteilt wird, spielt der erst seit sechs Monaten in Rattelburg weilende beste Freund von Schüttelwert: Herr Karl Biedermann. Er wiegt sich bereits in Sicherheit, da macht ihm ein Freund Schüttelwerts, der Erzähler, einen dicken Strich durch die Rechnung … Ein konventioneller Krimi mit einer gruseligen Pointe.

„Hüte dich vor des Teufels Wetten“: Dies soll eine „Geschichte mit einer Moral“ sein? Sie handelt von Toby Dammit, der nach Angaben des Erzählers schon mit acht Monaten zu fluchen und zu wetten begann und ganz allgemein eine verdammte – daher „Dammit“ – Seele ist. Seine bevorzugte Redensart: „Ich verwette meinen Kopf dem Teufel, wenn …“ Wie zu erwarten, tritt denn auch der Ernstfall ein, und der Teufel sieht sehr ungewöhnlich aus. – Die Story ist gespickt mit sarkastischen Seitenhieben auf alle idealistischen Philosophen seit dem Mittelalter bis hin zu R. W. Emerson. Am Ende verkauft der Erzähler Tobys Leiche als Hundefutter – so viel zum Idealismus …

„Das Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall“ („The unparalleled Adventure of one Hans Pfaall“; 1835/40, deutsch zuerst 1922): Eines Tages wird über der Stadt Rotterdam ein Ballon gesichtet. Die ganze Stadt läuft zusammen. An Bord befindet sich ein kleines merkwürdiges Männchen ohne Ohren, das dem Bürgermeister eine Brieftasche vor die Füße wirft, bevor es wieder entschwebt. In der Tasche findet der Bürgermeister die Reiseaufzeichnungen eines seiner Bürger. Hans Pfaall musste vor seinen Gläbigern in einem Ballon fliehen. Er landete schließlich auf dem Mond, wo er seltsame Bewohner in hübschen Häusern vorfand.

Er bittet den Bürgermeister per Brief um Vergebung für seine Untaten, damit er zurückkehren könne. Diese Bitte schlägt der Bürgermeister ab, da er an einen aufgelegten Schwindel glaubt. Der Autor zitiert einige Dokumente, die den Unglauben des Würdenträgers gerechtfertigt erscheinen lassen, trifft aber selbst keine Entscheidung, ob der Reisebericht nun erfunden war oder nicht. –

1835 erschienen, ist „Hans Pfaall“ einer der frühesten Berichte über eine Reise zu einem anderen Gestirn, mit dem der Verfasser sich als scharfsinniger Analytiker des geistigen Weltbildes seiner Zeit entpuppt. Zusammen mit Vernes und Wells Romanen über Mondfahrten begründete Poe ein Subgenre der Science-Fiction: die Reise zu anderen Welten.

„Ligeia“ (1838/45): Poe betrachtete diese Erzählung als seine gelungenste. Wie „Morella“ (s. u.) und „Berenice“ (1835) gehört sie zu seinen Femme-Fatale-Erzählungen. Die Lady Ligeia ist nicht nur unglaublich schön, sondern auch sehr klug, was die Philosophie angeht. Zu ihren wichtigsten Maximen, die sie noch auf dem Sterbebett flüstert, gehören Worte von John Granville: „Und darin liegt der Wille, der nicht stirbt.“ Nach ihrem Tode zieht der Erzähler gramgebeugt vom Rhein nach England in eine frühere Abtei, wo das Bett seiner neuen Braut Lady Rowena inmitten eines höchst bizarr eingerichteten Raumes steht. Bildet er es sich im Opiumrausch ein, oder fallen aus dem Nichts Tropfen in den Wein, den er Rowena reicht? Schon wenige Tage später ist sie tot. Doch was sich dann mehrere Stunden später von ihrem Totenbett erhebt und sich den Schleier vom Gesicht reißt, ist keineswegs die blonde Lady Rowena, sondern eine schwarzhaarige Schönheit. Und jeder Zweifel verfliegt, als sie die Augen öffnet …

Die Erzählung enthält das berühmte Gedicht „Der Eroberer Wurm / The Conqueror Worm“, das mich schon immer an William Blakes Gedicht „The sick Rose“ erinnert hat. Es ist Ligeia als Autorin zugeschrieben. Sie gewährt dem Wurm keinen Triumph, sondern was triumphiert, ist einzig und allein Ligeias Wille – über den Tod hinaus.

„Morella“ (1835): Der Erzähler wird zum Schüler der geistreichen Philosophin des deutschen Idealismus. Insbesondere über die persönliche Identität hegt Morella feste Ansichten. Seltsamerweise erregt gerade dies den Abscheu ihres Verehrers. Sie stirbt, doch im Tode gebiert sie eine Tochter. Diese wächst namenlos zehn Jahre heran, das genaue Ebenbild ihrer Mutter. Doch als er sie getauft werden soll – auf welchen Namen wohl? -, da stürzt sie tot auf den Boden der Ahnengruft mit den Worten: „Hier bin ich.“ Was Wunder, dass das Grab, in das er sie bettet, leer ist.

Es fehlen wichtige Erzählungen: „Das System von Dr. Tarr und Professor Feather“, „William Wilson“, vor allem aber „Der Abstieg in den Maelstrom“.

Unterm Strich

Die nachhaltigste Wirkung hat Poe mit seinen phantastischen Erzählungen erzielt, deren größter Teil 1840 unter dem Titel „Tales of the Grotesque and Arabesque“ erschien. Er griff dabei zwar des Öfteren auf den Motivkreis des Schauerromans zurück und steht dabei deutlich in der Nachfolge der dämonisch verfremdeten Welt E. T. A. Hoffmanns, führte jedoch das Genre durch eine verfeinerte Figurenpsychologie und eine virtuos poetisierte Erzählsprache zu einem neuen Höhepunkt.

Vorherrschend sind drei Typen von Erzählansätzen. Die Wechselwirkung von fremdartigem Schauplatz und unheimlichen, oft übernatürlichen Ereignissen bestimmt die mittelalterliche Pestgeschichte „Die Maske des Roten Todes“ ebenso wie „Froschhüpfer“ und „Der Fall des Hauses Usher“. Die zweite Kategorie bilden die Geschichten, in denen die Protagonisten physisch und psychisch in eine oft ausweglose tödliche Bedrohung geraten, wie „Das verräterische Herz“, „Grube und Pendel/Die Foltern“ oder „Das Fass Amontillado“. Das aus Gedichten wie „Der Rabe“ (1845) bekannte Motiv der verlorenen Geliebten wiederum kehrt in makabrer Form in „Ligeia“ (1838) und „Berenice“, einer Vampirgeschichte, wieder.

Mit „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, „Das Geheimnis von Marie Rogêts Tod“ und „Der entwendete Brief“ wurde Poe zum Stammvater der modernen Kriminal- und Detektivgeschichte, in der die allmähliche Aufklärung eines Verbrechens im Vordergrund steht. Dabei verband Poe auf einzigartige Weise seinen eigenen Mystizismus mit der strengen abstrakten Mathematik, die für die Anwendung der deduktiven Logik notwendig ist. Diese Deduktion finden wir dann wieder bei Sherlock Holmes und seinen diversen Nachfolgern wie etwa Hercule Poirot wieder.

Die Übersetzung

Was als Erstes an dieser Ausgabe auffällt, ist die Übersetzung. Sie ist keineswegs modern zu nennen, sondern so altertümlich, dass ich sie auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datiere, allenfalls noch auf die Poe-Ausgabe von 1922, wohl kaum aber auf die Nachkriegszeit um 1950. Das krasseste Beispiel für die Antiquiertheit liefert die Übersetzung des bekannten Begriffs „Indian Summer“ für ein bestimmtes jahreszeitliches Phänomen in den Ostküstenstaaten, namentlich Neuengland. Statt den Begriff stehen zu lassen, macht der ungenannte Übersetzer daraus einen „indischen Sommer“ (S. 405ff). Da die USA von Indien noch nicht eingemeindet wurden, ergibt dies keinerlei Sinn. Offenbar wusste der Schreiber nicht, was er da tat.

Auch stilistische Unterschiede lassen sich feststellen, so dass der Eindruck einer zeitlichen Uneinheitlichkeit geweckt wird. Möglicherweise handelt es sich um eine Ansammlung verschiedener Ausgaben, die einfach eingescannt wurden, weil die Frist für die Lizenzgebühr abgelaufen war. Von der Berücksichtigung der Regeln der Neuen Rechtschreibung kann ebenfalls keine Rede sein. Nichtsdestotrotz lassen sich die Texte in ihren gediegenen Formulierungen flüssig lesen. Und auch die Gedichte (in „Usher“ und „Ligeia“) wurden von jemandem mit gutem Sprachgefühl übersetzt. Die Ausgabe kann man daher nicht rundweg ablehnen, selbst wenn einige gute Erzählungen fehlen.

Gebundene Ausgabe: 800 Seiten
Area-Verlag